Tag 868: Die alte Haut abstreifen

von Franz Bujor
24.05.2016 23:16 Uhr

29.04.2016

In der Früh wurden wir recht unsanft von den Kirchenglocken und der anschließenden Messe geweckt, die hier wie üblich über das gesamte Dorf geschrien wird. In Griechenland ist heute Karfreitag, da das Osterfest ja immer etwas später ist. Dementsprechend übertreiben sie es nun auch mit den heiligen Messen. Aus den üblichen zwei Stunden waren gestern Abend bereits drei geworden und auch in der Früh schien der Gottesdienst kein Ende zu nehmen. Die 45 Minuten bis eine Stunde in Italien waren uns ja bereits immer zu viel gewesen und wir fragten uns ernsthaft, wie irgendjemand das hier für drei Stunden aushalten konnte. Nicht einmal dem Pfarrer selber trauten wir es zu, dass er so lange wach blieb. Entweder er hatte einen Assistenten und sie wechselten sich ab, oder er legte sich hinter den Altar zum Schlafen und ließ ein Tonband laufen. Anders konnten wir es uns nicht vorstellen.

Vom schönen, warmen, griechischen Sommerwetter war heute nichts mehr zu sehen. Es regnete bereits am Morgen und hörte damit auch den ganzen Tag nicht mehr auf. Es schien fast eine Art Reinigungsregen nach dem Ritual von gestern zu sein. Ein Eindruck, der durch eine weitere magische Begegnung am Mittag noch einmal verstärkt wurde. Am Rande einer Ortschaft tauchte plötzlich eine Schlange vor uns auf, die sich mitten über die Straße schlängelte. Sofort zuckten wir wieder zurück und gingen auf Sicherheitsabstand. Dann näherten wir uns vorsichtig erneut und aufmerksam. Die Schlange war in etwa so groß wie die Hornviper von neulich, hatte aber kein Horn auf der Nase und wirkte auch nicht so bedrohlich. Heiko identifizierte sie kurz darauf als Ringelnatter. Sie war also nicht gefährlich. Noch immer regnete es in Strömen, doch wir kamen nicht umhin, stehenzubleiben und das kleine Wesen genauer zu betrachten. Heiko holte die große Kamera heraus und machte einige Fotos aus der Distanz.

Doch die Schlange blieb ruhig auf der Straße sitzen und schien uns einzuladen, ihr näherzukommen. Vorsichtig tastete sich Heiko an sie heran und machte schließlich sogar Makroaufnahmen von ihrem Kopf aus einer Entfernung von wenigen Zentimetern. Fast hatten wir den Eindruck, als wollte sie mitten in die Kamera hineinkriechen. So aus der Nähe erkannte Heiko nun, dass sie ganz trübe Augen hatte und plötzlich verstanden wir, warum sie so lethargisch und planlos daher kroch. Sie stand kurz vor der Häutung. In ein oder zwei Tagen würde sie ihre alte Haut abstreifen und darunter zu neuem Leben erwachen. Sie würde wachsen und sich verjüngen und in einem vollkommen neuen Glanz erstrahlen. Erst am Abend wurde mir bewusst, wie tief die Symbolik dieser Wandlung eigentlich war. Ihre Haut war für lange Zeit ihr Schutz gewesen, der sie einhüllte, sie umgab und der ihre Verbindunge zur Außenwelt darstellte. Doch nun war ihr diese alte Hülle zu eng geworden. Sie war in einen neuen Lebenszyklus übergegangen und musste das Alte sprengen und von sich abstreifen.

Das, was früher ihr Schutz war, wurde nun ihr Gefängnis. Es engte sie ein, nahm ihr die Luft zum Leben und verhinderte ihre Entwicklung. Das was früher eine lebendige Verbindung zur Welt war, war nun abgestorben, tot und gefühllos. Es hatte ihr für lange Zeit gute Dienste geleistet, doch nun war es an der Zeit für etwas neues. Aber noch war sie nicht soweit. Sie befand sich in dem Stadium kurz vor einer Wandlung und einer Wachstumsphase. Das alte hatte seinen Nutzen bereits verloren und doch trug sie es noch mit sich herum. In diesem Zustand war sie lethargisch, wurde fast blind, konnte sich ihrer Haut nicht mehr erwehren und konnte leicht jeder Kleinigkeit zum Opfer fallen. Es war der gleiche Zustand, den Heidi gestern durchlebt hatte und, den auch wir nur zu gut kannten. Weihnachten war ich das letzte Mal in diesen Zustand geraten und er hatte angehalten, bis ich es geschafft hatte, noch einmal einen klaren Strich unter die Situation mit meinen Eltern zu ziehen. In mir waren tausend alte Gefühle, die mich gefangen hielten wie die alte Haut die Schlange. Ich war planlos, desorientiert und noch blinder, als ich es ohnehin schon bin. Erst als ich loslassen und alles nach außen geben konnte, streifte ich damit das alte von mir ab, wurde freier, konnte wachsen und wechselte in einen neuen Zyklus, in dem ich nun wieder so lange bleiben kann, bis der nächste Schritt ansteht. Auch Heydi hatte auf der seelischen und gedanklichen Ebene eine solche, alte Haut abzustreifen und genau einen Tag nachdem sie es getan hatte, begegnete uns nun die Schlange.

Später fiel Heiko noch etwas anderes auf. Kurz bevor Paulina damals in Sarajevo zu uns gestoßen war, hatten wir auch eine Begegnung mit einer Ringelnatter gehabt. Damals waren wir auf einem Trampelpfad durchs Gestrüpp gewandert, als plötzlich eine Riesenschlange vor uns auf den Weg sprang. Heiko, der als erster ging, erschreckte sich fast zu Tode und er sprang so ruckartig zur Seite, dass er sich dabei die Schulter verengte. Die gleiche Schlange, die ihm damals so eine Angst eingejagt hatte, lag nun ruhig vor uns und wir durften sie sogar auf den Arm nehmen. Die Wandlungsprozesse und das Loslassen des Alten begleiteten uns damals wie heute. Doch sie hatten viel von ihrem Schrecken verloren und wir konnten sie nun bedeutend besser annehmen.

Die Ringelnatter gilt übrigens als ein Schutzwesen für Kinder, sowohl echte Kinder als auch die inneren Kinder in jedem von uns. Sie sind Boten der Wandlung, der spirituellen Stärker und des Schutzes, sie verbinden die Welt der Geistwesen mit der unseren. Als wir die gesamte Botschaft der Ringelnatter als Krafttier noch einmal durchgingen, fanden wir keinen einzigen Punkt, der nicht zu uns passte, wie die Faust aufs Auge.

Am frühen Nachmittag erreichten wir einen kleinen Ort, in dem wir eine freundliche Bäckerin trafen. Sie schenkte uns eine ganze Tüte voller Gebäck und stellte den Kontakt mit dem Bürgermeister her, der uns in eine alte Schule einquartierte. Das Erdgeschoss diente heute als Bürgermeisterbüro. Die erste Etage stand weitgehend leer und wurde nicht mehr verwendet. Der Putz blätterte von der Decke und die alten Pulte und Tafeln standen noch genauso da, wie sie vor Jahrzehnten verlassen worden waren. Nachdem Heiko die Balkontür repariert hatte, so dass wir sie wieder schließen konnten, war es ein ganz passabler Wohnraum. Vor allem, weil wir gleich zwei Heizstrahler hatten, mit denen wir es uns gemütlich machen konnten.

Spruch des Tages: Raus aus der alten Haut

Höhenmeter: 20 m Tagesetappe: 16 km Gesamtstrecke: 15.307,27 km Wetter: hin und wieder sonnig zwischen heftigen Wolkenbrüchen und Endzeitgewittern Etappenziel: Zeltplatz neben einem Feld, kurz hinter 4190 Saedinenie, Bulgarien

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Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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