Zornnattern

von Franz Bujor
02.04.2014 20:59 Uhr

Noch 9 Tage bis zum 100-tägigen Jubiläum unserer Weltreise!

Um nicht von den Theaterschülern überrascht zu werden, klingelte uns unser Wecker heute Morgen bereits eine halbe Stunde früher aus dem Bett, als gewohnt. Sehr zu unserem Leidwesen! Halb verschlafen wagten wir uns wieder auf die Piste und schlappten durch den Morgen. Die frühe Morgenstimmung war wirklich schön und wir genossen die ruhige und harmonische Atmosphäre. Diese wurde jedoch abrupt unterbrochen, als Heiko mit einem Satz zurücksprang und ein Gesicht machte, als hätte er seinen großen Zeh in ein offenes Messer gerammt. Ich schaute ihn an und verstand einfach nicht, was los war. „Ist was passiert?“, fragte ich entgeistert.

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Unsere Wanderung beginnt am frühen Morgen.

 

„Na, da! Schau doch hin!“ rief Heiko entsetzt über mein akutes Unverständnis der Situation. Ich drehte meinen Kopf zur Seite und jetzt endlich verstand ich, was los war. Er hatte sich nicht deswegen so merkwürdig verhalten, weil er sich den Fuß verstaucht, den Rücken verdreht oder sonst irgendwie verletzt hatte, sondern weil er etwas entdeckt hatte, was vor ihm im Gras lag. Es war eine Schlange! Kaum eineinhalb Meter von uns entfernt und von beachtlicher Größe. Ganz ruhig lag sie da und machte keinerlei Anstalten zu fliehen oder uns anzugreifen. Es schien fast, als hätte sie uns noch überhaupt nicht bemerkt.

 
Eine Schlange versteckt sich im Gras.

Eine Schlange versteckt sich im Gras.

 

„Das ist eine Kreuzotter!“, sagte Heiko, „denke ich jedenfalls. Könnte auch was anderes sein, aber ich denke, es ist besser, wenn wir erst mal davon ausgehen, dass sie giftig ist und einen respektvollen Sicherheitsabstand einhalten. Gib mal die Kamera!“

Wir gingen ein Stück zurück, setzten die Pilgerwagen und den Rucksack ab und machten uns daran, die Schlange abzulichten. Noch immer nahm sie keinerlei Notiz von uns und langsam machten wir uns ein wenig Sorgen um ihren Gesundheitszustand.

„Schau mal, ihre Augen sind leicht eingetrübt“, meinte Heiko nach einer Weile, „meinst du, sie lebt überhaupt noch?“

„Ich bin nicht sicher“, antwortete ich, „ihre Schuppen hinter dem Kopf sehen an einigen Stellen leicht gequetscht aus. Vielleicht hatte sie ein unsanftes Rendezvous mit einem Autoreifen.“

 
Zornnatter

Zornnatter

 

Da meine Schuhe ja bereits vor ein paar Tagen den Geist aufgegeben hatten und ich nun bis zur Ankunft unserer neuen Schlappen, trotz der Sonne in den dicken Bergschuhen wanderte, wagte ich mich ein Stück näher an unser kaltblütiges Fotomodell. Die meisten Unfälle mit Schlangen passieren, weil man ihnen zu nahe auf die Pelle rückt und sie einem dann aus Angst in den Fuß beißen. Gerade bei kleineren oder mittelgroßen Schlangen reichen hochgeschlossene Schuhe als Schutz in der Regel aus, da sie nicht höher zuschnappen als ein paar Zentimeter. Ich angelte mir einen langen Stock und tippte sie vorsichtig an. Keine Reaktion. Ich tippte etwas stärker. Noch immer nichts. Dann schob ich vorsichtig ihren Kopf ein wenig zur Seite. Sie blieb weiterhin so entspannt, wie man nur dann sein kann, wenn man entweder vollkommen bekifft oder mausetot ist. Da wir noch nie von kiffenden Schlangen gehört hatten, vermuteten wir das letztere. Und tatsächlich, jetzt, wo wir sie aus der Nähe betrachteten, war sie ohne jeden Zweifel so tot wie der Tod höchstpersönlich.

„Ich muss zugeben, ich habe nicht den Hauch einer Ahnung, um was für eine Schlange es sich handelt“, sagte Heiko bei näherer Betrachtung.

„Meinst du, wir sollten nachschauen, was für Zähne sie hat?“ schlug ich vor.

Das Gebiss einer Natter

Das Gebiss einer Natter

Behutsam öffneten wir ihren Mund mit zwei kleinen Stöcken. Sie hatte noch etwas Gras im Maul und einen nicht unerheblichen Mundgeruch. Ihre Zähne waren eher klein und wirkten nur wenig bedrohlich. „Sieht eher wie eine Natternart aus!“ stellte Heiko fest. Wirklich sicher bestimmen konnten wir sie jedoch erst am Abend. Es handelte sich um eine Ringelnatter. Sie war also ungiftig.

Einige Zeit später entdeckten wir eine zweite Schlange. Diese war jedoch ohne jeden Zweifel auf den ersten Blick als tot zu identifizieren, denn sie hatte etwa das Format einer Briefmarke. Einer sehr langen und gekringelten Briefmarke allerdings, die nur auf einen Großbrief gepasst hätte. Was man jedoch deutlich sehen konnte war, dass es sich bei ihr um eine andere Schlangenart handelte. Abends fanden wir heraus, dass sie eine Zornnatter und somit ebenfalls ungefährlich war. Selbst in lebendem Zustand.

Tote Zornnatter

Tote Zornnatter.

 

„Es geht also los!“, sagte Heiko mit einem leichten Schaudern. „Wir kommen so weit nach Süden, dass es hier Schlangen gibt. Und nicht wenige, wenn man bedenkt, dass das hier die Zweite innerhalb von nur zwei Stunden ist. Ich denke, dass wir spätestens jetzt unser Aufmerksamkeitstraining ernst nehmen sollten. Die meisten werden ungiftig sein, aber eben nur die meisten.“

Das Gift, mit dem wir heute zu kämpfen hatten, war jedoch gänzlich anderer Natur. Es wurde auch nicht über das Blut oder den Speichel, sondern über die Atemwege verteilt. Überall in der Region hatte man gestern und heute Morgen das Gras gemäht. Darunter waren auch viele Flächen, die mit Pflanzenschutzmitteln, Herbiziden und Pestiziden behandelt worden waren. Nun wurden die ganzen kleinen Giftpartikeln zusammen mit den Pollen vom Wind durch die Luft direkt in unsere Nasen und Augen gewirbelt. Unsere Allergien freuten sich darüber wie ein Schnitzel. Wir hingegen freuten uns überhaupt nicht. Meine Augen tränten und brannten, dass ich kaum schauen konnte. Was überhaupt nicht hilfreich war, wo ich jetzt überall Schlangen vermutete. Meine Nase wehrte sich gegen die kontaminierte Atemluft und machte einfach die Schotten dicht. Heiko hatte das Problem eher im Inneren. Seine Lunge brannte und er konnte zum Teil kaum mehr atmen. Auch das war nicht hilfreich, denn beim Wandern ist Sauerstoff schon wirklich nützlich.

Der Kopf der Zornnatter

Der Kopf der Zornnatter

Im Laufe unserer Reise lernten wir drei völlig neue Plantagenarten kennen, die wir bis dahin noch nie gesehen hatten. Die erste war eine Obstplantage mit äußerst seltsamen Obstbäumen, die über eine Art Kreuz gehängt wurden. Entweder der Bauer war ein bisschen zu christlich oder es handelte sich um eine Form der Spalierbäume, die uns unbekannt waren. Die zweite Plantagenart waren Pappelplantagen. Es waren kleine Wälder aus akkurat in Reih und Glied gepflanzten Pappeln, die für die Herstellung von Camembert-Schachteln verwendet werden. Zunächst erstaunte uns die Vorstellung, aber irgendwo her mussten die Schachteln ja kommen. Und bei der Menge an Käse, die hier produziert wird, braucht man schon etwas mehr als nur ein Bäumchen im Vorhof der Milchfarm. Gerade als wir an einer solchen Plantage vorbeiliefen, kam ein kräftiger Windstoß und ein gewaltiger Ast brach einfach so von einem der Bäume und stürzte zu Boden. Erschrocken zuckten wir zusammen. Es war ein frischer Ast gewesen, mit saftig grünen Blättern. Offenbar war es gut, bei diesem Wetter genau darauf zu achten, wo man hinging. Memo an uns selbst: Pappelplantagen sind als Schlafplätze eher ungeeignet!

Die dritte Art der Plantage erkannten wir zunächst nicht einmal als ungewöhnlich. Es war ein frisch geerntetes Stoppelfeld. Dann aber entdeckten wir einige Triebe, die stehen gelassen worden waren. Es waren Weidenruten. Noch nie in meinem Leben habe ich ein Weidenfeld gesehen. Aber habt ihr euch schon mal gefragt, wo die ganzen Weidenruten herkommen, aus denen all die Körbe, Stühle und Sessel gemacht werden?

Am Nachmittag kamen wir in ein kleines Dorf, in dem wir eine Pause einlegten. Ein Einheimischer kam zu uns und nach einem kurzen Gespräch erzählte er uns von einem Kloster, in dem man als Pilger kostenlos schlafen könne. Es war nicht weit entfernt und lag in der Nähe des Jakobsweges. Eine gute Stunde später durchschritten wir die Klostertore und begrüßten einige Schwestern.

Klosterschwester Agnei

Klosterschwester Agnei

Wie sich herausstellte, war dies das erste Kloster, das noch wirklich ein Kloster war. Die Nonnen bauten ihr eigenes Essen an, hatten eine Truthahnzucht und lebten fast vollständig autark. Als Gast konnte man hier für einige Tage wohnen und es gab einige Seminarräume für Gruppen und Veranstaltungen. Eine sehr sympathische und liebenswerte Nonne namens Schwester Agnei führte uns im Kloster herum und zeigte uns unser Gästezimmer. Normalerweise kostete eine Übernachtung hier 23 €, doch als wir Schwester Agnei sagten, dass wir kein Geld hatten, lächelte sie nur und sagte: „Ich weiß! Für euch ist es umsonst. Diejenigen, die Geld haben, bezahlen auch für diejenigen, die kein Geld haben. Jeder das, was er kann.“

Uns fiel ein Satz wieder ein, den wir in Rothenburg ob der Tauber in unserem Zimmer gelesen hatten: „Nimm was du brauchst, gib was du kannst!“ Er hatte auf einer kleinen Spendenbox gestanden. Schön, dass es noch Orte gab, an denen diese Art von geben und nehmen noch anerkannt wurde!

Nachdem wir unser Zimmer bezogen hatten, machten wir nochmal einen kleinen Rundgang durch das Klostergelände. Dabei wurden wir von einer Frau aufgegabelt, die uns kurzerhand mitnahm und in einen kleinen Gang führte. An seinem Ende befand sich die Klosterkirche und ehe wir uns versahen, saßen wir mitten in einem Gottesdienst. Es bestand hauptsächlich aus Gesängen und auch wir bekamen Liederzettel zum Mitsingen. Das ging ja in Gottesdiensten auf Deutsch schon jedes Mal schief, aber jetzt auch noch auf Französisch? Nach einigen kurzen Versuchen gaben wir es auf und konzentrierten uns lieber auf die Atmosphäre im Raum. Die Nonnen nahmen ihre Aufgabe sehr ernst und man konnte spüren, dass es ehrlich gemeint war. Die Stimmung war kraftvoll und harmonisch und hatte nichts mit dem Show-Act in Vézelay oder dem Gehetze im Zen-Kloster gemein.

Die Klosterkirche

Die Klosterkirche.

 

Spruch des Tages: Was macht man, wenn man eine Schlange am Wegesrand sieht? Man stellt sich hinten an!

 

Tagesetappe: 25 km

Gesamtstrecke: 1865,97 km

 

 

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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