Tag 800: Umwege erhöhen die Ortskenntnis

von Heiko Gärtner
30.03.2016 17:40 Uhr

19.02.2016 Nach dem ekelhaft kalten und trüben Wintertag von gestern erstrahlte die Sonne heute wieder in ihrer vollen Pracht. Eine herzliche Verabschiedung von unseren Gastgebern gab es nicht. Die meisten waren unauffindbar und wir trafen nur einen alten, schwerhörigen Bruder der sich auf seinen Krückstock gestützt über den Gang quälte. "Wo der Superior ist weiß ich nicht!" meinte er nur knapp, "wir sind hier so viele, dass wir uns eigentlich gar nicht kennen und im Grunde weiß nie irgendjemand, irgendetwas über irgendjemand anderen." Wir akzeptierten dies als Verabschiedung und machten uns auf den Weg.

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Eigentlich hätten wir es ja besser wissen müssen, als einfach irgendeinem Wegweiser zu folgen, der hier in der Gegend herumstand. Vor allem, wenn es ein Pilgerweg-Wegweiser war. Doch neben diesem Wegweiser stand ein zweiter mit der Aufschrift: "Monte Sant Angelo 6,5km" und einem Fahrradsymbol daneben. Auf der normalen Straße, der wir schon seit rund 15km folgten, waren es noch deutlich mehr Kilometer. Außerdem war der Verkehr jetzt auch wieder nicht so gering und die Straße führte wieder einmal ordentlich bergab, bevor wir dann den Gipfel des Berges erklimmen durften. Alles sprach also dafür, dass der Pilgerweg eine gute Alternative war und so ließen wir uns von den Schildern überreden, diese auch einzuschlagen. Zunächst war es auch kein schlechter Weg, wenn man davon absah, dass er holprig und steinig war. Dann aber teilte er sich und es tauchten keine weiteren Schilder mehr auf. Ein Weg führte rechts ins Tal, der zweite war mit einer Kette versperrt. Beide wirkten nicht sehr vielversprechend, doch irgendwohin mussten wir ja gehen. Schließlich nahmen wir den rechten in der Hoffnung, dass er nur um das Privatgrundstück herum führte und uns dann wieder auf den Berg leitete. Eine Hoffnung, die sich leider nicht erfüllte. Wir kamen immer tiefer in das Tal und umwanderten den Berg dabei so geschickt, dass wir schließlich weiter von unserem Ziel entfernt waren, als an dem Punkt, an dem wir den Wegweisern gefolgt waren. Dafür trafen wir jedoch auf ein deutsches Pärchen, das hier Urlaub machte und einen Wanderführer bei sich trug. Der Führer war nicht schlecht und beschrieb so ziemlich jede Wanderroute in der Region. Bis auf die eine, die wir brauchten. Es war uns ein Rätse, wie es sein konnte, dass Monte Sant Angelo als eines der wichtigsten Pilgerziele der Welt galt und nicht einmal in einem Wanderführer erwähnt wurde, der sich direkt mit dieser Region befasste.

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Wir wanderten also weiter auf gut Glück und kamen in ein komplett ausgestorbenes Dorf, in dem wir ein weiteres mal vor unbeschilderten Kreuzungen standen. Die Ziele aus dem Wanderführer konnten wir schließlich auf kleinen Täfelchen entdecken, doch Monte Sant Angelo wurde behandelt, als würde es gar nicht existieren. Eine gute halbe Stunde landeten wir in einem weiteren Dorf, in dem wir dieses Mal sogar auf Menschen trafen. Ihr Tipp für eine Wanderroute auf den Berg des Erzengels lautete: "Geht den Weg, den ihr gekommen seid zurück und nehmt die Straße! Das sind dann von hier aus so rund 16 bis 17km." Die andere Alternative war ein steiler Pfad, der mitten durch ein unbewohntes Tal führte. Laut Aussagen der Einheimischen war er mit unseren Wagen nicht passierbar, doch wir hatten schon schlimmeres gemeistert und so beschlossen wir, es zu versuchen. Tatsächlich war das Tag eines der schönsten, die wir in Italien gesehen haben. Zum ersten Mal seit langem war es ruhig und friedlich und wir hatten auf diesen wenigen Metern mehr Tierbegegnungen als zuvor in einem ganzen Monat. Erst huschte eine lange, uns unbekannte Schlange über den Weg. Sie hatte einen Natternkopf, doch ihr Schwanz war ungewöhnlich breit. Dann begegnete uns ein Fuchs, der sich in einem Gebüsch versteckte und schließlich durften wir noch einen Bussard beobachten, der in all seiner Pracht vor uns auf einem Baum saß.

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Der Pfad selbst war sogar recht gut passierbar, dafür aber fast unmöglich zu finden. Am Anfang musste man mitten über eine Koppel, die mit einem Tor versperrt war. Hätte der Besitzer des Hofes uns nicht persönlich gesagt, dass wir hier richtig waren, wären wir sicher wieder umgekehrt. Dann wanderten wir zwischen Brombeerhecken hindurch auf einer schmalen Wiese. Der Trampelpfad, der hier entlangführt war hauptsächlich von Kühen ausgetreten worden. Am Ende des Tals verlief er sich vollkommen. Erst als wir einen teilen Berghang bis zum Gipfel hinaufgestiegen waren, erkannten wir eine schmale Straße, die sich auf der anderen Seite in den Felsen schmiegte. Auch sie war wieder durch ein Gitter versperrt und für unwissende unmöglich als Wanderweg erkennbar. Erst als sie wieder eindeutiger wurde, erkannten wir auch wieder einige Wandermarkierungen. Wir folgten dem Weg nach oben und kamen an eine Felskante, von der man einen großartigen Blick über das Meer und die Flachebene hatte. Hier befand sich auch ein altes Santuario mit einem Kloster und einer Kirche, die mitten in den Felsen gebaut war. Die Kirche war zur Hälfte Höhle und zur Hälfte Gebäude und erinnerte uns mehr an die orthodoxen Gotteshäuser, als an die Kirchen die wir sonst in Italien gesehen hatten. Im Kloster darüber lebten vier Menschen, die uns für die Nacht bei sich aufnahmen. Zwei von ihnen waren Mönche, einer war die Haushälterin und der vierte war ein junger Mann, den es hier ebenso herverschlagen hatte wie uns.

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Nur konnte er sich nicht darüber freuen, denn er war ganz und gar nicht freiwillig hier. Die Hintergründe wollte er uns nicht verraten, weil sie ihm etwas peinlich waren, doch er war vor einiger Zeit ins Gefängnis gekommen und durfte als Ausgleich einen Teil seiner Strafe hier im Kloster leben und arbeiten. Wenn ihr mich fragt war das ein Topangebot, aber der junge Mann sah das nicht ganz so. Auch ein goldener Käfig blieb ein Käfig und er sehnte sich danach, die Welt zu bereisen. Zwei Monate musste er noch bleiben, dann hatte er es geschaft. Er wollte nach Amerika auswandern und dort ein neues Leben in Freiheit beginnen. Einen genauen Plan hatte er aber noch nicht. Spannend war, dass er weitaus herzlicher und offener war als die Mönche, die uns eigentlich eingeladen hatten. Sie waren auch nicht unfreundlich, aber bei ihnen wussten wir bis zum Schluss nicht, ob sie uns mochten oder nicht. Bei dem jungen Mann war das hingegen keine Frage.

Spruch des Tages: Umwege erhöhen die Ortskenntnis

Höhenmeter: 40 m Tagesetappe: 15 km Gesamtstrecke: 14.274,27 km Wetter: sonnig, leichter Wind Etappenziel: Privates Landhaus, etwas außerhalb von 72018 San Michele Salentino, Italien

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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