Tag 866: Eidechse mit Handicap

von Franz Bujor
24.05.2016 22:41 Uhr

27.04.2016

Am nächsten Morgen war es wieder windstill und sonnig. Wir schlenderten gemütlich durch die Felder und machten mehrere ausgedehnte Picknicks. Auf diese Weise kamen wir natürlich nicht besonders schnell voran, aber uns drängte ja auch nichts. Im Gegenteil, durch das gemütlicher umherstreifen kam es gleich noch einmal mehr zu spannenden Begegnungen. Dieses Mal trafen wir eine kleine Eidechse, die eine Mischung aus Smaragdeidechse und normaler Echse zu sein schien. Sie hatte einen giftgrünen Kopf und einen braunen Körper. Vor einiger Zeit musste sie sich eine heftige Schlacht mit einem übermächtigen Gegner geliefert haben, denn sie hatte ihren Schwanz verloren. Er war ihr abgehackt worden und Haut, Fleisch und Knochen wirkten, als wären sie an der Amputationsstelle leicht verfault oder vergammelt.

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Der kleine Kerl war vollkommen lethargisch und extrem langsam für ein Wesen seiner Gattung. So langsam, dass wir ihn mühelos auf die Hand nehmen, streicheln und fotografieren konnten. Er hatte sogar mehrere Narben ab Rücken, die zeigten, dass der Schwanz nicht das einzige war, auf das eingepickt wurde. Hätte er ihn nicht abgeworfen, dann hätte er diesen Vorfall nicht überleben können. Später schauten wir in unseren Aufzeichnungen über Krafttiere nach, welche Botschaft uns eine besondere Begegnung mit einer Eidechse übermitteln will. Und wieder stellten wir fest, dass es für uns alle drei eine wichtige Botschaft war. Sie lautete: Pass auf, dass du dich nicht aussaugen lässt. Für den Fall, dass du eine besondere Begegnung mit einer Eidechse hast, läufst du gerade Gefahr, deinen Weg zu verlieren, weil du dich zu sehr um andere kümmerst und versuchst, die Verantwortung für etwas zu übernehmen, das dir nichts angehört.

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Die Eidechse weist dich darauf hin, dass du dir zu viele Sorgen und Gedanken darüber machst, wie es anderen Menschen mit deinen Entscheidungen geht, und zu wenig auf dein eigenes Herz hörst, um herauszufinden, was das richtige für dich ist. Dadurch verlierst du deinen Weg, deine Kraft und dein Glück, sodass du nicht mehr wahrhaft hilfreich sein kannst. Die Eidechse zeigt dir, dass du frei deinen eigenen Weg gehen darfst und gerade dadurch zum Gemeinwohl beiträgst. Unsere kleine Echse im Besonderen hat gleich noch hinzugefügt, was passiert, wenn man sich durch andere kastrieren lässt. Denn der er Schwanz einer Eidechse symbolisiert ihre Kraft und ihre Besonderheit. Ohne ihn kann sie trotzdem weiterleben, aber sie ist nur noch ein halbes Wesen. Wie die Echse hatte auch jeder von uns einmal eine Situation in seinem Leben, in der er einen Teil von sich abspalten, töten, aufgeben oder misshandeln musste, damit der Rest überleben konnte. Die Frage ist nun also, wollen wir wie die kleine Eidechse lethargisch weiter vor uns hin kriechen und uns alles gefallen lassen, weil wir einen Teil von uns verloren haben, oder wollen wir wieder zurück in unsere alte Stärke kommen? Die Echse zeigt aber auch noch etwas anderes: Wenn wir leben wollen, dann ist es manchmal unerlässlich, dass wir loslassen und etwas gehen lassen, von dem wir glaubten, dass wir uns nie davon trennen könnten. In den letzten zwei Jahren gab es vieles, was wir loslassen mussten und vieles wird noch kommen. Unser Schwanz war zum Glück nicht dabei...

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Einen Schlafraum bekamen wir heute nicht. Laut Angaben des Bürgermeisters war der Ort zu klein und verfügte über keine Räume, die in Frage kamen. Schon seltsam, dass es solche Räume immer nur in Orten mit jungen, engagierten, freundlichen und hilfsbereiten Bürgermeistern gibt. Ob da wohl ein Muster hinter steckt? In diesem Fall war es jedoch nicht schlimm, dass wir keinen Raum finden konnten, denn kurz vor dem Ort gab es ein Feld, das zur Hälfte überdacht war. Im Herbst wurden hier wohl Strohballen oder so etwas gelagert. Jetzt war es nur ein trockener, ebener und schattiger Platz, an dem man wunderbar sein Zelt aufschlagen konnte. Und auch hier hatten wir wieder einige spannende Nachbarn. Am Weg war ein kleiner Graben, der mit reichlich Schilf gesäumt war. Überall auf den Halmen saßen Teichrohrsänger, die lustig balzten und dabei immer wieder nach oben und unten hüpften, ein bisschen wie diese Deko-Vögel, die man anstupst und die dann von alleine eine Stange hinunter hüpfen.

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Auf der Stromleitung über uns hatte es sich ein Kuckuck gemütlich gemacht. So nah hatte ich bislang noch nie einen sehen dürfen und ich freute mich riesig über seinen Besuch. Die ganze Zeit in der wir das Zelt aufbauten, begleitete uns sein Rufen. „Kuckuck! Kuckuck! Kuckuck!“ Die erste halbe Stunde machte es echt spaß, ihm zuzuhören. Dann aber wurde langsam klar, warum er den Namen Kuckuck erhalten hatte. Sein komplettes Sprachspektrum erschöpfte sich mit diesem einen Laut. Und weil niemand zu ihm kam, der seinen Ruf erwiderte und sich mit ihm paaren wollte, rief er ununterbrochen für mehrere Stunden. Langsam war es dann nicht mehr ganz so schön, ihm dabei zuzuhören und plötzlich verstanden wir auch die Jäger wieder, die früher so gerne Jagd auf diese Vögel gemacht hatten.

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Man konnte durchaus nachvollziehen, dass man in Schießlaune kommt, wenn man auf seinem Jägersteig sitzt und den ganzen Tag nur „Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck, Kuckuck“ hört.

Spruch des Tages: Auf einem Baum ein Kuckuck saß...

Höhenmeter: 220 m Tagesetappe: 42 km Gesamtstrecke: 15.273,27 km Wetter: hin und wieder sonnig zwischen heftigen Wolkenbrüchen und Endzeitgewittern Etappenziel: Zeltplatz in einem kleinen Wäldchen am Fluss, 3km hinter 4220 Kritschim, Bulgarien

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Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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