Tag 938: Ständige Polizeikontrollen

von Heiko Gärtner
31.08.2016 23:05 Uhr

06.07.2016

Nach den letzten mehr oder minder schlaflosen Nächten schliefen wir heute erst einmal wieder richtig aus. Gleich im ersten Ort bekamen wir ein Eis und damit konnten wir dann wieder gut in den neuen Tag starten. Weit kamen wir allerdings nicht, denn schon nach wenigen Metern wurden wir von einem Grenzpolizisten gestoppt, der unse Personalien aufnahm und alles genau kontrollierte. Generell war es ja in Ordnung, dass er das tat, wenn es sein Job war, doch er ging dabei so herablassend und unfreundlich vor, dass auch wir bereits nach Minuten vollkommen genervt waren. Kaum hatte er sich verabschiedet, tauchte auch schon der nächste Streifenwagen auf und stoppte uns erneut. Vier Polizisten stiegen aus, die alle keine einzige Fremdsprache sprachen. Dafür hatten sie jedoch einen Jungen bei sich, der etwa 16 oder 17 Jahre alt war und für sie übersetzen musste. Zu seinem Leidwesen waren wir bereits mit unserer Geduld am Ende und hatten nun überhaupt kein Verständnis für die Spielchen der Beamten mehr. Einmal kontrolliert zu werden war ja noch ok, aber gleich zwei mal hinter einander und beide Male wie ein Verbrecher behandelt zu werden, das war ganz und gar nicht in Ordnung. Wir machten dem Jungen natürlich deutlich, dass unser Zorn nicht ihm sondern seinen uniformierten Kumpanen galt, doch er traute sich leider nicht alles von dem zu übersetzen, was wir ihm mitteilten.

"Warum brauchst du unsere Personalien, wenn dein Kollege sie doch gerade schon aufgenommen hat?" fragte ich ärgerlich. "Ich brauche sie nicht!" antwortete der Junge und deutete auf den Beamten, "Er braucht sie!" "Ich weiß!" sagte ich und musste nun schmunzeln, "aber warum braucht er sie?" Das konnte weder der Junge noch der Polizist beantworten. Doch bei den Personalien blieb es nicht: "Wo und wann seit ihr über die Grenze nach Moldawien gekommen? Wo wollt ihr nun hin? Wie lange bleibt ihr im Land? Wo habt ihr gestern übernachtet?" Es dauerte eine Viertelstunde, die wir fast reglos in der prallen Sonne stehen mussten. Dann waren wir endlich wieder frei. Doch kaum hatten wir die ersten paar Meter zurückgelegt, kamen die gleichen Polizisten schon wieder und stoppten uns erneut. Zunächst glaubten wir, dass sie sich bei uns für die Unannehmlichkeiten entschuldigen und uns vielleicht etwas zum Essen bringen wollten. Es wäre schließlich nicht das erste Mal, das so etwas passierte. Doch sie dachten nicht im Traum daran. "Es tut mir leid!" sagte der Junge, "aber wir müssen euch noch einmal stören. Wir brauchen leider eine Liste mit allen Ortschaften, in denen ihr hier in Moldawien übernachtet habt." Zum Glück war dieses Land nur so klein und auf unserem Handy waren noch immer alle Karten gespeichert. So konnten wir mürrisch und wiederwillig der Bitte nachgehen. "Ich werde die Liste nun genau einmal vorlesen!" sagte ich, "Entweder ihr merkt sie euch oder schreibt sie mit, oder ihr vergesst es. Aber danach wollen wir für den Rest unseres Aufenthaltes nicht mehr belästigt werden!" Die Polizisten erklärten sich einverstanden und schrieben die Liste mit. Was sie nun damit machten blieb uns ein Rätsel. Doch wir wurden von nun an bis zur Grenze wirklich nicht mehr belästigt. Als wir uns am Nachmittag einen Platz suchten, stellten wir fest, dass wir ausgerechnet direkt hinter dem Präsidium unserer Grenzpolizisten gelandet waren. Nachdem sie uns den Tag über belästigt hatten, saßen wir ihnen nun also quasi auf dem Schoß. Lustigerweise bemerkten sie es aber nicht einmal. Zum Schreiben lehnte ich mich zunächst an einen Baum an, an dem auch ein weißes Pferd graste. Zunächst fraß es unbeirrt weiter, doch je länger wir uns einen Platz teilten, desto mehr akteptierte es mich als Spiegelpartner und schließlich begann es mit mir zu kommunizieren. Plötzlich entschied er sich ohne erkennbaren Grund genau an der Stelle zu grasen, die am weitesten von seinem Kettenpflock entfernt lag. Und zwar genau hinter mir. Seine Kette verlief nun also direkt über meine Beine.

"Hey!" rief ich, "Was ist denn mit dir los? Pass doch ein bisschen auf, wo du deine Kette hinziehst!" Erst später fiel mir auf, dass er das sehr wohl wusste. Er hatte mich nicht übersehen, sondern war ganz bewusst so gegangen um mich zu stören. Er zeigte mir auf diese weise genau das auf, was auch ich ständig tat. Das Gefühl der Unfreiheit brachte ihn und mich dazu, ständig um Aufmerksamkeit zu betteln und wenn es die im Positiven nicht gab, dann holte man sie sich eben im Negativen. Deutlicher hätte er es kaum sagen können: "Es ist die Kette, die dich selbst gefangen hält, also der Verstandeskäfig in deinem Kopf, mit dem du allen anderen auf den Keks gehst. Befrei dich selbst, dann nervst du auch die anderen nicht mehr." Ohne die Kette hätte er ganz in ruhe dort grasen können und wir wären uns nie in die Quere gekommen. Als freies Wesen hätte er seine Lebendigkeit und seine Kraft spüren können. Er wäre frei über die Wiesen galloppiert, hatte sich dort zur Ruhe gelegt, wo es ihm gefiel und hätte das Graß gefressen, auf das er am meisten Appetit hatte. Doch weil er gefangen war, konnte er all dies nicht tun. Er spürte sein Leben nicht, weil er es nicht leben konnte. Das einzige was er noch spürte war seine Kette und so nutzte er diese, um micht zu bedrängen, damit ich ihm zumindest ein bisschen Aufmerksamkeit schenkte. Nicht anders war es bei mir selbst. Durch den Verstandeskäfig in meinem Kopf konnte ich miene Gefühle nicht mehr spüren. Um also überhaupt noch etwas gfühlen zu können, nutzte ich meinen Verstand, um immer wieder den Menschen in meiner Nähe auf die Füße zu treten, bis ich eine reaktion bekam. Als ich ihn an der Kette zurückzog und ihm damit deutlich machte, dass ich mit seiner Aktion nicht einverstanden war, leistete er einen kleinen, eher symbolischen Widerstand. Dies war es, was er spürte. Nun konnte er einen Bruchteil seiner Kraft fühlen, in dem kurzen Moment, in dem er sich selbst vorspielte, dass er rebellierte. Doch er rebellierte nicht wirklich. Er war wie eine Marionette, die ich an der Leine dirigieren konnte, wie ich wollte. Sein Geist war gebrochen und sein Widerstand nichts weiter als ein lächerliches Spiel, das er selbst nicht ernst nahm. Er glaubte nicht mehr an seine Krat und gab sofort nach. Rein objektiv betrachtet, war ich kleines Menschlein an diesem Baum ein Niemand. Er hatte tausend Mal mehr Kraft als ich und hätte mich mit seiner Kette locker erwürgen oder zerquetschen können. Doch er hatte die Gefangenschaft akzeptiert und fügte sich in die Rolle der Marionette, genau wie ich es tat.

Später setzte ich mich noch einmal um, weil nun zu viele Mücken unterwegs waren. Der einzige Platz, an dem ich vor ihnen noch Ruhe hatte, war die Mauer des Polizeipräsidiums. Erst jetzt fiel mir auf, dass auch die Mücken nicht ohne Grund da waren. Sie zeigten so deutlich wie kein anderer, was man unter energieraubenden Beziehungen verstehen konnte. Sie waren permanent um mich herum, schenkten mir Nähe und Aufmerksamkeit, erzählten mir ihre Summlieder und nahmen es mir auch nicht übel, wenn ich die eine oder andere von ihnen erschlug. Doch unsere Beziehung war rein darauf ausgelegt, mir Energie in Form von Blut zu entziehen. War es wirklich sinnvoll, eine solche Beziehung aufrecht zu erhalten? Am Abend suchte ich mir einen Platz im Ort, um den Stechfreunden zu entkommen. An einem kleinen Minimarkt war es ruhig und Mückenfrei. Wieder traf ich einen jungen Mann, der sich kurz mit mir unterhielt und mich nach meinem Namen fragte. Zuerst versuchte ich die Frage zu übergehen und anonym zu bleiben, aber das funktionierte nicht, weil er mehrfach nachfragte. Daher nannte ich ihm den ersten Namen, der mir einfiel. Auf Dauer war das aber auch keine Lösung.

07.07.2016 An diesem Vormittag waren wir es, die die Polizisten belästigten. Mitten im Ort gab es eine kleine Brücke und auf der Mitte dieser Brücke entdeckte Heiko eine alte Frau, die offensichtlich gestürzt war. Sofort eilten wir hin um zu sehen, ob ihr etwas fehlte. Sie lag zunächst vollkommen reglos da und reagierte dann matt und benommen auf unsere Versuche, Kontakt mit ihr aufzunehmen. Sie begann nun sogar, etwas zu erzählen, doch wir konnten leider nichts verstehen und so verwuchten wir Hilfe zu holen. Ein Mann mit einer Pferdekutsche kam vorbei und schaute auf unser Winken hin hilflos über die Frau. So kamen wir nicht weiter und Heiko beschloss, dass es das Beste war, Hilfe von offizieller Seite zu holen. Er rannte zurück zum Polizeipräsidium und versuchte dort einen Beamten aufzutreiben, der ihn verstand. Zunächst bekam er als Ausländer einen Mann zugeteilt, der Russisch beherrschte. Als klar wurde, dass auch dies nichts half, machten sich die Polizisten auf die Suche nach dem einzigen Kollegen, der Englisch sprach. Dieser saß aber gerade beim Frühstücken und konnte deshalb nicht sofort reagieren. Für Notfälle war die Wache ganz offensichtlich nicht ausgelegt. Als der Mann schließlich kam, steckte er sich erst einmal in aller Ruhe eine Zigarette an und ging dann ganz gemütlich mit Heiko zur Brücke zurück. In der Zwischenzeit hatte sich die Frau bereits immer mehr berappelt und langsam wurde klar, dass ihr Hauptproblem ein akkuter Alkoholüberschuss im Blut war. Als der Kutscher das erkannt hatte, winkte er einfach nur ab und meinte: “Die ist nur Hacke, kein Grund zur Sorge!” Dann verschwan er. Offensichtlich war es vollkommen normal hier, dass die Menschen am Morgen irgendwo auf Brücken oder in Gräben herumlagen. Dass sie trotz ihrer Trunkenheit dennoch verletzt sein konnte, interessierte den Mann hingegen nicht. Auch das Interesse des Polizisten hielt sich stark in Grenzen. Er spach die Frau an, machte aus, dass sie hier ganz in der Nähe wohnte, zuckte mit den Schultern und überließ sie ihrem Schicksal. Etwas betrübt über diese herausragende Gleichgültigkeit zogen auch wir weiter, überließen der Dame aber immerhin eine Flasche Wasser. Offenbar war außer ihrer Würde alles an ihr unverletzt und langsam war sie schon wieder soweit, dass sie aufrecht sitzen konnte. Ob die Wasserflecken auf ihrem Kleid nur vom Kleckern mit dem Wasser oder auch vom Einpinkeln kamen, konnten wir nicht genau ausmachen. Heute war nun der vorletzte Tag in Moldawien. Übermorgen würden wir die Grenze wieder überqueren und zurück nach Rumänien reisen. Zuvor bekamen wir aber noch einmal eine ganz besondere Zurschaustellung der moldawischen Transportkunst zu sehen. Auf einem PKW hatte man einen Schrwung Zierbläche festgeschnallt, die weit über das Dach hinausragten. Sie waren jedoch so dünn, dass sie sich im Laufe der Fahrt immer weiter nach unten gebogen hatten und nun vorne vollkommen auf dem Asphalt schleiften. Es gab ein lautes Kratzgeräusch und die Bläche schränkten sogar die Sicht des Fahrers ein. Doch beides führte nicht dazu, dass er sich darüber Gedanken machte, oder gar anhielt und seine Bleche vor der totalen Zerstörung bewahrte. Er fuhr einfach weiter. Das allein war schon recht irritierend, doch wirklich schräg wurde es erst, als wir eine halbe Stunde später einen anderen Wagen mit ähnlichen Blechen, der gleichen Technik und dem gleichen Problem entdeckten.

Zum Zelten zogen wir uns heute hinter eine leerstehende Fabrikhalle zurück. Der Platz war voller Scherben und überall klebte geschmolzener Teer, doch er war ruhig, schattig und friedlich. Niemals kam ein Mensch hier her und so herrschte noch immer eine ausgewogene Baseline unter den Tieren. Es war kein schlechter Platz, aber man konnte nicht leugnen, dass wir zu immer abstrakteren Mitteln greifen mussten, um überhaupt noch Plätze zu finden. Hier im Schatten hinter der Halle testeten wir aus, was mein neuer Name sein könnte. Schon nach wenigen Versuchen kamen wir auf Franziskus, Francesco oder Franz in Anlehnung auf Franz von Assisi. Plötzlich ergab nun alles einen Sinn, angefangen von unserem Mönchsein zu Beginn der Reise bis hin zu dem seltsamen Ritual mit dem Haare ausreißen. Von diesem Moment an war ich nun Franz von Bujor oder Francesco de Bujor, je nachdem in welchem Land wir gerade waren.

Spruch des Tages: Die Polizei, dein Freund und Nervenräuber

Höhenmeter: 390 m Tagesetappe: 32 km Gesamtstrecke: 16.693,27 km Wetter: sonnig und heiß Etappenziel: Zeltplatz auf einer Kuhwiese neben der Straße, kurz vor 78706 Kryvopillya, Ukraine

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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