Tag 767: Tiefpunkt – Teil 4

von Heiko Gärtner
05.02.2016 18:00 Uhr

Fortsetzung von Tag 766:

Elise hatte uns empfohlen, einen anderen Weg nach Messina zu nehmen, als den, auf dem wir die Stadt verlassen hatten. Er war direkter, kürzer und führte unter den Autobahnen hindurch, was auf jeden Fall ein sehenswertes Spektakel war. Damit hatte sie nicht übertrieben. Bei unserem ersten Besuch in der ungemütlichen Hafenstadt war uns nicht aufgefallen, wie verrückt die Menschen hier waren. Die Stadt war ein reines Irrenhaus in dem es keine Regeln zu geben schien. Kinder warfen achtlos mit Silvesterböllern umher und die Autos fuhren alle, als wären sie alleine in der Stadt. Vor einem Haus befand sich eine kleine, blächernde Hundehütte auf der Straße, in der ein armseliges Hündchen angekettet auf dem Asphalt lag. Mitten zwischen den vorbeifahrenden Autos, die den Staub von den Straßen aufwirbelten stand ein Mann und lackierte eine Stoßstange. Er war kein Hobbietüftler, der an seiner eigenen Karre herumschraubte, sondern ein professioneller Mechaniker. Hinter ihm am Haus klebte das Werbeschild für seine Werkstatt und das Auto, zu dem die Stoßstange gehörte, stand in der Parklücke daneben. Doch all dies war nichts im Vergleich zu dem, was sich am Himmel abspielte. Über dem kompletten Stadtviertel hatte man nicht nur eine Autobahn, sondern ein ganzes Autobahnnetz gebaut. Von hier unten sah es aus, als wäre man auf einem Vergnügungspark direkt unter einer Achterbahn. Nur dass diese Achterbahn hier aus Beton bestand, mehrspurig war und dass statt kleinen Wagen Autos und LKWs auf ihr entlang fuhren. Mehr als acht verschiedene Fahrbahnbrücken waren auf hohen Stelzen in den Himmel gebaut worden und darunter befand sich die Stadt. Es war ein Wahnsinn, der kaum noch in Worte zu fassen ist.

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Bis wir den Hafen erreichten versuchten wir noch einmal an jeder Kirche um einen Schlafplatz zu bitten, doch es war hoffnungslos. So kehrten wir auf dem gleichen Schleichweg, auf dem wir nur eineinhalb Tage zuvor den Hafen verlassen hatten wieder in den Hafen zurück und nahmen die nächste Fähre zum Festland. Unser Sizilienaufenthalt war damit kürzer gewesen als der in San Marino. Nur waren wir damals nicht so froh gewesen, die Sache hinter uns gebracht zu haben. Auch nach Verlassen der Fähre brauchten wir wieder Ewig, bis wir einen Ausgang aus dem Hafen gefunden hatten. Es war nun bereits wieder Dunkel doch dieses Mal hatten wir mehr Erfolg bei den Kirchen. der Pfarrer hielt gerade die Messe ab und wir mussten nur einige Minuten warten, bis wir ihn abfangen konnten. Sein erster Ipuls war es, uns an eine Obdachlosenunterkunft abzuschieden, doch mit ein bisschen Überredung überließ er uns dann einen kleinen Raum im Gemeindehaus. Hier begann ich mit den ersten Zeilen dieses Artikels. Seit dem sind nun schon wieder einige Tage vergangen und zum Glück kann ich sagen, dass meine ursprüngliche Vermutung richtig war. Der Höhepunkt der Krise war der Nachmittag an der Nordküste Siziliens. Der Abend, an dem ich diesen Bericht begann, war zwar noch nicht das Ende, aber es ging zumindest langsam wieder bergauf. Den folgenden Tag wanderten wir an der Küste entlang zurück nach Norden. Zumindest der erste Teil des Weges war dabei bedeutend weniger gräßlich, als wir es erwartet hatten. Sobald die Stadt hinter uns lag, nahm der Verkehr deutlich ab und es wurde sogar beinahe ruhig. Die erste Ortschaft, die wir erreichten hieß Scilla. Sie war keine Gewinnerin eines Schönheitspreises, doch für die Städte in dieser Region war sie ungewöhnlich hübsch. Auf einem Felsen direkt über dem Meer thronte eine alte Rutterburg und in ihrem Schatten drückte sich die Kleinstadt in die Berghänge. Wir machten eine kleine Pause am Strand und ließen unsere Beine von der Böschung baumeln. Neben uns hockte ein Mann, der seine Fahrradkette mit neuem Schmierfett einstrich. Langsam regten wir uns über derlei Dinge schon gar nicht mehr auf. Aber unerwähnt lassen kann ich es trotzdem nicht. Ich meine, wie kommt man auf die Idee, für das Ölen einer Fahrradkette extra an den Strand zu fahren? Zum einen lässt es sich nicht vermeiden, dass man sich hier automatisch gleich wieder Sand in die Kette streicht und zum anderen lässt man das herabtropfende Öl direkt ins Meer fließen. Wie herzlos kann man der Natur und seinem Fahrrad gegenüber sein?

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Damit der Strand nicht zu schön ist, denn das würde dann einfach nicht zum Stil passen, hatte man ein ausgelutschtes Plastikschild an einen rostigen Pflock gehängt, das die Besucher zur Mülltrennung aufforderte. Die Idee war ja vielleicht nicht schlecht, nur gab es hier überhaupt keine Mülltonnen. Der gesammte Müll verteilte sich über den Strand, die Promenade und die dahinterliegende Straße. Wollte einen das schild also darauf hinweisen, dass man den Müll am Boden trennen sollte? "Bitte werfen Sie ihren Papiermüll direkt ins Meer, die Plastikabfälle auf den Strand, die Gläser auf der Promenade und den Restmüll auf der Straße! Danke für Ihren Beitrag zur Umweltverschmutzung!"

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Müll! Auch der Müll war eine Sache, die uns in den letzten Tagen immer mehr zu schaffen gemacht hatte. Wohin man auch sah und wie schön eine Aussicht auch sein mochte, überall lag der Müll herum. Am heftigstens war es wohl oben in einem der kleinen Bergdörfer gewesen. Hier gab es einen Friedhof, der gegenüber von einem Mülltonnenplatz lag. Keine Müllhalde, sondern nur ein kleiner Platz, auf dem drei Mülltonnen standen. Die Tonnen selbst waren leer, doch man hatte sich alle Mühe gegeben, den Müll gleichmäßig um sie herum zu verteilen. Von hier aus breitete er sich über die ganze Straße aus, bis hinein in den Friedhof. Das Eingangsportal, die Parkanlage, die Wege, ja sogar die Gräber selbst waren unter unzähligen Plastiktüten, Jogurtbächern, Babywindeln, Essensresten, Eierschalen, Zeitungen und gebrauchten Condomen begraben. Nur noch einmal zur Erinnerung, wir befinden uns noch immer in Italien, dem wahrscheinlich katholischsten Land der Welt und die Ruhe der Toten sollte hier eigentlich eine unantastbare Sache sein. Bei uns hätte es nur so vor Skandalberichten gehagelt, wenn auch nur ein 10tel des Mülles auf einen Friedhof geraten wäre. Doch hier störte es niemanden. Die Menschen, die den Müll auf dem Friedhof verteilt hatten, waren die gleichen, die auch hier im Ort wohnten und die hier ihre Angehörigen besuchten.

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Doch Situationen wie diese waren leider keine Ausnahme. In diesem Jahr hatten wir wohl mit Italien, dem Kosovo, Bosnien, Kroatien, Mazedonien und Albanien einige der vermülltesten Länder Europas bereist. Am Anfang waren wir schockiert gewesen, dann hatten wir versucht, darüber hinweg zu sehen und nun machte uns der Anglick nur noch traurig und fassungslos. Die Erde war so ein schöner Ort und es war schlimm genug, wie viel wir allein durch unsere Häuser und Straßen zerstört hatten. Mussten wir es da wirklich auch noch mit Gewalt so viel schlimmer machen, in dem wir ganz bewusst alles mit unserem ekelhaften Müll besudeln?

Von Scilla aus folgten wir der Küstenstraße weiter um die nächsten Buchten herum. Je weiter wir nun nach Norden kamen, desto mehr nahm der Verkehr wieder zu. Schließlich ereichten wir eine größere Ortschaft mit dem Namen Baniana Calabria, in der wir unsere Tagesetappe gerne beendet hätten. Doch auch hier waren die Pfarrer noch immer genauso ablehnend wie zuvor. Doch nicht nur die Pfarrer, auch die Privatleute waren das Problem. Früher hatte es stets gereicht einen Menschen zu finden, der die Nummer des Pfarers hatte und schon nahm alles seinen Lauf. Doch hier war niemand mehr bereit, den Pfarrer anzurufen oder uns seine Nummer zu geben. Allein eine halbwegs vernünftige Information zu bekommen war schon zu viel verlangt. Jeder erzählte einem das, was ihm gerade einfiel, ohne darauf zu achten, ob die Information stimmen konnte oder nicht und ohne zu überlegen, ob es vielleicht Schwierigkeiten verursachen könnte, wenn die Information falsch war. Am Ende mussten wir die Stadt wieder verlassen und noch einmal 500 Meter nach oben auf die Klippen steigen. Dort wurde ich ein weiteres Mal für über eine halbe Stunde hin und hergeschickt, bis ich eine Nonne traf, die mich mit dem Pfarer telefonieren ließ. Er reagierte sehr freundlich und versicherte mir, dass er einen Platz für uns finden würde. Er brauche nur etwa zehn Minuten, um einen geeigneten Raum zu organisieren. Wieder verstrichen wertvolle Sonnenminuten und am Ende ließ er mir durch die Nonne mitteilen, dass wir lieber einen anderen Pfarrer im Nachbarort fragen sollen, denn der habe einen besseren Platz.

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Die Sonne war bereits wieder am Untergehen und es wurde bitterlich kalt. Heiko war vom Warten bereits ganz blau gefrohren und brauchte erst einmal wieder ein paar Meter, bis er einigermaßen Bewegungsfähig wurde. Eine Bäckerin, versorgte uns mit einer großen Tüte Brot für den Abend, hatte aber keine guten Nachrichten, was die Aussicht auf einen Schlafplatz anbelangte. Wo immer der Kollege des letzten Pfarers auch wohnen mochte, im Umkreis von einigen Kilometern war es nicht.

Das was uns an diesem Tag wohl am Meisten betrübte, war die Tatsache, dass wir den 23. Dezember hatten. Morgen war also Weihnachten und jeder dieser Pfarrer würde in der Messe predigen, wie hart und grausam die Menschen vor zweitausend Jahren zu Maria und Josef waren, als sie dem weitgereisten Mann und der schwangeren Frau eine Herberge verweigerten. Natürlich waren Heiko und ich nicht schwanger, aber das änderte nichts an dem Umstand, dass wir in einer kalten Nacht einen Schlafplatz brauchten. Was es nicht blanke Heuchelei, die Weihnachtsgeschichte zu predigen, wenn man kurz zuvor selbst zwei Wanderer mit einer hahnebüchenden Geschichte abgewiesen hatte?

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Wie durch eine Art göttliche Ironie war es am Ende dann tatsächlich ein Gastwirt, der uns bei sich aufnahm. Kurz hinter der Autobahn kamen wir an ein Landhotel und hier durften wir die letzte Nacht vor Weihnachten verbringen.

Spruch des Tages: Das war jetzt nicht gerade die besinnlichste Adventszeit, die wir je hatten.

Höhenmeter: 320 m

Tagesetappe: 16 km

Gesamtstrecke: 13.647,27 km

Wetter: sonnig und frühlingshaft

Etappenziel: Gemeindehaus der Kirche, 83016 Roccabascerana, Italien

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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