Tag 920: Wandern entlang der Donau
22.06.2016 Es sind nun nur noch wenige Kilometer bis nach Galati, der Stadt in der wir das Paket mit Heikos neuer Mattte abholen wollen. Für Heiko sind die Nächte nun bereits so, als würde er für einen Fakir-Wettbewerb trainieren. Seine Matte besteht nur noch aus einer einzigen, riesigen Bäule, die sich unter seinem Rücken befindet und alls andere ist platt und hart. Auf der einen Seite konnten wir es also kaum erwarten, an der Poststation anzukommen, auf der anderen Seite hatten wir aber noch immer keine Ahnung, ob das Paket überhaupt angekommen war. In Rumänien existierte Poste-Restante, also der Service, Pakete postlagernd zu versenden nur an ganz bestimmten Postämtern. Diese wurden als Oficiul Postal NR. 1 bezeichnet, da es jeweils die Hauptämpter in einem Bezirk waren. Ein solches Postamt hatte ich ausgesucht, doch leider arbeitete der Deutsche Paketdienst wieder einmal nicht mit seinen ausländischen Kollegen zusammen, so dass wir keine Information abrufen konnten, wo sich unser Paket befand. Die Aussage begrenzte sich auf: "Paket ist im Zielland eingetroffen. Weitere Informationen nicht abrufbar! Wir aktualisieren diesen Status, sobald Änderungen eintreten!" Leider wollte aus irgendeinem Grund auch unser Handy nicht funktionieren und so konnten wir zunächst nicht nachfragen, wo sich unser Paket befand. Erst gestern Mittag trafen wir in einem Café einen freundlichen jungen Mann, der die Telefonate für uns übernahm. Er war überzeugt davon, dass die rumänische DHL der richtige Ansprechpartner war, wenn unser Paket aus Deutschland kam. Doch zu seiner Überraschung hatten die nichts mit der Sache zu tun. Obwohl das Paket mit der deutschen DHL abgeschickt wurde, wurde es an der Grenze von einem anderen Billigunternehmen weitertransportiert und nicht von der ausländischen Zweigstelle ihrer eigenen Firma. Beim Postamt direkt hatte er dann aber mehr Glück. Hier erreichte er eine freundliche Dame, die uns bestätigte, dass das Paket zur Abholung bereit lag. Spannender Weise war sie in der Lage, anhand unserer Paketnummer alle Details zurückzuverfolgen, incl. des Absenders und des Absendeortes. Von der Deutschen Seite hingegen, bekam man gar keine Informationen.
Auf jeden Fall wussten wir nun, dass alles in Ordnung war und dass wir beruhigt weiter in Richtung Postamt gehen konnten. Kurz bevor wir von der Hauptstraße wieder auf einen Feldweg abbogen, trafen wir erneut zwei Radfahrer, die in Richtung Donaudelta unterwegs waren. Offensichtlich war diese Route unter Fahrradfahrern weitaus beliebter als wir dachten. Die beiden Jungs waren Studenten und nutzten ihre Semesterferien, um mit dem Rad in die Türkei zu fahren. Der Weg durch die Felder entpuppte sich wieder einmal als Irrweg und erneut bekam ich den immensen Druck vor Augen geführt, der sich in meinem Inneren aufbaute. Es ging längst nicht mehr nur um das Buch. Es war viel mehr. Ich spürte, wie die Themen, mit denen ich mich durch den Buchauftrag beschäftigte, all meine Masken von meinem Gesicht rissen. Die ganze Fassade des netten, kleinen Tolpatsches, den jeder sympathisch finden musste und dem einfach niemand wirklich böse sein konnte, weil er immer einen Welpenbonus hatte, begann zu bröckeln. Mein Verstandesgegner war nun stärker als je zuvor und ich befand mich fast nur noch im Kopf. Auf allen anderen Ebenen war ich wie tot und so schaffte ich es auch nicht mehr, eine klare Entscheidung zu treffen. Die Karte sagte "Links abbiegen" und so bog ich links ab, obwol es sich bereits jetzt nach einer Sackgasse anfühlte. Einen guten Kilometer konnten wir in das Feld hineinwandern, bis der Weg zu einem reinen Sumpf wurde, der absolut unpassierbar war. Wir kehrten um, bis wir wieder eine Kreuzung erreichten. Hätte ich auf mein Gefühl gehört, wäre klar gewesen, dass dieses Gebiet für uns nicht passierbar war und dass wir zur Hauptstraße zurück mussten. Doch ich hörte auf meinen Verstand, der mir sagte, dass ich auf biegen und brechen irgendwie weiter in den Sumpf musste. Noch einmal wanderten wir einen guten Kilometer in die Felder hinein. Dann kam uns zum Glück ein Traktor entgegen, der uns von unserem Leid erlöste. "Ihr braucht hier nicht weiter zu gehen!" machte uns der Fahrer deutlich. In spätestens einem Kilometer endet der Weg im Schlamm!" Er deutete auf seinen Traktor. Die dicke Schlammschicht, die auf dem halben Fahrzeug klebte und erst frisch dort gelandet war, überzeugte uns vollständig. Während wir zurück zur Hauptstraße wanderten, spiegelte mir Heiko durch seine schlechte Laune die eigenen Vorwürfe, die ich im Inneren trug. Mein innerer Gegner lachte sich ins Fäustchen, während jede Faser meines Körpers ammok lief. Ich spürte so deutlich wie noch nie, dass ich zu 90% gegen mich selbst ankämpfte und trotzdem konnte ich nichts dagegen tun. Mein Verstand hatte die Oberhand gewonnen und ich war nun nur noh die Fratze der Selbstverurteilung.
Erst als wir auf der Hauptstraße einen Berg überquert hatten und in eine neue Ortschaft kamen, wurde es wieder etwas besser. Einen anständigen Schlafplatz aufzutreiben war auch hier unmöglich und so landeten wir am Ende unter ein paar Rubinien, direkt neben der Hauptstraße. Noch immer hatte ich meinen Einleitungstext nicht fertig und noch immer hatte ich keinen Überblick, auf wie viele Seiten ich am Ende kommen würde. Heiko hatte bereits vor Tagen begonnen, das Buch von hinten aufzuarbeiten und meine Kapittel mit Inhalt zu füllen. Er hatte nun bereits weit mehr als die Hälfte des Buches geschafft, während ich noch immer über den ersten 30 Seiten Brütete. Wieder einmal kochte der Frust über und es kam zu einer lautstarken Explosion. Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht verstand war, dass natürlich auch Heiko nur noch die Fratze meines Verstandesgegners zu Gesicht bekam. Seit Tagen und Wochen hatte er nun schon keinen Reisegefährten mehr, sondern nur noch ein elendes, selbstmitleidiges Stressbündel, das keine Gefühle besaß. Irgendwie musste er mich aus diesem Zustand wieder aufwecken, doch mein Verstand war so geschickt, dass es es einfach nicht zuließ. Es sollte noch mehr als eine Woche dauern, bis der Druck so groß wurde, dass ich es schließlich begreifen konnte.
Zunächst jedoch versuchte ich meine Probleme zu lösen, in dem ich noch mehr auf meinen Verstand hörte. Ich versuchte zu funktionieren und ein immer besserer Robotter zu werden. So setzte ich mich in der Nacht an einen Brunnen und arbeitete bis zum Sonnenaufgang. Dann endlich hatte ich den ersten Teil meiner Arbeit fertig. Jedenfalls hatte ich die Einleitungskapitel geschrieben. Was den Inhalt anbelangte, so sollte sich später zeigen, dass der Robotter-Tobi kein geeigneter Autor war.
Spruch des Tages: Keine Gefühle sind auch keine Lösung. Höhenmeter: 390 m Tagesetappe: 18 km Gesamtstrecke: 16.292,27 km Wetter: sonnig und heiß Etappenziel: Zeltplatz im Wald neben der Station der Grenzpolizei, kurz vor Frăsineşti, Moldawien