Tag 928: Das Übergangsritual

von Heiko Gärtner
30.08.2016 03:47 Uhr

Fortsetzung von Tag 928: (Hier geht es zum Gesamtartikel)

Doch auch diese Erkenntnis war nur ein Teil von dem, was es zu erkennen galt und so braute sich schon wieder das nächste Unwetter zusammen. Noch immer hasste ich mich dafür, dass ich ein Arschlochschmarotzer war und aus dieser Rolle nicht ausbrechen konnte. Also verstärkte ich den Druck und wurde wieder von Tag zu Tag unerträglicher. Den vorerst absoluten Höhepunkt erreichte ich mitten in Moldawien in einem kleinen Ort namens Bujor. Am Vorabend hatten wir endlich die erste Rohfassung des Buches fertig gestellt, die nun soweit war, dass sie in den vorgegebenen Rahmen des Verlages passte. Sie musste nun eigentlich nur noch Korrektur gelesen und leicht überarbeitet und verflüssigt werden. Doch als ich die Datei öffnen wollte, stellte ich fest, dass sie beschädigt war. Sofort ging ich zu Heiko und bat ihn um eine andere Kopie der Datei, doch plötzlich ließ sich auch diese nicht mehr öffnen. Alle Endversionen, die wir erstellt hatten waren kaputt, und das ohne einen Rational erklärbaren Grund. Und dennoch wussten wir beide ganz genau, was die Ursache für die Dateifehler war. Es war meine innere Geisteshaltung des Selbsthasses und des Gefühls, alles falsch und kaputt zu machen. Die Datei spiegelte mir meine zur Zeit tiefste Überzeugung: „Ich bin zu nichts nutze und ich halte das Projekt nur auf!“ Bislang hatte ich aktiv dazu beigetragen, dass sich die Arbeit am Buch in die Länge zog. Nun reichte bereits meine bloße Anwesenheit, um sie zu sabotieren. Denn kurz bevor ich am Zelt eingetroffen war, hatte Heiko die Datei noch einmal geöffnet und da hatte sie einwandfrei funktioniert. Nun war sie vollkommen zerschossen. Heiko begann zu toben. Er stürmte aus dem Zelt, vor dem ich bereits auf dem Boden hockte wie ein jämmerlicher Hund. Zunächst schrie er mich an, doch seine Worte reichten nicht mehr aus, um zu mir durchzudringen. Ich war bereits wieder zur Fratze meines Gegners erstarrt. Ich schaute ihn mit meinem toten Blick an oder starrte auf den Boden und war dabei so provozierend wie das rote Tuch eines Stierkämpfers. Vor einem knappen Jahr hatte uns Paulina in ähnlichen Situationen immer auf die gleiche Weise angesehen, die deutlich machte, dass sie selbst als Mensch und als Seele nicht mehr anwesend war. Damals hatte es mich rasend gemacht und dieses Mal war die Fratze bei mir noch viel schlimmer. Hätte Paulina damals wirklich so geschaut wie ich heute, hätte ich sie ohne jeden Zweifel geschlagen. Und auch Heiko konnte nun nicht anders, als genau das zu tun. Ich wusste nicht warum, aber ich bettelte förmlich darum. Ich fühlte mich selbst so jämmerlich und so elendig, dass ich verprügelt werden wollte. Egal was ich von nun an tat oder sagte, mein Verstandesgegner hatte meinen Handlungsspielraum so weit eingefroren, dass ich nur noch provozieren konnte. Ich hasste mich selbst so abgrundtief, dass mir dieser Hass einfach gespiegelt werden musste. Es ging überhaupt nicht anders und wenn Heiko in diesem Moment nicht nach mir geschlagen und getreten hätte, dann hätte er damit gegen jedes Gesetz des Universums verstoßen, das es gibt. Jeder andere Reisegefährte hätte mich in dieser Situation wahrscheinlich krankenhausreif oder tot geschlagen und es wäre vollkommen gerechtfertigt gewesen. Ich selbst, wenn ich aus meinem Körper hätte heraustreten und mir als zweite Person begegnen hätte können, hätte mich auf jeden Fall umgebracht. Und dass nicht nur vielleicht, sondern mit 100%iger Gewissheit.

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Ich hätte auf mich eingeprügelt, bis nur noch Knochensplitter und Schleim von meinem Körper übrig gewesen wären. Nicht, weil die Datei mit dem Buch nicht mehr funktionierte, sondern weil in diesem zerstörten Worddokument symbolisch die ganze Summe meiner seelischen Selbstzerstörung lag. Es wurde wie zu einem Talisman, der in einem einzigen Beispiel aufzeigte, was ich mir bereits mein ganzes Leben lang antat. Und wer bereit war, 30 Jahre lang seine eigene Seele zu verkaufen, zu zerstückeln, zu vergewaltigen, sie mit Füßen zu treten und immer wieder einen großen, schleimigen Haufen darauf zu scheißen, der hatte es auch nicht verdient, weiterzuleben. Hinzu kam, dass ich mich auch noch dafür hasste, dass ich Heiko das Leben schwer machte. Ich war nicht nur zu nichts zu gebrauchen, ich machte auch noch alles kaputt. Ich hatte keine Ahnung, wie ich jemals der Schöpfung dienen sollte, da ich ja ohnehin nie einen Fortschritt machte. Seit Jahren drehte ich mich nun schon im Kreis und kam keinen Schritt weiter. Ich war ein hoffnungsloser Fall und dafür hasste ich mich gleich noch mehr. Das Beste war es, wenn ich einfach von irgendeiner Klippe sprang und diesem elendigen Dasein, das nie ein echtes Leben war, endlich ein Ende bereitete. Damit tat ich der Welt dann zumindest zum ersten Mal einen Gefallen. Wenn ich schon nichts brachte und eine vollkommen unnütze und sinnlose Existenz führte, dann konnte ich wenigstens damit aufhören andere herunterzuziehen. Als Toter konnte ich dann zumindest nichts mehr falsch machen. Das krasse in diesem Moment war jedoch, dass ich tatsächlich für einen kurzen Augenblick keine Angst vor dem Tod, dafür aber vor der Wiedergeburt hatte. Sobald der Gedanke an Selbstmord in mir aufkam, kam auch der Gedanke hinzu, dass ich damit ja nichts ändern würde. Ich würde nur aus diesem in ein neues Leben flüchten und dort noch einmal den gleichen Weg gehen müssen, auf dem ich dann aber noch mehr Druck bekam um endlich ins Lernen und ins Erwachen zu kommen. Ich kam ja schließlich jetzt schon nicht klar, wie sollte es also erst nach einem Selbstmord aussehen? Wie ich es auch drehte, es gab keinen Ausweg. Ich war in dieser Situation gefangen und kam nicht vor und nicht zurück. Heiko wusste, dass in diesem Moment nur noch mein Gegner anwesend war, der mich mit seinen Gedankenschleifen gefangen hielt. Natürlich war er sauer, weil er nun wieder einen kompletten Nachmittag darauf verwenden musste, Arbeiten zu erledigen, die er längst abgeschlossen hatte und ein großer Teil seiner Wut kam wirklich aus seinem eigenen Gefühlsgeflecht heraus. Der wesentlich größere jedoch kam aus seinem Heiler- und Mentorbewusstsein. Er wusste, dass ich nur aufwachen und zurück ins Leben finden konnte, wenn mein Leidenskörper größer wurde, als der Angstkörper meines Verstandesgegners. Als er also auf mich einschlug und gegen meinen seelenlosen Körper trat, tat er dies nicht unkontrolliert und in blanker Rage. Er wusste aus seinen Kampfsporterfahrungen noch immer ganz genau, wo er mir Schmerzen zufügen konnte, ohne mich dabei zu verletzen. Und er wusste auch, wie viel Schmerz ich benötigte, um ins Erwachen kommen zu können. Doch dieses Mal war mein Hass so groß, dass die Schläge und Tritte zunächst nicht ausreichten, um die Situation aufzulösen. Auch die Wut, die aus Heikos Gefühlsgeflecht kam, war dieses Mal größer, als das, was er mir zumuten wollte, um nicht aus versehen doch noch eine ernsthafte Verletzung zu provozieren. So brach er nach einigen Minuten ab und ging eine Runde spazieren, um wieder einen klaren Kopf zu erhalten. Ich selbst zog mich in die kleine, leerstehende Hütte zurück, in der ich mich zuvor eigentlich an den Text hatte machen wollen. Hier saß ich nun bedröppelt wie ein Schluck Wasser in der Kurve und versank in einer Mischung aus Selbstmitleid, Selbstverachtung und vollkommener Gefühlsleere. Ich war wie tot und starrte nur noch auf die Wand, während die Gedanken in meinem Kopf immer in den gleichen unnützen Schleifen kreisten. Schließlich kam Heiko von seiner Wanderung zurück und setzte sich auf den Sims der leeren Fensteröffnung. „So kann es nicht weiter gehen!“ sagte er, „Wir machen uns nur noch gegenseitig kaputt und das werde ich nicht länger akzeptieren! Wie stellst du dir das vor? Was willst du jetzt machen? Du kannst doch nicht alles was wir aufbauen immer wieder zerstören!“ Ich war noch immer apathisch und antwortete mit dem gleichen Satz, den ich in diesen Situationen immer als einzigen über die Lippen brachte: „Ich weiß es nicht! Ich habe keine Ahnung!“

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Am liebsten wäre es mir gewesen, wenn ich vollständig aus dem Buchprojekt ausgestiegen wäre, so dass ich nichts mehr hätte kaputt machen können. Ich konnte mich erst einmal wieder an die Tagesberichte setzen und vielleicht fiel mir ja mit der Zeit eine Lösung ein, mit der wieder Harmonie, Freude und Leichtigkeit in unserer Zweiergruppe entstehen konnten. Da ich keinerlei Zugang zu meinen Gefühlen, geschweige denn zu meiner Intuition hatte, war der einzige Weg, herauszufinden, was der richtige Schritt war, der Muskelreflexionstest. Ich war mir zu 100% sicher, dass mein höheres Selbst der Ansicht war, dass ich einfach aus dem Buchprojekt aussteigen und die Finger davon lassen sollte. Und dieser Gedanke fühlte sich unglaublich befreiend und erleichternd an. Es war der Weg, den ich immer ging, wenn es schwer wurde und ich kannte ihn bereits als leichten, angenehmen Ausweg: Einfach aufgeben! Einfach alles hinwerfen und mich in meiner Nutzlosigkeit suhlen. Doch meine Muskeln sagten nein. Klar hatte ich in den letzten Wochen mehr kaputt gemacht, als erschaffen und das ungefähr in einem Verhältnis von 10:1 und doch war meine Arbeit in diesem Zusammenhang aus irgendeinem Grund wichtig und noch lange nicht erledigt. Als ich das erfuhr, brach die Maske der Gefühlslosigkeit in sich zusammen. Solange ich glaubte, einfach aufgeben zu können, war die Situation für mich noch handlebar. Nun aber wurde klar, dass ich mich nicht einfach aus der Affäre ziehen konnte. Ich musste eine Lösung finden, wie ich produktiv werden konnte und ich konnte einfach nicht daran glauben, dass mir dies jemals gelingen konnte. Mit einem Mal überschwappte mich eine Welle der Verzweiflung und der Hoffnungslosigkeit. Bis zu diesem Moment, hatte der Selbsthass in mir geschwelt, doch nun entzündete er sich und brannte in einer leuchtenden Flamme der Wut auf. Mein Gegner konnte diesen Gefühlswall nun nicht länger unterdrücken und zurückhalten. Ich schrie und heulte, schlug auf den Boden und auf die Steinwand in meinem Rücken ein, schlug mich selbst mit den Fäusten, prügelte auf meinen Kopf ein und schlug meinen Kopf gegen die Wand. Es war noch immer nur ein kleiner Teil der Gefühle, die in mir schlummerten, der hier zum Vorschein kam, aber es war immerhin ein Teil. Mein Verstandesgegner kämpfte mit aller Macht, um wieder die Oberhand zu gewinnen und die meiste Zeit gelang es ihm auch, meinen Gefühlsausbruch zumindest teilweise einzudämmen und nicht seine volle Kraft zuzulassen. Doch einige Male, als ich mich selbst besonders hart am Kopf traf und als ich mit dem Kopf gegen die Wand hämmerte, musste er aufgeben. Er verschwand vollkommen und für einen kurzen Moment wurde ich authentisch und war rein im Fühlen. Dann boxte er sich wieder nach oben und eroberte langsam die Führung zurück, so dass ich immer mehr an Fassung gewann und schließlich ruhig wurde und nur noch heulte wie ein Schlosshund. Doch zum ersten mal, hatte ich es geschafft, meinen Selbsthass zuzulassen und ihn wirklich zu fühlen.

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„Warum hasst du dich eigentlich so sehr?“ fragte Heiko. Bislang hatte ich auf diese Frage nie eine Antwort gehabt, doch nun begann ich es zu verstehen. Ich hasste mich, weil ich einfach nicht ich selbst war. Ich hasste es, eine Maske zu sein, ein Robotter, ein Klassenclown, der es allen Recht machen wollte und dabei auf sich selbst schiss wie auf ein Dixiklo. Mein inneres Kind hasste mich dafür, dass ich ein elender Feigling war und in meinem ganzen Leben noch nie für es eingestanden war. Ich hatte mein inneres Kind noch nie gefragt, was es brauchte um sich sicher zu fühlen und um frei sein zu können. Ich hatte es ignoriert und unterdrückt und stattdessen immer nur gefragt, wie andere mich haben wollten. Dafür hasste ich mich. Ich hasste mich, weil ich nur mein Verstandesgegner war und keine Gefühle hatte, weil ich jeden Tag und jede Minute aufs neue meine innere Stimme ignorierte und gegen mich handelte, weil ich mich 30 Jahre lang selbst vergewaltigt und verstümmelt hatte, bis nichts mehr von mir übrig war, weil ich ein Energieräuber, ein Egomane und ein Parasit war, der niemandem nützte oder half, der vollkommen sinnlos die Luft auf dieser Erde verbrauchte und weil ich nichts von dem war, was ich zu sein glaubte. Dieser Tobias Krüger, dessen Namen ich trug und in dessen Rolle ich nun seit fast 31 Jahren durch die Welt wanderte, war einfach nicht ich. Er war eine Puppe, die meine Mutter in Form meines inneren Gegners erschaffen hatte, die stets versuchte zu funktionieren, die aber keine eigene Seele und keine eigene Persönlichkeit mehr hatte. Doch meine Seele war nicht weg. Sie steckte noch immer in mir und ich konnte auch noch immer fühlen, wer ich wirklich war. Und aus diesem Grund hasste ich mich. Wäre ich vollkommen tot, hätte ich ja ohne Probleme mein Dasein als Marionette fristen können, ohne jemals zu merken, dass es nicht echt war. Doch ich merkte es. Es war mir in jeder Sekunde vollkommen bewusst und dennoch konnte ich es nicht ändern, weil es mir noch immer wichtiger war, so zu sein, wie andere und vor allem meine Mutter mich haben wollten. Ich fühlte, wer ich bin und es war auch in meiner Aura erkennbar, aber ich konnte es einfach nicht zulassen. Als ich Heiko vor sechs Jahren das erste Mal begegnet war, hatte er es, anders als ich selbst, bereits sehr deutlich sehen können. Damals hatte er mir gesagt: “Tobi, du trägst auch eine ordentliche Kraft in dir! Nur wie du sie jemals erkennen und erwecken willst, das ist mir noch nicht so ganz klar! Da kommt auf jeden Fall noch einiges auf dich zu!” Wie immer hatte er damit vollkommen Recht gehabt. Und nun war der Punkt gekommen, an dem ich mich entscheiden musste, ob ich mich weiterhin hinter meiner Frazenmaske verstecken wollte, oder ob ich nun bereit war, endlich ich selbst zu werden. Das, was mich bislang davon abgehalten hatte, war die Angst vor dem Tod. Denn auch wenn ich diesen Tobias Krüger in Form des Maskenzombies hasste, hatte ich mich doch schon so sehr an ihn gewöhnt, dass ich ihn einfach nicht loslassen konnte. Einer der zentralen Glaubenssätze, die seit meienr Kindheit in mir steckten lautete: “Ich werde nur dann geliebt, wenn ich genauso bin, wie mich meine Eltern haben wollen, also so, wie ich jetzt bin. Ich darf mich also niemals wandeln oder verändern, denn wenn ich das tue, finden sie mich komisch und lieben mich nicht mehr!” Dieser Glaubenssatz, der sich ja später auch tatsächlich bewahrheiten sollte, hatte dazu geführt, dass ich niemals wirklich etwas lernen und mich nie wirklich entwickeln konnte. Denn bei allen Wandlungen, die ich anstrebte, musste ich doch stets immer der gleiche, kleine, hilflose Tobi sein, der seiner Mutter aufs Wort folgte. Eine langsame Entwicklung, Schritt für Schritt als Tobias Krüger war also für mich nicht möglich. Es gab keine Treppe, die langsam und gemütlich hinunter ins Meer der Freiheit führte. Es gab nur eine Klippe und die konnte ich entweder hinunterspringen oder eben nicht. Viele Jahre lang war ich nicht gesprungen und dann hatte ich genau das getan, was ich vor einem Jahr Paulina erklärt hatte. Ich war gesprungen, aber so voller Angst, dass ich den Sprung sofort wieder zurückzog, mich an einer Wurzel festkrallte und mit voller Wucht gegen den Felsen prallte. Dort baumelte ich nun noch immer und wunderte mich allen Ernstes, warum mein Leben plötzlich immer anstrengender und schwieriger wurde. Ich steckte in einem permanenten Todesangstkonflikt, weil ich weder zurück an Land klettern konnte, noch den Mut hatte, loszulassen und mein altes ich sterben zu lassen. Doch genau das musste geschehen. Wenn ich jemals frei und ich selbst sein wollte, dann musste Tobias Krüger sterben. Wie eine Schlange musste ich die alte Maskenhaut abstreifen und hinter mir lassen um als ein neuer Mensch wiedergeboren werden zu können. Alles, was ich zuvor war oder zu sein glaubte musste weg. Ich musste es komplett loslassen, um wieder frei für etwas neues zu sein. Wenn sich Tobias Krüger nicht entwickeln konnte, weil er Angst hatte, dann zu sterben, dann musste er eben sterben. Dies wurde mir nun zum ersten Mal wirklich bewusst. Die Frage, die jedoch noch immer in meinem Kopf herumspukte lautete: “Wie zur Hölle soll ich das machen?” Wie kann ich mein altes Maskendasein sterben lassen und als mein wahres ich wiedergeboren werden? Und vor allem, wie kann ich es WIRKLICH tun, ohne dabei wieder einmal von meinem Verstand verarscht zu werden und nur zu glauben, dass ich es machte, während ich in Wahrheit noch immer der alte feige Tobias blieb.

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“Darüber brauchst du dir schonmal keine Sorgen zu machen!” beruhigte mich Heiko. Du merkst ja, wie viel Druck du bereits jetzt bekommst. Wenn du in die alten Muster zurück verfällst, dann bekommst du eben einfach noch mehr Druck und dann schnallst du es schon!” Das beruhigte mich tatsächlich. Doch noch immer stand die Frage im Raum, wie ich mein altes Ich sterben lassen konnte. Was dies anbelangte war Heiko ebenso ratlos wie ich und so warf er flappsig den Spruch in den Raum: “Soll ich dir dazu jetzt etwa alle Haare ausreißen oder was?” Es war eindeutig als Scherz gemeint, doch da ich auch keine bessere Idee hatte, hielt ich ihm meine Hand hin und meinte: “Wenn es hilft, bin ich dabei!” Er drückte gegen meine Muskeln und zu unserer beider Überraschung sagten sie “Ja!” Wie bitte? Mir sollten wirklich alle Haare ausgerissen werden? “Ja!” sagten die Muskeln erneut. Es sollte ein Ritual sein, dass einen klaren Anfang meines neuen Lernweges darstellte. Kein Initiationsritual in dem Sinne, dass ich nun eine neue Stufe meiner Entwicklung erreicht hatte, sondern ein Eröffnungsritual, das zeigte, dass ich nun endlich bereit war, mit einem Weg zu beginnen, mit dem ich eigentlich bereits als Kind hätte anfangen sollen. Und dieses Ritual sollte genau hier und jetzt stattfinden. Hinter unserem Zelt gab es eine Wiese mit einem kleinen, kränklichen Baum darauf, der zum Teil in seiner Kraft stand, zum Teil aber auch abgestorben und tot war, so dass nur noch die leeren Äste, also die körperliche Hülle seines Seins übrig war. Dieser Baum war er perfekte Spiegelpartner für meine eigene Situation und so wurde er nun zum Zentrum des Kraftplatzes, an dem wir mein Eröffnungsritual durchführten. Wir stellten uns so hin, dass sich der Baum in unserem Rücken befand und schauten in die Ferne. Als Heiko mich aufforderte, die Hüter des Ostens einzuladen, begann ich mit einer üblichen Einladungsrede, die ich auch bei den Seminaren oft vorgetragen hatte. Sofort bekam ich einen Schlag von Heikos flacher Hand in die Seite, der mich zusammenzucken ließ. “Nicht so eine schwule Scheiße!” sagte er, “wenn wir das hier machen, dann machen wir es auch richtig. Sei also bitte authentisch, wenn du die Hüter einlädst und lade sie wirklich ein, anstatt nur eine Show abzuziehen, die niemandem etwas bringt!” Ich richtete mich wieder auf, blickte in die Ferne und atmete tief ein und aus. Langsam aber sicher kam nun ein Gefühl in meinem Solarplexus auf, das mich mit den Geisthütern verband. Ich stand noch immer schweigend da, doch offensichtlich hatte sich dadurch in meiner Ausstrahlung etwas verändert, denn nun sagte Heiko: “Genau! Jetzt spürst du es! Jetzt bist du langsam da, wo du sein willst!” Meine Worte waren nun nicht mehr gewählt und flüssig, sondern eher holprig und stockend, doch dieses Mal spürte ich das, was ich sagte. Ich lud Mutter Erde ein, mir bei meinem Wiedergeburtsritual zu helfen, Vater Universum, den ganzen Kosmos, Gott, die Geisthüter. Ratsch! Als ich meine Einladung ausgesprochen hatte, riss Heiko mir einen ersten Büschel Haare vom Kopf. Ich spürte ein scharfes Brennen und Ziehen auf der Kopfhaut und zuckte erschrocken zusammen, da ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht damit gerechnet hatte. Doch Heiko wäre nicht der Coyote, der er ist, wenn er berechenbar wäre. Vor allem, was Rituale anbelangt. Und für mich war es wichtig, dass ich nicht wusste, was passiert, denn nur so, konnte mein Verstand überlistet und umgangen werden, der bereits wieder versuchte, sich auf alles einzustellen und das Ritual zu einem intellektuellen Erlebnis zu machen. Wir wechselten den Standort und ich ging barfuß über die stachelige Wiese zur nächsten Seite des Baumes. Hier galt es nun, das alte loszulassen, das in diesem Ritual sterben sollte: Meinen Verstandesgegner, mein Angstgefängnis, mein... Pock! Heiko holte aus und Schlug mir mit dem Handballen gegen den Solarplexus. Sofort blieb mir die Luft weg und ich sackte röchelnd auf dem Boden zusammen.

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“Da sitzt es!” sagte er dabei, “Dein Angstgefängnis. Spürst du es? Spürst du warum du es loslassen willst? Spürst du, wie es dir die Luft zum Atmen nimmt und verhindert, dass du in deine Kraft kommst?” Ich spürte es, aber antworten konnte ich in diesem Moment noch nicht. Heiko half mir auf und drückte meine Hände nach hinten, um meinen Brustkorb zu weiten und mir so das Atmen wieder zu erleichtern. Ja, ich spürte es, und wie ich es spürte! Diese Freiheitseinschränkung musste weg, daran bestand nun kein Zweifel mehr! Ratsch! Wieder hatte Heiko einen Büschel meiner Haare in der Hand. Der Schmerz selbst war nicht übermäßig stark, und doch übermannte er mich so, dass ich sofort zu Heulen begann. Vor uns im Himmel formten die Wolken ein Gesicht, das aussah wie eine angstverzerrte Fratze. Wie meine angstverzerrte Fratze! Die Natur war also bei meinem Ritual dabei und hieß es gut. Weg mit der Fratze! Lass sie los! Lass sie sterben! Ratsch! Ein weiteres Büschel Haare flog davon und weiter ging es zur nächsten Seite des Baumes. Hier ging es nun darum, all die alten eingeschliffenen Angewohnheiten loszulassen. Meine Feigheit, meine Harmoniesucht, mein Gefallenwollen, meine Selbstverleumdung, meine Anerkennungssucht, meine Angewohntheit, mich tot zu stellen, mir alles gefallen zu lassen und alles über mich ergehen zu lassen, als ginge es mich nichts an. Ratsch, Ratsch, Ratsch! Bei jeder einzelnen Angewohnheit riss mir Heiko ein Büschel Haare aus. Wieder wechselten wir die Seite und dieses Mal ging es darum meinen Verstand loszulassen und endlich ins Fühlen zu kommen. Die Gefühle, die mir zeigten, wer ich war und wohin mich mein Weg führen sollte, waren die ganze Zeit in mir. Nun war es an der Zeit, sie auch zuzulassen, wahrzunehmen und ernst zu nehmen. Mit einem erneuten Ratsch riss Heiko weitere Haare aus meinem Kopf und anschließend kehrten wir zu dem Platz vor dem Baum zurück, an dem wir gestartet waren. Hier ging ich auf die Knie und Heiko begann nun, systematisch mir Büschel für Büschel die Haare vom Kopf zu reißen. Ich kniete auf der Wiese und heulte wie ein Schlosshund. Teilweise vor Schmerz und weil ich glaubte, dass Heiko mir nicht nur die Haare, sondern auch meine Kopfhaut herunterriss. Vor meinem inneren Auge sah ich bereits, wie mir die Haut in blutenden Fetzen vom Schädel hing. Erst nach dem Ritual erfuhr ich, dass ich kein einziges Mal auch nur ein bisschen blutete. Meine Kopfhaut ließ einfach los und trennte sich von meinen Haaren, ohne sie behalten zu wollen. Und genau so wie meine Kopfhaut meine Haare gehen ließ, spürte ich, dass auch ich mit jedem Büschel einen Teil von mir losließ. Die Tränen, die mir über das Gesicht rannen, waren nur zu einem kleinen Teil Tränen des Schmerzes. Zu einem wesentlich größeren Teil waren es alte Tränen, die schon vor langer Zeit hätten geweint werden sollen. Es war, als würde mir mit den Haaren auch alles andere herausgerissen, von dem ich mich auf der Verstandesebene vor langer Zeit getrennt hatte, ohne dass diese Trennung jedoch jemals bei mir auf der Gefühlsebene angekommen war. Meine alten Beziehungen, die Freundschaften, die im Sande verlaufen waren und vieles mehr. Aber auch meine Familie, meine Maske, mein altes Leben und meine Konzepte davon, wer ich bin oder sein sollte. Zum ersten Mal spürte ich wirklich die Trauer darüber, ein Waise zu sein. Bislang war es mir vom Verstand her bewusst gewesen, doch wirklich gefühlt hatte ich es nie. Ich hatte keinen Kontakt zu meinen Eltern, das war offensichtlich, doch darüber hinaus war noch nichts bei mir angekommen. Nun spürte ich zum ersten Mal, dass ich keine Eltern mehr hatte und auch nie wieder haben würde. Das war in Ordnung und richtig, aber es war auch etwas, über das man trauern durfte. Ebenso trauerte ich über den Tod meines alten Ichs. Natürlich war es eine Maske und doch hatte mich diese Maske als Kind vor dem Tod gerettet. Die Welt verschwamm hinter dem Tränenschleier und unter den Schmerzen. Teilweise wurde ich ruhig und mein Verstand kam wieder an die Oberfläche. Sobald Heiko dies merkte, riss er rabiater und brachte mich durch den aufflammenden Schmerz wieder ins fühlen zurück. Bereits hier wurde deutlich, dass sich mein Verstand nur durch intensiven Schmerz wirklich ausschalten ließ. Eine Erkenntnis, auf die wir später noch einmal zurückkommen würden. Ich schlug erneut auf den Boden, Schluchtzte, Schrie und wand mich. Und irgendwo unter all diesen Gefühlen begriff ich zum ersten Mal wirklich, dass alles nur eine Illusion ist.

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Schließlich begann doch etwas Blut zu fließen, aber nicht von meinem Kopf, sondern von Heikos Fingern, denn meine Haare schnitten zum Teil tief in sie ein. Für ihn war das Ritual also nicht viel weniger Schmerzhaft als für mich. Um überhaupt noch weiter machen zu können, nahm er schließlich die Zange unseres Multitools zur Hilfe. Hin und wieder begann ich mitzumachen und mir meine Haare selbst vom Kopf zu reißen. Für einem Moment glaubte ich, dass ich den Rest meiner Haare nun selbst entfernen könnte, doch als Heiko andeutete, dass er dann eine Pause machen und zurück zum Zelt gehen würde, war mir sofort klar, dass ich es nicht schaffen würde. “Ich schaffe es nicht alleine! Ich brauche deine Hilfe!” schluchtze ich und meinte damit nicht nur meine Haare, sondern meine Lebenssituation im Allgemeinen. Bislang hatte ich immer geglaubt, dass ich kein Recht hatte, andere um Hilfe zu bitten und dass ich meinen Lebensweg irgendwie alleine Meistern musste. Nun wurde mir klar, dass dies unmöglich und auch vollkommen unnötig war. Ich war kein einzelnes Individuum, dass für sich alleine gegen das Leben kämpfen musste. Dies war nur das, was mein Ego glaubte und mir einredete. Doch in Wirklichkeit war ich mit allem eins und alles war ein Teil von mir. Also konnte ich auch von allem Hilfe annehmen. Heiko riss und rupfte weiter, bis fast keine Haare mehr übrig waren. Der letze Rest wollte sich auf diese Weise einfach nicht mehr entfernen lassen, da er zum Teil sehr kurz abgerissen war. Also griffen wir zu herkömmlicheren Methoden der Haarentfernung und rasierten den Rest ab. Da saß ich nun und fühlte mich wie ein leeres Blatt mit schmerzender Kopfhaut. Tobias Krüger war gestorben. Nicht nur mein altes Masken-Ich, sondern auch mein alter Name. Ich war nun also ohne Haare, ohne Namen, ohne Familie. Später testeten wir noch etwas mehr aus und bestätigten damit einige Vermutungen, die ich tief in meinem Inneren bereits gespürt hatte. Mit meinem Tod als Tobias Krüger starb nicht nur endgültig der Kontakt zu meinen Eltern, sondern zu meiner ganzen Familie, also auch zu meiner Schwester, meinen Tanten, Onkels und allen, die sonst noch dazu gehörten. Ich war also gewissermaßen entwurzelt und konnte nun neu austreiben und neue Wurzeln fassen. Nur wenige Tage zuvor hatte ich eine Mail von meiner Schwester bekommen, in der sie von ihrem Urlaub und ein wenig auch aus ihrem Alltag erzählte. Die Mail an sich war zwar nicht besonders persönlich oder verbindend, aber auch nicht negativ, sondern relativ neutral, so wie unser Kontakt in der letzten Zeit oder eigentlich sogar schon seit Ewigkeiten immer war. Doch eine Sache an dieser Mail hatte mich tief betroffen gemacht. Über den Umweg über meine Schwester ließ mir meine Mutter in dieser Mail mitteilen, dass sie von nun an nicht mehr damit einverstanden war, dass meine Post zu ihr nach hause gesendet wurde. Ihre Psychologin hatte ihr geraten, alles abzuschalten, was sie an mich erinnerte. Zunächst hatte ich mich tierisch darüber aufgeregt, wie eine Psychologin so etwas absurdes raten konnte, doch nun wurde mir klar, dass es dabei genau um den gleichen Schritt ging, den nun auch ich gegangen war. Ich war gestorben, nicht nur für mich selbst, sondern auch für sie. Und damit war es von nun an nicht mehr in Ordnung, wenn meine Post noch bei ihr ankam.

Was mich daran jedoch wirklich betroffen machte war nicht die Aussage meiner Mutter, sondern die darin verborgene, indirekte Aussage meiner Schwester. Vor mehr als zwei Monaten hatten wir miteinander telefoniert und dabei zum ersten Mal in unserem Leben ein wirklich klärendes Gespräch geführt. Seither hatte ich nichts mehr von ihr gehört und es war ein bisschen, als würde sie überhaupt nicht existieren. Nun kam wieder eine Mail, aber nur deshalb, weil meine Mutter sie beauftragt hatte, mir etwas mitzuteilen. Gab es also wirklich einen Bezug zu mir, oder hielt sie den Kontakt aus reiner Höflichkeit und schwesterlichem Pflichtbewusstsein aufrecht? Wenn ich jedoch ehrlich zu mir selbst war, dann stellte ich fest, dass es mir selbst nicht anders ging. Auch ich hatte keinen wirklichen Bezug mehr zu ihr und schrieb meist, weil ich das Gefühl hatte, ihr schreiben zu müssen, da es sich als guter Bruder nun einmal so gehörte. Doch ein energiebringender, bereichernder Kontakt war es nicht und ein ehrlicher schon gleich gar nicht. Jetzt zu erfahren, dass ich den Kontakt endgültig abbrechen sollte, um wirklich ins Leben kommen zu können, fühlte sich hart an, doch es kam nicht überraschend. Der Kontakt, um den ich trauerte, existierte schon längst nicht mehr oder hatte wahrscheinlich nie existiert. Tatsächlich hatten wir bereits schon vor einiger Zeit über den Muskeltest herausgefunden, dass ich in meinem ganzen Leben so gut wie keinen wirklich nährenden Kontakt zu jemandem in meiner Familie hatte. Es gab viele lehrreiche Situationen und der Kontakt war wichtig gewesen, um mich überhaupt auf den Weg machen zu können, doch es hatte so gut wie nie etwas energetisierendes, bereicherndes gegeben, durch das ich wirklich hätte wachsen können. Der einzige Energie bringende Moment, den ich mit meiner Schwester hatte, war bei dem klärenden Telefonat über die Situation mit meinen Eltern. Ansonsten waren alles Beziehungen reine Masken- und Ego-Beziehungen, bei denen es nicht um eine Verbindung zwischen unseren Seelen ging, durch die wir gemeinsam mit- und aneinander wachsen konnten, sondern nur um das wahren des äußeren Scheins und um die Befriedigung eigener Bedürfnisse. Die Kernmotivation, auf der wir unsere Beziehungen aufgebaut hatten, war nicht die Freude an der Gemeinsamkeit und die Liebe zu einander, sondern die Angst davor, alleine zu sein. Dies war auch kein Wunder, denn ich selbst hatte ja stets als Ego-Mensch und Energieparasit gelebt, was also hätten mir meine Spiegelpartner in Form meiner Familie spiegeln sollen? Wir waren wie eine Horde Vampire, die stets versuchte, sich gegenseitig auszusaugen. Gleichzeitig mussten aber auch alle immer so tun, als wären si glücklich, zufrieden und vollkommen erfüllt, so dass wahre Gefühle keinen Platz hatten. Der Kontakt zu meiner Familie, war also stets nur der Kontakt vom Masken-Tobi zu anderen Maskenbildern gewesen. Warum also sollte ich mich weiter daran festklammern? Das gleiche wie für meine Familie galt auch für meine alten Freunde. Auch zu ihnen hatte ich längst keinen echten Kontakt mehr und da ich in meinem Leben noch nie wirklich authentisch war, hatte es auch nie einen wirklich ehrlichen, energiegebenden Kontakt gegeben. Natürlich waren es gute Freunde und in der Phase meines Lebens, in der die Freundschaften aktiv waren, hatte ich gerne Zeit mit ihnen verbracht. Es gab unglaublich viel, wofür ich ihnen dankbar war und ohne sie hätte ich meine Schulzeit und meine Jugend wahrscheinlich nicht einmal überstanden. Doch auch ihnen gegenüber fühlte ich mich verpflichtet, der zu bleiben, als den sie mich kennengelernt hatten. Auch hier spielte ich stets die Rolle des Masken-Tobis und so war es nicht weiter verwunderlich, dass selbst bei meinen besten Freunden kaum ein nährender Kontakt stattgefunden hatte. So wie ich auf der einen Seite stets als Energie-Vampir gelebt hatte, hatte ich mich auf der anderen Seite auch stets als Kraftakku zur Verfügung gestellt. Und diese Art des Kontaktes war eine der Fesseln, die mich in meinem alten Leben festhielten. Als ich versuchte, das Buch zu schreiben, waren es auch ihre kritischen Stimmen in meinem Kopf, die mich davon abhielten und mir sagten: “Das kannst du nicht bringen! Du bist doch vollkommen verrückt!” Auch diese Stimmen hielten mich also noch immer davon ab, authentisch und ich selbst zu sein. Tatsächlich fand der Kontakt, den wir seit meinem Reisebeginn hatten, fast nur noch in meinem Kopf statt, denn schreiben oder telefonieren taten wir so gut wie nie. Wenn wir jedoch den Kontakt hielten, dann blieb dieser fast immer an der Oberfläche, also auf der Ebene von Smalltalk, der niemandem etwas nützte, außer dass er einem die Zeit vertrieb, wenn einem langweilig war. Im Umkehrschluss bedeutete dies, dass es Beziehungen waren, durch die wir uns gegenseitig von unserem Lebensweg ablenkten und abhielten, anstatt uns weiterzuhelfen und gegenseitig bei den nächsten Schritten zu unterstützen. Solche Beziehungen hatten nun in meinem Leben keinen Platz mehr. Wenn es einen Kontakt zu Freunden gab, egal ob alten oder neuen, dann musste es ein nährender, bereichernder, ehrlicher und tiefer Kontakt sein. Oder eben überhaupt keiner.

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Für die nächsten Tage blieb ich erst einmal Namenlos. Tobias Krüger fühlte sich für mich nun nicht mehr richtig an, aber ich spürte auch, dass ich mir meinen neuen Namen nicht einfach ausdenken konnte. Er würde zu mir kommen, wenn es an der Zeit war. Und genau so war es schließlich auch. Zu meiner vollkommenen Überraschung sorgte dieser Name dann dafür, dass plötzlich alles einen Sinn machte. Bis zu diesem Zeitpunkt, war es, als würden lauter einzelne Puzzleteile in einen Raum geworfen, die sich zwar alle stimmig anfühlten, die aber kein schlüssiges Bild ergeben wollten. Erst der Name war das Bindestück, das alles zusammenfügte. Da ich noch immer keinen Bezug zu meinen Gefühlen hatte und auch weder eine Eingebung im Traum noch durch meine Intuition bekam, testeten wir uns nach einigen Tagen durch den Muskelreflexionstest an die Sache heran. “Kenne ich den Namen bereits?” JA “Ist er auf dieser Reise schon gefallen?” JA “Ist er in den letzten Tagen gefallen?” NEIN “Kommt er aus dem Indianischen?” NEIN “Hat er etwas mit dem Glauben und meiner Rolle auf dieser Reise zu tun?” JA Schließlich hatten wir es soweit eingekreist, dass nur noch ein Name übrig blieb: Franziskus bzw. Franz oder Francesco, nach dem heiligen Franz von Assisi. Plötzlich ergab alles einen Sinn. Seit ich ein kleines Kind war, hatte ich gespürt, dass ein Leben in der Gesellschaft so wie es bei uns normal war nichts für mich ist. Ich wollte nie etwas mit Geld zu tun haben und war der festen Überzeugung, dass ich es nicht brauchte. So lange, bis mich mein Gegner vom Gegenteil überzeugte. Auf der Obdachlosentour hatte ich dann zum ersten Mal wieder festgestellt, dass ich als Kind recht hatte. Man konnte durchaus ohne Geld leben und es war ein befreiendes Gefühl. Seit unserem Reisebeginn zogen wir dies ja ebenfalls recht konzequent durch und das mit großen Erfolg. Ich führte nun also bereits seit zweieinhalb Jahren das Leben eines Bettelmönchs, so wie es Franziskus vorgeschlagen hatte, ohne dass es mir so recht bewusst war. Vor genau zwei Jahren hatte ich dann herausgefunden, dass ich wie ein Mönch im Zölibat leben sollte. Eine Entscheidung, die der heilige Franziskus ebenfalls für sich getroffen hatte und die er den Rest seines Lebens durchhielt, obwol er in der heiligen Klara eine Verehrerin hatte, die ihm auch auf der körperlichen Ebene nur zu gerne Näher gekommen wäre. Dennoch haben sich beide dafür entschieden, eine sehr intime, sehr intensive und sehr nahe, aber rein platonische Beziehung zu führen. Als wir auf unsere Weltreise aufbrachen, haben wir uns dann ohne so recht zu wissen warum, gleich von Anfang an als Mönche vorgestellt. Um nach Essen, Wasser und Schlafplätzen zu fragen haben wir zunächst gesagt: “Wir reisen WIE Mönche um die Welt.” Dann wurde daraus ein “Wir reisen ALS Mönche” und später sagte ich immer “Wir sind zwei Mönche, die um die Welt reisen”. Warum sagte ich dies? Weil es sich für mich genau so anfühlte. Wir haben auf unserer Reise nun schon unzählige Klöster und auch Mönche kennengelernt und je mehr wir von ihrem Leben mitbekamen, desto mehr kam in uns das Gefühl auf, dass wir selbst bedeutend mehr Mönch waren, als nahezu jeder Mönch, den wir auf dem Weg trafen. Auch dies war eine Erfahrung, die Franziskus ebenfalls gemacht hatte. Als er sich entschloss, ein Leben als Mönch zu führen, entschied er sich ganz bewusst dagegen, in einen bereits vorhandenen Orden einzutreten. In seinen Augen waren alle ihm bekannten Orden vollkommen korrupt und hatten nichts mehr mit einem Leben im Dienste Gottes zu tun. Die ursprünglichen Ideen und Ideale ihrer Gründer waren längst verloren gegangen und die Mönche waren träge und selbstgefällig geworden. Nicht alle natürlich, aber doch mit einer großen Tendenz. Ebenso spürten auch wir bei unseren Besuchen immer wieder, dass in den Orden gute und wichtige Ideale steckten, dass diese aber längst nicht mehr gelebt wurden. Die Verbindung zum Göttlichen war erloschen und die Mönche hatten keine echte Aufgabe mehr. Später in Spanien hatten wir uns dann willkürlich für einen beliebigen Orden entschieden. Ohne darüber nachzudenken hatten wir dabei unter hunderten von Mönchsorden ausgerechnet den des heiligen Franziskus gefählt. Wirklich ein Zufall? Natürlich musste es ein Bettelorden sein, denn sonst hätte es für unseren Lebensstil ja keinen Sinn gemacht. Doch auch davon gab es unendlich viele und zunächst spielte es für uns auch überhaupt keine Rolle. Es war nicht mehr als ein Name, den man sich merken musste, um eine glaubwürdige Geschichte zu erzählen. Erst als wir nach Assisi kamen änderte sich dies, denn nun fanden wir zum ersten Mal mehr über das Leben des Bettelmönchs heraus. Plötzlich stellten wir fest, dass es viele weitere Parallelen zwischen ihm und mir gab. Auch Franziskus hatte zunächst versucht, das Leben zu führen, das seine Eltern für ihn vorgesehen hatten. Als er jedoch merkte, dass dies nicht sein Weg war, legte er sein altes Leben und sein altes Sein ab und wurde Mönch. Um dies zu schaffen, musste er den Kontakt zu seiner Familie vollständig abbrechen. Er heißt zwar bis heute “Franz von ASSISSI”, setzte jedoch nach seiner Wandlung nie wieder einen Fuß in sein altes Heimatdorf und hatte nie wieder Kontakt zu seiner Familie. Erst nach seinem Tod riss sich die Stadtgemeinde seinen Leichnahm unter den Nagel, weil sie bereits damals überzeugt waren, dass er eine profitable Touristenattraktion werden könnte. Doch das ist noch nicht alles! Um seine Wiedergeburt als Bettelmönch zu zelebrieren, machte er ein Ritual, in dem er sich vollkomen seiner Haare entledigte und legte dabei auch seinen alten Namen ab. Gerade wollte ich sagen, dass er sich die Haare dabei zwar nicht ausgerissen, aber immerhin abrasiert hatte, doch das stimmt nicht ganz. Denn es gibt auch einige Überlieferungen, nach denen er sich die Haare ebenfalls vom Kopf gerissen hat. Erst seit diesem Tag trug er nun den Namen Fracesco d‘Assisi. Er selbst hatte nie vor, einen Mönchsorden zu gründen, sondern pilgerte zunächst als Bettelmönch durch die Welt um Wissen über das Leben, den Glauben und Gott zusammenzutragen. Seine Idee war es dabei, eine Art Clan aufzubauen, also eine Gruppe von Gleichgesinnten, die einander auf ihrem Weg zur geistigen Entwicklung und zum Erwachen in Gott unterstützte. Er nannte diesen lockeren Clan der Glaubensgenossen “die minderen Brüder” um zu betonen, dass sie in Armut und Demut leben und sich ganz der Beziehung zu Gott widmen wollten. Ganz bewusst war es kein Orden und kein offizieller Kirchenverbund, sondern eine formlose Gruppierung, die sich vollkommen freiwillig einem Kodex verschrieben, durch den sie der Schöpfung dienen und ins Erwachen kommen wollten. Dabei erkannte Francesco auch die Spiegelgesetze und ihm wurde bewusst, dass er alles in seinem Leben selbst anzog. Genau wie ich, hatte er jedoch ein großes Problem damit ins Fühlen zu kommen und sich selbst als der anzunehmen, der er war. So verstand er die Spiegelgesetze zwar, konnte sie aber nie anwenden und lebte daher ein Leben in innerer Armut, obwohl er eigentlich nach innerem Wohlstand strebte. So wie auch ich war er sehr gut darin, die Dinge faktisch zu erkennen und zu beschreiben, jedoch eher ein Stümper, wenn es darum ging, Gefühle zu vermitteln. Dies war auch einer der Gründe, warum es die katholische Kirche schaffte, die minderen Brüder bereits zu Francescos Lebzeiten zu korumpieren und für ihre eigenen Zwecke zu misbrauchen. Seine Lehren konnten von den Menschen gut verstanden und nachvollzogen, aber nicht gefühlt werden und so war es nur eine Frage der Zeit, bis auch seine Ideale verloren gingen und nur noch die leere Hülle eines Ordens übrig blieb, der genauso korrupt war wie alle anderen auch.

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Viele Jahrhunderte später stieß jedoch ein amerikanischer Autor namens Wayne Dyer auf einige Schriften Francescos und ließ sich von ihnen inspirieren, um die zentralen Gesetze des Universums zu erkennen und niederzuschreiben. Dank Francescos Hinterlassenschaft erkannte er, dass alles eins ist und dass es nur das eine, allumfassend göttliche Bewusstsein gibt, von dem wir alle ein Teil sind. Diese Erkenntnisse fanden über verschiedene Wege wiederum den Weg zu uns und bildeten die Grundlage für Heikos Recherche zum Thema Gottbewusstsein. So wie Francesco Wayne Dyer inspiriert hatte, inspirierte nun Wayne Dyer Heiko und dies führte schlussendlich zu dem Buch, das der Ausschlaggeber für meine Wiedergeburt als Franz wurde. Wir machten noch eine weitere Austestung, die mich in tiefstes Erstaunen versetzte gleichzeitig aber auch nicht weiter überraschte. “War ich in einem früheren Leben Franz von Assissi?” JA “Ich war also wirklich dieser Francesco, dieser Bettelmönch, der umhergezogen ist und versucht hat für sich selbst und für die Menschheit herauszufinden, dass wir alle Gott sind und was das für unser Leben bedeutet?” JA! Das erklärter nun natürlich einiges! Als Francesco hatte ich bereits einmal versucht, als Bettelmönch meinen Weg in die Erleuchtung und ins Erwachen zu gehen, hatte es damals aber nicht ganz geschafft, weil ich es nie geschafft hatte, mich selbst wirklich anzunehmen. In mir, bzw. in Francesco war immer der Glaubenssatz, es selbst nicht wert zu sein, ins Erwachen zu kommen. Er hatte sehr ähnliche Kindheitserfahrungen gemacht, wie ich nun in diesem Leben und daher wahrscheinlich auch eine Menge Selbsthass aufgebaut, den er nicht abbauen konnte. So hatte er sich immer wieder dafür verurteilt, nicht gut genug zu sein und sich so letztlich mit einem Leben in Armut, Leid, Krankheit und Schmerz bestraft. Er hat unglaublich viel verstanden, aber vieles davon nicht verinnerlichen und anwenden können. Und genau so ist es auch heute. Ich verstehe sehr viel, fühle jedoch nur sehr wenig und merke oft nicht, in welchen Zusammenhängen die Dinge stehen. Die Blindheit, die mir meine Augen ganz physisch vor Augen führen, steckt auch tief in mir verankert, so dass ich vieles nicht erkennen kann, das sich direkt vor mir offenbart. Dies zu erkennen und offenzulegen ist nun Heikos Aufgabe. So glaubte ich zwar am Anfang, der Autor unseres neuen Buches zu sein, war am Ende jedoch gewissermaßen die Muse. Jedes Mal, wenn ich irgendetwas verkackte oder durch die Präsenz meines Gegners etwas veranstaltete, das zur Eskalation führte, zog Heiko daraus im Nachhinein eine neue Erkenntnis, durch die das Buch lebendig wurde. Und erst jetzt, wo ich mein altes Ich abgelehnt hatte und zu Franz geworden war, wurde auch das Buch plötzlich eine runde Sache. Ohne es zu merken war es nun die Anleitung geworden, um genau die ersten Schritte auf dem Weg zum Erwachen zu gehen, die ich nun ebenfalls gehen konnte. Erst jetzt fiel mir auf, dass wir auch das Buch mit der Geschichte über einen kleinen Jungen begonnen hatten, der sich entschloss, ein Mönch zu werden, um so die Lehren der Natur erlernen und zu einem Erdheiler werden zu können. So wie Francesco damals den Clan der minderen Brüder um sich herum aufbaute, sollten auch wir nun immer mehr zu einem Clan mit einem klaren Kodex werden, in dem wir uns gegenseitig ergänzen und unterstützen, so dass wir nicht nur selbst stetig weiter in Richtung Erwachen gehen, sondern auch zu einem Vorbild und einer Inspiration für andere werden. Und aus diesem Grund sollte ich von nun an den Namen des heiligen Franziskus tragen, um mich stets daran zu erinnern, wer ich wirklich bin, und wohin mich meine Reise führt. Francesco damals wurde nach seinem Geburtsort “von Assissi genannt. Die Frage war also nun, ob ich dann nach dem gleichen Vorbild ebenfalls Franz von Stelingen oder Franz von Garbsen oder Franz von Hannover nach meinem ursprügnlichen Heimatort, bzw. der Heimatgemeinde oder der Heimatstadt benannt werden sollte. Doch alle drei Namen schieden aus. Es ging nicht darum, wo Tobias Krüger geboren wurde, sondern darum, wo der neue Franz entstanden war. Und dies war ein kleiner Ort namens Bujor mitten in einem kleinen, nahezu unbekannten Land namens Moldawien. Somit war ich von nun an Franz von Bujor.

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Doch ich sollte nicht nur den Namen des alten Francesco tragen, sondern zukünftig wirklich wie ein Mönch leben. Nicht wie ein moderner Mönch, der in irgendein Kloster eintrat und dort mehrmals täglich den Gottesdienst schwänzte, der angeblich das Zentrum seines Glaubens darstellte, sondern als ein Mönch im ursprünglichen sinne, so wie es auch Franziskus Idee war. Ein Leben in Einfachheit, Besitzlosigkeit, im Zölibat, ohne Geld und mit dem Auftrag für mich selbst und für andere den Weg zum Erwachen und ins Gottbewusstsein zu gehen. Eben das Leben eines Wander- und Bettelmönchs, nur das ich nicht alleine oder mit anderen Mönchen umherziehen würde, sondern im Clansystem mit Heiko und später auch mit Heidi. Dazu gab es wie bei Mönchen üblich einige Lebensregeln, also einen Kodex, der eingehalten werden musste und nach dem ich von nun an leben würde. In den folgenden Tagen fanden wir immer mehr heraus, worin dieser Kodex bestand und dass er sich nicht nur auf mich, sondern auf unsere gesamte Herde bezog. Zum ersten Mal, seit wir aufgebrochen sind, waren wir nun also in der Lage, unsere Lebensweise und die damit verbundenen Ziele und Ausrichtungen in einem klaren Regelwerk zu definieren, so dass es uns von nun an leichter fällt, nach unseren Idealen zu leben und sie nicht wieder schleifen zu lassen. Zunächst einmal gibt es für mich als Franz von Bujor nun einige Regeln, die mein Alltagsleben betreffen. Wie es sich für einen Mönch gehört, werde ich mich sobald wie möglich, also mit dem Wiedereintritt in die EU und die Anschaffung einer Robe kümmern. Sie soll in Grau gehalten sein und mit einer Art Ledergürtel zusammengehalten werden. Schuhe und Socken kann ich auch weiterhin die tragen, die wir von unseren Sponsoren bekommen. Als Unterkleider unter meiner Robe sind jedoch nur Jägerunterwäsche oder traditionelle Wollunterkleider gestattet. Bei den Unterhosen selbst gibt es keine Einschränkungen, aber eben für lange Unterwäsche. Zum Schlafen ist die Lösung, die ich nun verwende, mit der Schaumstoffmatte und der Ortlieb-Luftmattratze in Ordnung. Andere Systeme sind ebenfalls OK, wichtig ist jedoch, dass die Schlafunterlagen insgesamt nicht mehr als 3,5cm dick sind. Ausgenommen sind gelegentliche Einladungen in Hotels oder bei Privatpersonen. Abgesehen davon ist der Schlafplatz meiner Wahl stets ein Zelt. Wenn wir als Herde später einmal ein Begleitfahrzeug in Form eines Wohnmobils, Expeditionsmobils oder etwas ähnlichem haben, werden Heiko und Heidi im Inneren schlafen, ich aber weiterhin im Zelt. Entweder neben dem Mobil oder auf dem Dach. Zum Arbeiten, Kochen, Entspannen, bei Heilungsarbeiten, Massagen, etc. und zum Filmschauen kann ich das Mobil aber ebenfalls nutzen. Warum aber diese Einschränkungen? Warum ist es für mich so wichtig, ein Leben in Einfachheit zu führen, auch dann, wenn wir als Herde Luxus und Wohlstand erschaffen haben?

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Auch dies begründet sich aus meinem Familiensystem und den Erfahrungen, die ich bislang in diesem und in früheren Leben gesammelt habe. Im Rahmen meiner Familie habe ich in meiner Kindheit und Jugend immer wie in einer Seifenblase gelebt. Ich hatte stets alles, was ich brauchte, es mangelte mir an nichts und mir wurde immer alles hinterher getragen. Ich verbrachte meine ersten Lebensjahre also ein bisschen ähnlich wie der junge Buddha (Vielleicht habe ich auch deshalb jetzt so einen runden Blähbauch), der hinter einer Palastmauer aufwuchs, damit er das Leid der Welt nicht sehen musste. Er wurde stets von allem ferngehalten, das ihn beunruhigen oder ängstigen könnte und innerhalb dieser Mauern herrschte eine vollkommene Sicherheit. So erging es auch mir. Mir war bewusst, dass ich mich nicht gegen dieses Seifenblasenparadies auflehnen durfte, um es nicht zum Einsturz zu bringen, doch solange ich dies nicht tat, wurde mir der Arsch gepudert und ich war der strahlende, fröhliche Sohn, auf den alle Stolz waren. In gewisser Weise war meine Mutter mit ihrem Plan erfolgreich gewesen. Wir waren die perfekte Familie. Alles war in bester Ordnung und bis auf wenige Ausnahmen gab es nicht einmal Streitigkeiten zwischen mir und meiner Schwester. Vor allem im Teenageralter war dies zwischen einem Bruder und einer Schwester mit einem Altersunterschied von zwei Jahren so ungewöhnlich, dass sogar unsere Freunde ganz skeptisch wurden und unsere Harmonie teilweise sogar als unheimlich empfanden. Womit sie ja auch vollkommen Recht hatten. Denn trotz dieser perfekten Seifenblasenwelt war ich nie wirklich glücklich, zufrieden und erfüllt. Natürlich gab es viele Glücksmomente, viele Situationen in denen ich mich wohl gefühlt habe, in denen ich Spaß und Freude hatte und in denen ich gerne in dieser Seifenblase lebte. Wäre das nicht der Fall gewesen, wäre ich ja bereits damals ausgebrochen, denn dann hätte es keinen Sinn gemacht, die Traumblase aufrecht zu erhalten und dafür meine Seele zu zerstückeln. Das Leben innerhalb der Blase war angenehm und hatte viele Vorteile. Doch über allem lag immer auch ein Gefühl der Schwere, der Leere und der latenten Unzufriedenheit. Irgendetwas fehlte. Irgendetwas passte nicht. Doch weil ich nicht hinschauen wollte, erkannte ich nie was es war und versuchte dieses Schwere-Gefühl so gut wie möglich zu verdrängen und zu überspielen. Gefühle waren wie gesagt verboten also wurden sie stets runter geschluckt und mit einem falschen Lächeln überspielt. Doch genau darin lag der Grund, warum keine echte Zufriedenheit, keine Erfüllung und keine Glückseligkeit aufkommen konnte. Es war nicht echt. Alles bestand aus einer Fassade, hinter der es aber keine wahre Zuneigung, keine Gemeinschaft, keinen Austausch und keinen echten Wohlstand gab. Obwohl ich stets alles hatte, begleitete mich auch stets das Gefühl, arm zu sein. Wir konnten es uns nicht leisten, die coolen Markenklamotten zu kaufen, mit denen ich in der Schule nicht gehänselt worden wäre. Wir konnten es uns auch nicht leisten, in „teure“ Urlaube zu fahren oder teure Ausflüge zu machen. All dies hatte niemals etwas mit der Finanzlage in unserer Familie zu tun. Es war lediglich das Gefühl, dass meine Eltern hatten und das sie uns Kindern vermittelten. Es ging nicht darum, dass meine Eltern kein Geld für teurere Kleidung hatten, sondern darum, dass sie es nicht einsahen, unverschämte Preise für Jacken, Schuhe und Hosen auszugeben, die man auch günstiger haben konnte. Unsere Urlaube waren nie schlecht und viele von ihnen waren sicher auch recht teuer und dennoch kam immer wieder das Gefühl auf, dass sie schöner oder spannender hätten sein können, wenn unsere Familie reicher gewesen wäre. Obwohl ich also stets alles hatte was ich brauchte und sogar noch weitaus mehr, blieb immer das Gefühl, nicht genug zu haben und auf gewisse Weise arm zu sein. Vor allem aber gab es eine Armut an Liebe, da es keine echten Gefühle gab. Es ging nie darum, den anderen Familienmitgliedern eine echte Freude zu machen, sondern darum, sich selbst besser zu fühlen, weil man ein Geschenk gemacht hatte. Dies ging sogar soweit, dass ich teilweise Angst vor Weihnachten und Geburtstagen hatte, weil ich fürchtete, etwas geschenkt zu bekommen, das ich nicht mochte. Wenn das der Fall war, musste ich eine Freude vortäuschen, denn sonst wären meine Eltern traurig oder enttäuscht gewesen, das ich mich nicht freute. Es ging also nicht darum, einander ein echtes Lächeln aufs Gesicht zu zaubern oder sie mit Begeisterung und Freude zu erfüllen, sondern selbst das Gefühl zu erhalten, dass man ein guter Schenker war. Aus diesem Grund gab es nie ein Geschenk aus Liebe und ohne Bedingungen. Es gab kein Geben und Nehmen, bei dem allein der Akt des Schenkens Freude bereitete, ganz gleich, was der Andere mit dem Geschenk anfangen würde. Ein wahres Geschenk ist mit keinerlei Bedingungen oder Erwartungen verknüpft. Senken heißt also, dass man jemand anderem etwas überlässt, und es vollkommen los lässt. Solange irgendwelche Erwartungen oder Bedingungen daran hängen ist es kein Schenken, sondern ein Verkaufen. Ich verkaufe eine Lego-Burg und will die Anerkennung des anderen als Preis dafür haben. Ich verkaufe ein Fahrrad und will Dankbarkeit als Gegenleistung. Schenken hingegen bedeutet vollkommene Bedingungslosigkeit. Es geht mir also nur um den Akt des Schenkens selbst und was immer der andere mit meinem Geschenk anstellt, ist vollkommen seine Sache. Ein echtes Geschenk ist es erst dann, wenn der Beschenkte es vor meinen Augen in Stücke reißen kann und drauf spuckt und ich mich trotzdem darüber freue, dass ich ihm dieses Geschenk gemacht habe. Erst dann habe ich wirklich keine Erwartungen mehr. Doch ein solches Schenken gab es in unserer Familie nie. Geschenke bestanden immer in einem Tauschhandel und die Perfektion in unserer Familie hieß auch, dass stets alles ausgeglichen sein musste. Es gab also nie ein Schenken in Leichtigkeit, sondern alles wurde immer gegengerechnet, am besten bis auf den letzten Cent. Auf diese Weise bekam ich ein vollkommen abstraktes Verhältnis zum Schenken und Beschenkt werden. Jedes Mal, wenn ich jemandem etwas schenke habe ich eine immense Angst davor, dass es ihm nicht gefallen könnte. Denn dies war gleichbedeutend damit, dass ich nicht geliebt wurde, ergo kein guter Mensch war und somit mein Recht auf Leben verwirkt hatte. Gleichzeitig durften auch keine Geschenke abgelehnt werden, da ich den Schenker nicht traurig machen oder beleidigen wollte. Selbst jetzt auf der reise fällt es mir oft noch schwer, Geschenke von Leuten abzulehnen, mit denen wir nicht das geringste anfangen können, weil ich Angst habe, sie damit zu verletzen. So war also jedes Geschenk in meiner Familie an Bedingungen geknüpft, und dies wiederum führte dazu, dass ich keine echte Dankbarkeit dafür empfinden konnte. Nichts wurde aus freiem Herzen gegeben, also konnte ich auch nichts aus freiem Herzen annehmen. Warum sollte ich auch dankbar für etwas sein, wenn ich doch einen Preis dafür bezahlt hatte? Der Wohlstand in dem ich als Kind leben durfte war somit ein Übermuttern und Bevormunden im Sinne von: „Ich weiß am besten was du brauchst und was gut für dich ist.“ So konnte nie eine Selbstständigkeit in mir aufkommen, weil alles immer für mich bereitgelegt wurde und ich nicht entschied, was mir gefiel oder was zu mir gehörte, sondern nur bedacht war, die Harmonie zu waren. Die Beziehung zwischen mir und meiner Mutter war also eine Helfersyndrom-Beziehung, bei der ich das umsorgte Opfer war, das nur dafür sorgen musste, dass sein Umsorger mit ihm zufrieden war. Wenn mir das gelang, bekam ich alles, was ich wollte, sofern es in das Bild passte, dem ich entsprechen musste. So wurde ich also zum Parasiten, der nur immer mehr und mehr gesaugt hat, dabei aber stets das Gefühl hatte, zu wenig zu besitzen und nie genug bekommen zu können. Kurz: Ich lebte ein Leben unter einer Kuchenglocke, unter der es zwar warm und sicher war, unter der es aber keine Liebe und keine Erfüllung geben konnte.

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Nun geht es für mich darum, dieses Prinzip umzukehren. Anstelle der komfortablen Seifenblase tritt nun die blanke, ungeschminkte Realität. Es gibt nun keine Kuppel mehr, keinen Besitz, keine Sicherheit. Alles ist so wie es ist und es kommt stets das, was kommt. Auf diese Weise kann ich nun lernen, mit allem zufrieden zu sein und das anzunehmen, was gerade da ist. Im Hawaiianischen bedeutet das Wort „Liebe“ wörtlich übersetzt „Zufrieden sein mit“. Darin liegt eines der wichtigsten Naturgesetze des Lebens verborgen. Alles ist eins. Man kann also immer nur entweder zufrieden sein oder eben nicht. Wenn man Zufriedenheit in sich trägt, ist man automatisch mit allem zufrieden, egal was es ist. Besitzt man die Zufriedenheit nicht, gibt es nichts im Außen, das einem diese Zufriedenheit geben könnte. Das zweite Prinzip habe ich nun lange genug erfahren. Nun ist es an der Zeit, bedingungslose Zufriedenheit zu lernen. Das Gleiche ist es auch mit dem Reichtum und dem Wohlstand. Reichtum bedeutet nicht, so viel Geld oder Besitz wie möglich zu horten und dabei stets das Gefühl zu haben, dass es noch immer nicht reicht. Es bedeutet, vom Herzen her reich zu sein, egal wie viel man hat oder nicht hat. In meinem Fall bedeutet reich sein nun, nichts zu besitzen und trotzdem alles aus vollem Herzen und mit aufrichtiger Freude zu verschenken. Diese Lernaufgabe begleitet mich jedoch nicht erst seit diesem Leben, sondern bereits seit vielen. Auch Francesco bekam diese Aufgabe gestellt, konnte sie für sich jedoch nicht lösen. Für ihn bedeutete ein Leben in Armut tatsächlich auch ein Leben in Armut, bei dem er versuchte, seine Erleuchtung darin zu finden, dass er sich so viel Lebensfreude wie möglich nahm. Doch es geht nicht darum, in diesem Leben zu leiden, damit wir anschließend im Paradies landen können. Es geht darum zu erkennen, dass dieses Leben bereits das Paradies ist. Jedes Tier und jede Pflanze lebt in vollkommener Besitzlosigkeit und gleichzeitig in vollkommenem Wohlstand. Ein Eichhörnchen “besitzt” die Nüsse nicht, die es verbuddelt. Es verbuddelt sie einfach, weil sie da sind und gräbt später einen Teil davon wieder aus. Der Rest ist ein Geschenk an den Baum, von dem es die Nüsse erhalten hat, denn auf diese Weise hilft es ihm beim Fortpflanzen. Ein Fuchs gräbt sich einen Fuchsbau, der eine gewaltige Größe annehmen kann. Doch dieser Bau gehört ihm nicht. Er lebt lediglich darin. Wenn ein Dachs kommt, zieht diser einfach mit ein und vielleicht wohnen sogar noch ein paar Enten in einem Höhlenbereich. Jedes Wesen der Natur schenkt und hilft allen anderen ganz automatisch ohne eine Erwartungshaltung und ohne Angst vor Verlust oder Armut. Genau dadurch entsteht der Reichtum der Natur und in diesen einzutauchen ist nun auch meine Aufgabe. So wie Geld zuvor ein Mittel meines Verstandes war, um nicht ins Urvertrauen kommen zu müssen, ist nun das Leben in Besitzlosigkeit und Einfachheit ein Weg, um ins vollkommene Urvertrauen zu kommen. Doch ich mache die Reise natürlich nicht allein, sondern Heikos Lebens- und Entwicklungsweg ist mit meinem eng verpflochten. Dass aus Tobias dem Schmarotzer nun Franz der Mönch wurde hat also auch direkte Auswirkungen auf ihn und ist auch von seiner Seite her mit entsprechenden Lernaufgaben verbunden. So ist es seit vielen Leben Heikos Aufgabe, ein Erdenhüter zu sein, der die Liebesenergie weiter gibt, bündelt und über den Erdball verteilt. Als Erdenhüter trug er dabei stets den Glaubenssatz in sich, dass er in Askese leben müsse. Es ist das gleiche Glaubensprinzip, das auch viele buddhistische Mönche in sich tragen: “Solange es noch Leid auf der Erde gibt, werde ich nicht ins Licht gehen, da ich erst allen anderen helfen muss, ihr Leid zu beenden.” Ich muss also in Armut leben, da ich stets mit allen sympatisiere, die ärmer sind als ich. Sobald ich merke, dass es jemandem schlecht geht, darf ich mich nicht mehr gut fühlen, da ich das Leid der anderen aus Mitgefühl automatisch mit in mir aufnehme. Diese Gedanken durchziehen sich in alle Lebensbereiche. Darf ich wirklich schon Feierabend machen, wenn ein anderer noch Arbeitet? Ist es wirklich in Ordnung, wenn ich auf einer dicken, sofa-artigen Mattratze liege, während Franz nur ein Klopapier unter dem Rücken hat? Darf ich in vollkommener Gesundheit leben, wenn so viele Menschen um mich herum krank sind? Darf ich eine heilige Beziehung leben, bei der ich mich mit meiner Partnerin so entwickle, dass wir beide in unsere Göttlichkeit kommen, während doch nahezu alle anderen Beziehungen in unserer Gesellschaft vor allem energieraubend sind und eher vom Erreichen des Gottbewusstseins ablenken? Auch bei ihm kommen diese Gedankenkonzepte nicht nur aus diesem Leben, sondern begleiten ihn bereits seit vielen Inkarnationen. Die Grundidee, die dahinter steht, ist die gleiche, die auch Jesus hatte: “Wenn ich alles Leid der Welt auf mich nehme, dann rette ich sie damit!” Doch dies kann natürlich nicht funktionieren. Jeder hat seine eigenen Lebensthemen und jeder hat sie aus einem bestimmten Grund. Die Themen der Anderen sind die Themen der Anderen und wenn zu ihren Lernaufgaben gerade Schmerz, Leid, Armut, Krankheit oder eine energieraubende Beziehung dazugehört, dann ist das vollkommen in Ordnung. Jeder darf in dem Wohlstand oder in der Armut leben, wie er möchte und wie es für ihn gerade von seinem Lebensweg vorgegeben ist. Im Umgang mit Fremden oder Personen, die ihm nicht besonders nahe stehen, gelingt Heiko dies inzwischen sehr gut. Doch die Gedanken sind noch immer vorhanden und um sie ganz ablegen zu können, muss ein offensichtliches Ungleichgewicht in seinem engsten Umfeld entstehen, so dass er lernen kann, dass dies nicht negativ ist. So wie es meine Aufgabe ist, die Zufriedenheit und Glückseligkeit im Nichtbesitz zu finden, ist es Heikos Aufgabe, beides im Wohlstand zu erfahren.

Fortsetzung folgt...

Spruch des Tages: Nicht alles was man verliert ist ein Verlust

Höhenmeter: 190 m Tagesetappe: 20 km Gesamtstrecke: 16.481,27 km Wetter: sonnig und heiß Etappenziel: Zeltplatz im Wald, nahe 727011 Hănțești, Rumänien

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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