Tag 784: Zum Wandern nicht geeignet – Teil 1

von Heiko Gärtner
23.02.2016 18:05 Uhr

31.01.2016

Unser altes Handy konnte sich wieder soweit motivieren, dass wir damit unsere Karten anzeigen konnten. Wenn alles gut geht, kommen wir damit also vielleicht doch noch bis zu dem Treffpunkt, an dem wir unser neues Handy erhalten! Danke an dieser Stelle schon einmal an Shawn Medley für das neue Smartphone, das du uns geschenkt hast.

Ansonsten war die Wanderung heute relativ gemischt. Es gab einige schöne und einige weniger schöne Phasen, einige laute und einige noch lautere Ecken, eingie trockene und einige verregnete Zeiten. Am Ende erreichten wir ein Dorf namens Filleta. Unser letzer Gastgeber hatte uns in der Früh noch empfohlen, hier her zu wandern, da er hier den Pfarrer kannte und mochte. Der Tipp war nicht schlecht. Don Luigi gab uns einen Saal im Oratorio, in dem heute glücklicherweise keine Aktivitäten mehr stattfanden und lud uns dann noch zum Essen bei einer befreundeten Familie ein. Hier bekamen wir gleich eine ganze Tüte mit neuen Kleidern geschenkt, in der wir immerhin ein brauchbares T-Shirt fanden, das meinen alten, giftgrünen Löcher-Fetzen ersetzen wird. Außerdem bekamen wir zwei neue Mützen, die so riesig sind, das wir damit aussehen wie zwei der sieben Zwerge. Wir werden sie wohl nicht behalten, aber an diesem Nachmittag sorgten sie für eine Menge Spaß. Vor allem als Heiko die Mütze zu einer Art Iro formte und begann, wie ein Hahn im Saal herumzulaufen, während er immer wieder "Ich bin das verrückte Huhn" rief.

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01.02.2016

Heute war wieder einmal einer dieser Höllentage. Ich hätte es eigentlich vorraussehen müssen, doch ich war so darauf fixiert, eine Strecke nach Pompei rauszusuchen, dass ich die Anzeichen ignoriert habe. Das ganze Gebiet um den Vesuv herum und bereits rund 50km zuvor ist eine einzige Hölle aus Städten, Straßen und wütenden Hunden. Es ist, als seien die Menschen hier einfach durchgedreht und hätten mit vollem Bewusstsein alles auf einen Haufen gekarrt, das einem das Leben unerträglich macht. Die Satellitenbilder von Goolge hatten dies eigentlich schon erkennen lassen, doch wie gesagt, ich wollte es nicht sehen. Oder besser: Ich hatte es gesehen, hatte sofort ein schlechtes Gefühl dabei und habe dieses Gefühl dann einfach heruntergeschluckt. Meine Idee war es gewesen, den besten, schönsten und ruhigsten Weg durch dieses Terrorgebiet zu finden und dabei hatte ich auch wirklich alle Register gezogen. Doch es war mir nicht in den Sinn gekommen, dass wir die Hölle auch komplett aussparen und uns stattdessen eine schönere Region suchen könnten. Ich hatte mich an den Computer gesetzt und mit meiner Arbeit begonnen, ohne mir dabei die Frage zu stellen, ob diese Arbeit überhaupt einen Sinn machte. Und genau dieses Problem begleitete mich schon lange und führte immer wieder zu den gleichen Problemen. Erst vor ein paar Tagen hatten wir herausgefunden, dass ich alle bisherigen Tagesberichte ohne Suchworte eingestellt hatte. Für jeden, der uns nicht bereits kannte war es also fast unmöglich, unsere Weltreise-Seite überhaupt zu finden. Und das obwohl ich bereits mehr als 700 Tagesberichte verfasst und eingestellt habe. Doch auch hier bin ich immer nach dem gleichen System vorgegangen. Fleißig wie eine Biene und routiniert wie ein Computer, aber ohne einen Funken der Überlegung. Heiko hatte mir dazu einmal eine Geschichte von einem Bekannten erzählt, der ununterbrochen ackerte wie ein Gaul, aber trotzdem kaum genug Geld zum Leben hatte. "Wie ist das möglich?" hatte Heiko ihn damals gefragt. Nach einer kurzen Bedenkzeit hatte der Mann gemerkt, dass er schon seit Monaten keine Zeit mehr gefunden hatte, um Rechnungen zu schreiben. Er war so damit beschäftigt gewesen, seine Aufträge zu erfüllen, dass er seinen Kunden nicht einmal die Chance gab, ihn für seine Arbeit zu bezahlen. Damals hatte mich diese Geschichte amüsiert, doch nun merkte ich, dass ich sehr ähnlich vorging. Ich hatte so sehr das Gefühl, niemals genug Zeit zu haben, dass ich nur noch versuchte, Dinge abzureißen ohne mich zurückzulehnen und zu Fragen, warum ich es überhaupt machte und ob es auf diese Weise einen Sinn hatte.

Im Falle der sturen Streckenführung nach Pompei war heute nun der vierte Tag, an dem wir durch eine Lautstärkenhölle schritten, die sogar noch härter war als damals in Genova. Heute dann gab es den Höhepunkt des Wahnsinns, als wir nach einer langen Wanderung durch mehrere Städte eine unerträgliche Hauptstraße erreichten, die wir nicht mehr verlassen konnten. Doch das Hauptproblem bestand darin, dass diese Hölle kein Ende nehmen wollten. Unsere Zielstadt war so grausam, dass wir nicht einmal nach einem Schlafplatz fragen wollten. Wir wollten nur noch raus. Und vor uns wartete nichts als noch mehr Lärm.

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Das ganze wurde so verrückt, dass man es kaum noch richtig beschreiben kann. Die Menschen hier sind vollkommen abgestumpft und scheinen das Chaos in dem sie Leben überhaupt nicht mehr wahrzunehmen. Wobei man es wohl auch kaum noch als Leben bezeichnen kann. Eine Nebenstraße war so eng, dass die Autos jedes Mal hupen mussten, wenn sie an einer Hausecke vorbeifuhren, um eventuellem Gegenverkehr zu zeigen, dass hier jemand war. Das Haus war bewohnt und die Straße war schwer befahren. Allein in der einen Minute, die wir brauchten um das Haus zu passieren wurde sechs Mal gehupt. Wie will jemand in einem Haus leben, in dem es alle zehn Sekunden hupt? Noch dazu mit dünnen, scheppernden Einglasfenstern. Pro Tag macht das 7920 Tüüüüüt-Geräusche. Wie kann ein Mensch hier leben, ohne wahnsinnig zu werden?

Einige Kilometer weiter stand dann ein komplett ausgebrannter Kleinwagen mitten auf der Straße. Dies war nicht die Bronx und auch nicht das Bandenviertel von Mexico-City, sondern ein kleiner Bergvorort von Salerno mitten in Europa. Direkt neben dem verbrannten Autowrack befand sich ein großes Anwesen, das komplett Kameraüberwacht war. Man musste den Tathergang von dort aus also wie auf einer Kinoleinwand mitverfolgen können. Einen schlechteren Ort für eine Brandstiftung konnte man sich also kaum vorstellen und trotzdem war es geschehen und niemanden kümmerte es. Die Anwohner fuhren einfach daran vorbei, ohne es auch nur eines Blickes zu würdigen. Nicht anders, als handelte es sich um eine Kleinbaustelle. Richtig schockiert waren wir jedoch erst, als wir einen Blick in das Wrack warfen. Im Kofferraum des Wagens lagen zwei verkohlte Hundeleichen. Man hatte den Wagen also mitsamt der Hunde im Kofferraum verbrennen lassen. Viel mehr als schwarze Knochen und einige verkohlte Fellreste war nicht mehr übrig doch man konnte noch immer die Zähne und die Krallen erkennen. Die Kofferraumklappe war von innen an mehreren Stellen verkratzt. Die Hunde hatten also gekämpft und gescharrt, in der Hoffnung, sich doch noch irgendwie aus ihrem glühenden Grab befreien zu können. Doch es war vergeblich. Und da sage noch einer, wir seien herzlos weil wir ein Hundebaby, das uns in den Wahnsinn treiben wollte, in der nähe eines Hauses ausgesetzt haben, anstatt es weiter mitzunehmen.

Richtig übel wurde es aber erst danach. Denn nun führte die Nebenstraße auf eine Hauptverkehrsader, die von einer Großbaustelle und einem Industriegebiet eingefasst wurde. Alle drei für sich waren schon unerträglich, doch gemeinsam erschufen sie eine Atmosphäre, die so nervenaufreibend war, dass man ihr einfach nur noch entfliehen wollte. Doch das konnten wir nicht. Es gab kein Entkommen. Und mitten in dieser Hölle eröffnete ein Mann seine Dönerbude und stellte einige Imbisstische vor die Tür. Seit Wochen hatten wir keinen solchen Imbissstand mehr gesehen und der einzige, der existierte, existierte ausgerechnet hier?

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Auch als wir es schließlich schafften, wieder auf einen Seitenarm auszuweichen wurde es nicht besser. Der Verkehr wurde etwas geringer, blieb aber auch weiterhin enorm. Dafür wurde der Asphalt hier so schlecht, dass man jedes Auto doppelt so laut hörte. In Portugal hatten wir uns immer über das Kopfsteinpflaster beschwert, weil dadurch der Rollwiderstand für die Reifen und mit ihnen auch die Gesamtlautstärke des Verkehrs ins Unendliche anstieg. Hier schafften sie den gleichen Effekt auch ohne Kopfsteinpflaster, einfach nur durch kaputte Straßen.

Die Baustelle wurde durch wütende Hunde ersetzt, die unaufhörlich kläfften und die ihre geballte Aggression jedem entgegen schleuderten, der ihr Wahrnehmungsfeld betrat. Man konnte sie ja sogar verstehen, dass sie durchdrehten, wenn sie hier leben mussten. Gleichzeitig verstand man nun aber auch den Brandstifter, der wahrscheinlich irgendwann einfach durchgedreht war und das Auto mit den Kläffern angezündet hatte, nur um endlich in Ruhe schlafen zu können. Vielleicht war es ja sogar sein eigenes. Das einzige, was wir nicht verstehen konnten war, wie hier überhaupt jemand leben konnte. Rein theoretisch haben wir als Menschen doch einen freien Willen und können uns daher aussuchen wo und wie wir leben wollen. Jeder einzelne Mensch, der diese Hölle hier erschuf um dann in ihr zu leben, hatte sich also selbst dafür entschieden. Aber warum? Es gab so viele schöne Orte auf der Welt, warum ballen wir uns also immer an den grässlichen. Oder besser gefragt, warum ballen wir uns immer so sehr, dass die schönen Orte zu grässlichen werden?

Fortsetzung folgt...

Spruch des Tages: Wird es je wieder eine ruhige, angenehme Gegend zum Wandern geben?

Höhenmeter: 30 m rauf, 900 m runter

Tagesetappe: 19 km

Gesamtstrecke: 13.945,27 km

Wetter: sonnig, warm und frühlingshaft

Etappenziel: Gruppenraum der Pfadfinder, 71037 Manfredonia, Italien

Hier könnt ihr uns und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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