Tag 787: Besuch aus der Heimat

von Heiko Gärtner
28.02.2016 22:25 Uhr

06.02.2016

Wir haben wieder einmal Besuch aus Deutschland bekommen. Gestern Abend um halb zehn, erreichte Heydi mit dem Zug einen Bahnhof, der sieben Kilometer von unserem Ort entfernt lag. Wir unternahmen einen kleinen Nachtspaziergang und holten sie ab. Auf dem hinweg erwischten wir dabei eine wirklich ekelhaft stark befahrene Hauptstraße, auf der die Autos in Hochgeschwindigkeit an uns vorbeirasten. In der Dunkelheit und ohne Straßenlaternen machte das kein wirklich gutes Gefühl. Auf dem Rückweg machten wir es dann besser und entdeckten eine gesperrte Schnellstraße, die in der Mitte wieder einmal vom Berg gefallen war, so dass man als Auto nicht mehr durchfahren konnte. Hier waren wir alleine unter dem sternenklaren Nachthimmel, hatten unsere Ruhe und konnten Heydi ganz gemütlich willkommenheißen.

Heute ging es dann zu dritt weiter. Es wäre eine wirklich schöne Strecke gewesen, wenn nicht irgendso ein Depp auf die gloreiche Idee gekommen wäre. Mitten in das idyllische Tal eine Rennstrecke für Hobby-Rennfahrer zu bauen. Im Umkreis von 50km gab es nun keinen Platz mehr, der nicht von lautem Motorenhäulen erfüllt wurde. Obwohl, das stimmt nicht ganz. Wenn die Häuser die Schallwellen abschirmten, dann gab es einige Punkte, an denen die kläffenden Hunde den Motorenlärm übertönten.

[AFG_gallery id='480']

Wenige Meter hinter der Rennbahn kamen wir an ein Migrantenheim in dessen Garten ein paar Marrokaner Fußball spielten. Sie sprachen noch schlechter Italienisch als ich und riefen daher nach dem Leiter des Heims. Während wir mit ihm sprachen nutzte einer der Jungs die Spielpause und pinkelte hinter ihm in ein Blumenbeet. Gut dass er zu beschäftigt war, mit uns zu sprechen, um sich umzudrehen.

Der Mann bedauerte, dass er uns nicht aufnehmen konnte, was wir in Anbetracht der zweifelhaften Lage seines Heims jedoch eher als Geschenk ansahen. Dafür empfahl er uns, in das Dorf ganz oben auf dem Berg zu wandern, denn dort gäbe es ein Haus, in dem gleich mehrere Pfarrer wohnten und uns sicher weiterhelfen konnten. Was er uns jedoch verschwieg war die Tatsache, dass es sich bei besagtem Haus um eine Irrenanstalt handelte. Die Pfarrer die dort lebten waren nicht die Leiter, sie gehörten zu den Insassen. Es waren Männer, die aus unterschiedlichsten Gründen ihren Verstand verloren hatten und darunter befanden sich eben auch drei oder vier Pfarrer. Es gelang mir zwar, einen von ihnen auf dem Gang zu erwischen und ich bin mir sicher, dass er uns in der Welt in der er lebte sicher auch gut aufgenommen hätte, doch leider war es für jeden außer ihm unmöglich, diese Welt zu betreten.

Wir mussten also weiter ziehen und unser Glück an einem anderen Ort versuchen. Das war vor allem deshalb etwas ärgerlich, weil der Aufstieg bis hier her zu den härtesten und steilsten überhaupt zählte, die wir auf unserer Reise erlebt hatten. Kurz: Heydi hatte also gleich schon einmal einen heftigen Wandertag zum einstieg. Für Heiko und mich war es zu diesem Zeitpunkt bereits grenzwertig. Heydi, die zwar durchaus trainiert war, sich an das Bergwandern jedoch erst noch gewöhnen musste, hatte ihr Tageslimit eigentlich bereits überschritten. Die letzten 6km bis in den nächsten Ort, zerrten an ihr wie hundert quengelige Kinder am Rockzipfel einer Kindergärtnerin. Als wir den Ort erreichten war gerade Messe. Wir setzten uns vor die Tür, verschnauften und warteten, bis der Pfarrer seine Zelebration beendet hatte. Wir hatten Glück! Er war weder geisteskrank noch kaltherzig und ließ uns in einer leerstehenden Wohnung oben im Pfarrhaus übernachten. Doch ganz so schnell ging es noch nicht. Denn der Pfarrer war nicht alleine. Er wurde umringt von fünf freundlichen, netten, aber auch unglaublich anstrengenden Damen, die alle ebenfalls helfen wollten. Da der Pfarrer für die Unterkunft sorgte, wollten sie sich um das Essen kümmern. Sie waren so begeistert von der Idee helfen zu können, dass sie sich förmlich überschlugen. Jede wollte die erste sein, die Nudeln kochte, Brot mitbrachte, uns mit Obst versorgte oder sonst noch etwas Gutes tat. Und genau das machte die Sache so komplex. Ich weiß, ich habe schon öfter mal über den Unterschied zwischen "Hilfsbereit sein" und "Hilfreich sein" geschrieben, aber an diesem Abend wurde es so deutlich, dass ich es hier noch einmal erwähnen will. Denn es ist ein Thema, in das man als Weltreisender, aber auch als sesshafter Mensch im Alltag immer wieder stolpert. Denn auf der einen Seite war es ja wahnsinnig lieb, dass sich die Frauen diese Gedanken machten. Sie wollten aus vollem Herzen etwas beitragen und dafür sind wir ihnen auch sehr dankbar. Gleichzeitig brachten sie uns aber auch in eine ungünstige Lage. Denn während sie in aller Seelenruhe darüber Diskutierten, wer nun welches Essen mitbrachte, standen wir in der Kälte vor oder in der Kirche, waren komplett durchgeschwitzt vom Aufstieg, wünschten uns nichts weiter als Ruhe und wurden immer weiter hingehalten. Die Frauen waren so sehr damit beschäftigt, uns helfen zu wollen, dass sie keine Sekunde an unsere Bedürfnisse dachten. Obwohl es ihr Wunsch war, hilfreich zu sein, war ihr tatsächliches Handeln also rein auf ihr eigenes Ich bezogen. "Ich will etwas beitragen! Wie es dem anderen damit geht, ist mir egal!" Das ist, auch wenn es hart klingt, die Idee hinter diesem Verhalten. Später wurde es dann sogar noch etwas deutlicher.

[AFG_gallery id='481']

Nachdem selbst der Pfarrer schon so genervt war, dass er sich aus dem Gespräch ausschloss und mir bedeutsame Blicke mit verdrehten Augen zuwarf, konnten sich die Frauen schließlich doch noch einigen. Gerade wollten wir uns schon auf den Weg machen, da warf eine der Damen die verhängnisvollen Worte "Pater, eine kurze Frage hätte ich noch!" in den Raum. Diese Worte wurden der Auslöser zu einer zweiten Gesprächsrunde, die genauso enthusiastisch geführt wurde, wie die erste. Nur ging es dieses Mal nicht um uns, sondern darum, wo man für die nächste Feierlichkeit welche Blumen hier in der Kirche aufstellen sollte. Wieder verdrehte der Pfarrer die Augen und wünschte sich, dass er einfach mit uns verschwinden konnte. Seine entnervten Augen sagten so etwas wie: "Kommt Leute! Scheiß auf die Kälte, wir gehen raus in den Wald und schlafen im Zelt. Vielleicht erfrieren wir dann, aber wir haben wenigstens unsere Ruhe!"

Schließlich erreichten wir unseren Raum dann doch noch. Für einen Moment kehrte Stille ein, aber dann klingelte es in einer Tour an der Tür, denn nun kamen nach einander alle Frauen zurück und brachten uns etwas zu essen. Wie gesagt, es mag undankbar klingen, wenn man sich darüber beschwert und das ist so nicht gemeint, aber es war einfach wahnsinnig anstrengend. In unserer Gesellschaft unterscheiden wir meist, ob es jemand gut oder böse mit uns meint, ob er helfen will oder uns im Regen stehen lässt. Doch die weitaus wichtigere Frage ist eigentlich, ob uns ein Mensch Kraft gibt, oder Kraft raubt. Menschen können unglaublich nette und freundliche Wesen sein und doch fühlt man sich in ihrer Gegenwart kraftlos und ausgelaugt, weil sie einem ununterbrochen Energie abzapfen. Andere sind vielleicht hart, grantig oder schrullig, geben einem jedoch Kraft und Energie oder lassen das eigene Energielevel zumindest dort wo es war.

[AFG_gallery id='482']

Vier der Frauen verschwanden sofort wieder, nachdem sie uns ihre Unterstützung gebracht und dafür unseren Dank erhalten hatten. Eine von ihnen war jedoch so sehr in ihrem Helfersyndrom verstrickt, dass sie nicht wieder gehen konnte. Sie hatte die Zutaten für ihr Nudelgericht roh mitgebracht und kochte in unserer kleinen Küche, damit sie in unserer Nähe sein konnte. Für Heydi war dies die erste Lehre, die sie an diesem Tag vom Leben erhalten hatte. Denn in ihren Augen schuldeten wir der Frau für ihre Hilfe nun etwas. Sie hatte sich so viel Mühe gemacht, war hier hergekommen, hatte ihren Küchenschrank geplündert und uns hier bekocht. Doch war dies wirklich wahr? Hatte sie für uns gekocht? Wenn man es genau betrachtete, dann stimmte das nur zum Teil. Wir hatten bereits in der Kirche erzählt, dass wir müde und kaputt waren und nur noch unsere Ruhe wollten. Alle anderen Frauen hatten darauf Rücksicht genommen. Ihr jedoch war es wichtiger gewesen, dass sie sich hilfreich fühlt, als dass sie wirklich hilfreich war. Sie hatte nicht überlegt, womit sie uns einen gefallen tun konnte, sie hatte sich überlegt, was ihr in unserer Situation gefallen würde. Sie selbst fühlte sich Einsam und spürte, dass sie kein echtes Ziel in ihrem Leben hatte. Daher war es für sie wichtig, einen Kontakt zu uns aufzubauen und das Gefühl zu haben, dass sie uns weiter half. Sie kochte also nicht in erster Linie für uns, sondern für sich selbst. Dass wir gemeinsam mit ihr und dem Pfarrer zu Abend aßen, war nicht ihr Angebot an uns, sondern bereits ein Geschenk für sie. Für uns waren es ein paar Nudeln, die ohne jede Frage in diesem Moment wirklich gut für unser Sättigungsgefühl waren. Für sie hingegen war es einer der außergewöhnlichsten und wichtigsten Abende in ihrem Leben.

[AFG_gallery id='483']

Doch genau darin bestand ihr Problem. Sie versuchte so sehr, allen anderen zu helfen, ohne dabei wirklich hilfreich zu sein, dass sie all ihre eigene Energie verschleuderte und ständig über ihr Kraftlevel hinausging. Wenn sie das überleben wollte, ohne in ein Bournout zu geraten, dann musste sie sich diese Energie von anderen Menschen wieder zurückstehlen. Normalerweise fällt uns das nicht auf, aber in unserer Gesellschaft sind die meisten zwischenmenschlichen Beziehungen so aufgebaut. Wir sind zu kleinen Vampiren, zu Energieräubern und Parasiten geworden, die sich ständig gegenseitig aussaugen. Wir leben ein bisschen so wie in diesen erlebnispädagogischen Abenteuerspielen, bei denen sich jeder ein Tuch hinten in die Hose steckt und dann versucht, allen anderen dieses Tuch zu klauen. Wann immer wir die Gelegenheit bekommen, saugen wir anderen Menschen die Energie aus und immer wenn wir nicht aufpassen, machen sie das gleiche mit uns. Unsere Frau nutzte dabei die Taktik eines hektischen, einnehmenden und zugleich mitleiderweckenden Wesens, das den Anschein erweckte, sich für andere Aufzuopfern und einem so das Gefühl einfläuchte, ihr ständig etwas Gutes tun zu müssen. Aus diesem Gefühl heraus bot Heydi ihr eine Fußreflexzonenmassage an. Später sollten wir auch noch das Glück haben, diese Massagetechnik von ihr lernen und auch an uns selbst erfahren zu dürfen. Es war eine wahre Leidenschaft von Heydi und sie war wirklich gut darin. Doch an diesem Abend spürte sie, dass etwas anders war. Aus irgendeinem Grund war sie danach vollkommen erschöpft und erledigt, was nach einer Therapie, die man mit vollem Herzen durchführt eigentlich nicht sein dürfte. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie so ein Energieraub funktionierte.

Spruch des Tages: Wieder ein paar Tage zu dritt

Höhenmeter: 40 m

Tagesetappe: 13 km

Gesamtstrecke: 14.024,27 km

Wetter: sonnig und warm

Etappenziel: Gemeindehaus der Kirche, 71047 Stornara , Italien

Hier könnt ihr uns und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

Schreibe einen Kommentar:

Speichere Namen, Email und Webseite im Browser fur zukunftige kommentare