Gelassenheitsübungen für Fortgeschrittene

von Heiko Gärtner
12.08.2016 04:05 Uhr

15.06.2015

Nachdem ich es in der Nacht nicht geschafft hatte, meinen Text fertig zu schreiben, herrschte in mir nun der Gedanke, dass ich möglichst viel Zeit brauchte, um ihn fertig stellen zu können. Mein präsentester Gedankengang war also der an einen immensen Zeitmangel und so bekam ich diesen Zeitmangel nun auch in jeder Form gespiegelt. Es begann gleich in der Früh auf dem Hof des Rathauses, wo Heiko bemerkte, dass er ein Loch im Reifen hatte. Etwas abseits der vielen Schnapsdrosseln begannen wir mit der Reparatur, doch kaum hatten wir den Reifen gewechselt, war er schon wieder Platt. Dabei hatten wir nicht einmal ein Loch finden können. Irgendwo musste also doch ein versteckter Dorn im Mantel geblieben sein. Also noch einmal alles von vorne. Wieder suchten wir vergeblich nach einem Dorn und wieder konnten wir kein Loch ausmachen. Wie zur Hölle war das möglich?

Die Antwort war ebenso naheliegend wie banal: Wir hatten es irgendwie geschafft, zweimal den falschen Reifen zu wechseln. Wir konnten kein Loch finden, weil es keines gab. Der platte Reifen war der auf der anderen Wagenseite. Also begannen wir zum dritten Mal von vorne und dieses Mal waren wir erfolgreich. "Den Fehler an der falschen Stelle suchen." Das steckte wohl als Botschaft in dieser Situation. Unendlich viel Arbeit, schuften wie ein Blöder und alles ohne ein Ergebnis, weil man am Anfang nicht innegehalten und sich einen echten Überblick verschafft hatte.

Bereits seit Wochen hatten wir nun schon keine anderen Reisenden mehr getroffen. Heute änderte sich dies schlagartig, als wir an einem Minimarkt auf einen Radler namens Gerd Schröder trafen. Nein, es war nicht unser alter Bundeskanzler! Er war gerade auf den Weg zum Balkansee im Mittleren Osten und wollte sich zuvor noch das Donaudelta anschauen. Eigentlich war er ein Backpacker, der sein halbes Leben lang aus dem Rucksack gelebt hatte. Doch nun war er zum Fahrrad übergewechselt, um eine neue Form des Reisens auszuprobieren. Zwei Jahre wollte er dabei unterwegs sein und anschließend noch einige Zeit am Baikalsee verbringen. Vor einiger Zeit war er bereits einmal dort gewesen und hatte unter anderem als Lehrer gearbeitet. Er erzählte uns auch von einem Filmprojekt, das er gemeinsam mit einem Freund unternommen hatte und bei dem eine spannende Dokumentation über sibirische Schamanen entstanden war. Was er über Sibirien und die Balkan-Region erzählte, faszinierte uns zu tiefst und es steht nun eindeutig fest, dass wir eines Tages auch in diese Länder reisen werden. Die ganze Zeit in der wir uns zu dritt unterhielten, streunte ein kleiner Junge um uns herum, der von Minute zu Minute nerviger wurde. Erst unterbrach er nur immer wieder unsere Gespräche, dann begann er unsere Sachen anzugrabbeln und schubste sogar beinahe das Fahrrad von Gerd um. Hauptsächlich versuchte er sich dadurch vor seinem Kumpel zu profilieren, doch diesem war die ganze Aktion so peinlich, dass er am liebsten im Boden versunken wäre.

Nachdem wir uns verabschiedet hatten, überquerten wir einige Hügelketten und kamen schließlich an eine große Brücke, die uns direkt in eine Kleinstadt führte. Ein Polizist hielt uns an, dieses Mal aber nicht um unsere Ausweise zu kontrollieren, sondern nur um uns zu fragen, ob wir etwas brauchen und um uns vor Fake-Polizisten, Zecken und wilden Hunden zu warnen. Es war schon ein deutlicher Unterschied zu dem Umgang den wir in Griechenland und Bulgarien hatten erdulden müssen.

In der Stadt erwartete uns noch einmal ein vollkommen neues Rumänien, das nichts mehr mit den kleinen Dörfchen und den Schotterwegen zu tun hatte. Auffällig war vor allem, dass es in der Einkaufsmeile fast nur Spielhallen und Kleidungsläden gab. Wobei mit Kleidungsläden kleine Ramschboutiken gemeint sind, die immer die gleichen Billigwaren aus China verkauften. Für uns war lediglich ein einziges Restaurant interessant, in dem wir Kartoffelbrei mit Hähnchenschenkeln bekamen. Hier konnten wir auch seit langem Mal wieder unsere Mails abrufen, wobei wir jedoch feststellten, dass es sich eigentlich bei allem nur um Hiobsbotschaften handelte. So viel schlechter waren wir ohne Internet also auch nicht dran.

Da es in der Stadt nur ein einziges Hotel gab, das dann auch noch geschlossen hatte, blieb uns nichts anderes übrig, als uns wieder einen Weg nach draußen zu suchen. Dabei kamen wir nun auch durch die slumartigen Vororte. So bedrohlich und beängstigend wie in Bulgarien wirkten sie nicht, nur heruntergekommen und schäbig. Hier direkt einen Zeltplatz zu suchen schien uns nicht besonders intelligent zu sein und so marschierten wir erst noch eine ganze Weile weiter, bis wir es wagten, nach einem Platz Ausschau zu halten. Doch wieder einmal gab es kaum Möglichkeiten. Es gab zwar noch einmal ein Hotel, das dieses Mal auch geöffnet hatte, doch der Chef war nicht da und nicht erreichbar und so half uns auch dies nicht weiter. Schließlich fanden wir einen Platz direkt im Überschwemmungsgebiet neben der Donau. Hier begann das, was Heiko zuvor mit Mückenparadies beschrieben hatte. Bevor ich mich wieder an den Text setzen konnte, mussten erst noch unsere Bremsklötze gewechselt werden. Also begann ich mit rund hundert Mücken auf den Armen, ein kleines Klötzchen zu sägen. Durch den Schweiß lockte ich dabei natürlich immer mehr Mücken an, so dass es schließlich kaum noch möglich war, bei der ganzen Aktion nicht vollkommen durchzudrehen. Erst in der Nacht konnte ich mich wieder an den Text setzen, wobei ich trotz mehrstündiger Arbeit insgesamt nicht einmal eine halbe Seite zustande brachte. Ich versuchte noch immer rein aus dem Verstand ein Thema zu beschreiben, das man fühlen musste. Dies konnte natürlich nicht funktionieren und so war es kein Wunder, dass sich alle Sätze komplett leer und platt anfühlten.

Spruch des Tages: Ich kann jetzt auch nur vermuten, was ich damit meine ....

Höhenmeter: 230 m Tagesetappe: 23 km Gesamtstrecke: 16.233,27 km Wetter: sonnig und heiß Etappenziel: Zeltplatz auf einer Anhöhe, kurz vor Mingir, Moldawien

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

Schreibe einen Kommentar:

Speichere Namen, Email und Webseite im Browser fur zukunftige kommentare