Tag 782: Zeltnacht bei Eiseskälte

von Heiko Gärtner
20.02.2016 22:30 Uhr

25.01.2016

In der Nacht kühlte die Temperatur auf rund -7°C ab. Noch kälter hätte es nicht werden dürfen, denn mit all unserer Kleidung am Körper, den Inlays und den Schlafsäcken war es gerade so erträglich, dass wir schlafen konnten. In der Früh war unser Zelt von außen tiefgefroren. Es dauerte nicht lange und unseren Händen ging es ähnlich. Erst als wir wieder auf der Piste waren und uns die Sonne in den Rücken schien, hörten sie langsam zu schmerzen auf. Es wurde ein herrlicher Tag mit strahlendem Sonnenschein, an dem wir auf kleinen Straßen leicht oberhalb des Tals für uns alleine in Ruhe wandern konnten. In der nächsten Stadt trafen wir auf zwei Nonnen, die uns auf einen heißen Tee einluden und nebenbei einen Schlafplatz organisierten. So komplex es gestern war, so spielend lief es heute. Eine halbe Stunde später holte uns der Pfarrer ab, brachte uns in eine Pension und ließ uns zunächst eine Stunde alleine. Dann holte er uns wieder ab und nahm uns mit zu seinen Eltern zum Mittagessen. Krurioser Weise wohnten die Eltern ganz in der Nähe von unserem Zeltplatz. Auf dem Weg besichtigten wir noch gemeinsam eine alte Heiligenstätte. Früher hatte hier eine Kirche gestanden, in deren Mitte es eine Quelle gab. Aus dieser strömte das Wasser für die Taufen direkt aus dem Boden. Heute war das ganze Kirchenschiff überflutet und man konnte auf kleinen Stegen über das Wasser hinweg gehen. Es war ein ganz besonderer Platz, der auf jeden Fall einen Besuch wert ist.

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Dann kamen wir zur Pfarrersfamilie. Der Pfarrer selbst bat uns vor dem Essen darum, ein kleines Interview mit uns aufnehmen zu dürfen. In Italien war gerade das Jahr der "Nächstenliebe" angebrochen und alle Kirchen leisteten dazu einen Beitrag. Er wollte für eine Präsentation ein Gespräch mit zwei echten Pilgern haben, die aufgebrochen waren um die Brüderlichkeit der Menschen direkt am eigenen Leib zu erfahren. Irgendwie paradox, dass das gerade heute passierte. Beim Essen erzählten wir von unseren Erfahrungen am gestrigen Tag. Die Eltern wie auch die Großmutter waren entsetzt darüber, was uns hier wiederfahren war. Doch obwohl ihre Bestürzung über ihre Nachbarn groß war, spürte man auch, dass sie sich darin wiederfanden. Heute waren wir die Gäste ihres Sohnes oder Enkels und damit gehörten wir zur Familie. Es war selbstverständlich, dass sie es uns so angenehm wie möglich machten und sie bedauerten sehr, dass uns eine solche Gastfreundschaft am Vortag verwehrt geblieben war. Doch wenn sie wirklich ehrlich zu sich selbst waren, dann mussten sie gestehen, dass sie am Vorabend nicht anders reagiert hätten, wenn wir ohne den Segen des Pfarrers einfach vor ihrer Tür gestanden hätten. Sie schämten sich dafür, doch auch sie trugen die gleiche Angst in sich, wie ihre Nachbarn. Um sie auszugleichen, überschütteten sie uns heute mit Güte und Gaben. Als wir gingen konnten wir die Säcke voll Obst, Wurst und Käse kaum mitschleifen. Es kam eben immer darauf an, ob man innerhalb oder außerhalb des Kreises war.

Am Abend gerieten wir dann gleich noch in einen zweiten Kreis. Wieder kam der Pfarrer vorbei und holte uns ab, um zu einer Familie zum Essen zu fahren Diesmal war es nicht seine eigene, sondern irgendeine andere im Ort. Die Frau hatte Geburtstag und feierte aus irgendeinem Grund nicht mit ihren Freunden, sondern nur mit ihrer engen Familie und den beiden Pfarrern des Ortes. So richtig verstanden wir diese Konstellation nicht aber anscheinend war das in Italien nicht unüblich. Der zweite Pfarrer war anders als unser Gastgeber ein Perfektionist und als er erfuhr, dass sein Kollege ein Interview mit uns durchgeführt hatte, das mit einer Handykamera gefilmt wurde, fiel er aus allen Wolken. Sofort organisierte er eine Kameraausrüstung und wir mussten das Interview noch einmal abhalten. Erst dann wurde das Essen serviert. Alles in allem dauerte gute drei Stunden. Trotz der frühen Ankunft hatten wir heute also wieder genauso wenig freie Zeit für uns, wie am Vortag mit all den Pannen. Was an dem einen Tag zu wenig war, war an dem anderen zuviel. Der Abend hatte durchaus einige lustige Passagen, vor allem als wir das Thema Zuckersucht auf den Tisch brachten und anfingen, anhand der Gesichter kleine Gesundheitsdiagnosen zu erstellen. Daraus entwickelte sich ein regelrechter Wettstreit darüber, wer süchtiger war und wer trotz all der ungesunden Ernährung noch am fittesten bleiben konnte. Denn es war jedem durchaus bewusst, dass es seinem Körper nicht unbedingt gut tat, wenn man sich nur von Nudeln und Zucker ernährte. Auch in dieser Runde gab es fast keinen, der keine Magenprobleme und kein Sodbrennen hatte. Sogar die kleine Tochter hatte schon Probleme mit Sauerstoffmangel im Blut.

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26.01.2016

Wieder wurde es ein herrlicher Tag mit strahlendem Sonnenschein und an einem windstillen Platz konnten wir sogar seit langem mal wieder eine Pause machen, uns in eine Wiese legen und einfach nur dösen und entspannen. Don Lauricio hatte bereits am Vortag mit dem Pfarrer unseres Zielortes telefoniert und so wussten wir, dass wir ohnehin erst ab 15:30Uhr einen Platz bekommen würden. Bis dahin konnten wir es also ganz entspannt angehen und das tat wirklich gut. Obwohl das Tal selbst wegen der Industrie und der Autobahn, die man hier erichtet hatte, nicht zu den schönsten gehörte, die wir je durchwandert haben, war es uns gelungen einen schönen, ruhigen und ebenen Weg zu finden, auf dem man richtig gut wandern konnte. So viel Spaß hatte es schon lange nicht mehr gemacht.

27.01.2016

Die Nacht war sogar fast noch kälter als unsere Nacht im Zelt. Wir hatten dieses Mal zwar einen Raum, aber es gab keine Heizung und er war seit ewigen Zeiten nicht genutzt worden. Unter uns befand sich die örtliche Tanzschule, in der gerade ein Kurs abgehalten wurde. Wie es die Teilnehmer zustande brachten, bei diesen Temperaturen zu tanzen war uns unbegreiflich. Ohnehin war es spannend, das man hier einen Raum mit einem kleinen Kassettenrekorder und einem Heizpilz in der Mitte offiziell als Tanzschule bezeichnen konnte. Bei unserer Ankunft gelang es uns, einen kurzen Blick in den Saal zu werfen. Alle Paare trugen dicke Winterjacken und sicher auch lange Unterhosen. Sie tanzten fest umschlungen und es wirkte nicht, als gehörte dies zum Tanzstil, sondern eher zu ihrer Strategie um nicht vollkommen auszukühlen.

So sonnig wie es am Vortag war, so kalt und nebelig wurde es heute. Wir hatten fest daran geglaubt, den Winter nun überstanden zu haben, aber das war wohl ein Irrtum. Der Pfarrer holte uns um 9:30 Uhr ab um noch einen Kaffee mit uns zu trinken. Bis dahin mussten wir in der Kälte auf ihn warten. Spannend war, dass es in der Bar, in die er uns führte, kein einziges Lebensmittel gab, das nicht ungesund war. Wir hatten uns nun wieder endgültig gegen Zuckerkonsum entschieden und da wir auch keinen Kaffee und keinen Schwarztee wolten blieb uns nur heiße Milch oder Wasser zur Auswahl. Feste Nahrung ohne Zucker gab es gar keine.

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Der Pfarrer hatte bereits zuvor mit dem Superior des Franziskanerklosters in unserer Zielstadt gesprochen. Dabei stellte sich heraus, dass wir ihn bereits kannten. Er war der Mann, mit dem die Nonne aus Padula gesprochen hatte, um uns den Schlüssel für das leerstehende Kloster zu organisieren. Wir hatten die Sache also etwas missverstanden. Es ging nicht darum, dass der Schlüsselkeeper uns nicht aufschließen wollte, sondern dass sein Vorgesetzter ihm die Erlaubnis nicht hatte geben wollen. Auch jetzt war er noch immer skeptisch und der Pfarrer musste sein Wort dafür geben, dass wir keine Kriminellen waren. "Macht bloss keinen Ärger, Jungs!" meinte er zum Abschied, "ich habe mich für euch verbürgt!"

Als wir das Kloster erreichten trafen wir aber zunächst auf die Köchin, eine muntere, ältere Dame, die uns sofort im Kloster herumführte, uns unsere Zimmer zeigte und erklärte, wann es wo etwas zum Essen gab. Die Mönche waren hier nur noch zu dritt und alle drei waren bereits sehr in die Jahre gekommen. Wir lernten zunächst nur den Superior kennen und verstanden sofort, warum ihm die Einladung so schwer gefallen war. Er war ein Brummbär im Namen des Herren und Menschen an sich waren ihm suspekt. Mehr als sein eigener Name, wollte ihm einfach nicht über die Lippen kommen. Auch beim Essen wurde er nicht viel lockerer. Kurioser Weise erzählte er während des ganzen Mittagessens nur von seinem Orden und von verschiedenen Klöstern in der Region. Wir verstanden so gut wie überhaupt nichts und beschränkten uns daher auf strategisch sinnvoll eingesetztes Nicken und auf gelegentliche "Aha!", "Ok!" und "Mhhh! Claro!" Ausrufe, um ihm das Gefühl eines Dialoges zu vermitteln. Nach seiner großen Skepsis uns gegenüber und der Aussage, dass er niemanden aufnehmen könne, den er nicht kenne, waren wir jedoch überrascht, dass er nichts über uns wissen wollte, wo er nun doch die Gelegenheit dazu hatte.

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Am Nachmittag nutzten wir die Tatsache, dass wir einen einigermaßen warmen Raum und eine Badewanne hatten, um mal wieder unsere Haare zu schneiden. Einen Besen gab es leider nicht, deswegen setzten wir uns zum Schneiden in die Wanne. Es war die wohl seltsamste Firseurposition, die wir je hatten, aber es hat funktioniert. Als ich in Unterhose in der Wanne saß musste ich allerdings feststellen, das wir die Wärme in diesen Räumen doch etwas überschätzt hatten.

Spruch des Tages: Da frieren einem ja die Finger an der Tastatur fest.

Höhenmeter: 530 m

Tagesetappe: 28 km

Gesamtstrecke: 13.915,27 km

Wetter: sonnig und sommerlich

Etappenziel: Kloster “Abbazia di Santa Maria di Pulsano”, bei 71040 Tomaiolo, Italien

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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