Hingabe

von Franz Bujor
05.04.2014 21:00 Uhr

Noch 6 Tage bis zum 100-tägigen Jubiläum unserer Weltreise!

Gestern hatten wir noch geglaubt, 11 km stur geradeaus durch die gleiche Gegend zu wandern würde einen verrückt machen. Doch das war nichts gegen das, was uns heute erwartete. Es war ein wunderschöner Weg, mitten durch den Wald. Die Vögel zwitscherten, der Kuckuck rief ununterbrochen und versuchte einen Paarungspartner anzulocken und Unmengen von kleinen Eidechsen liefen über den Weg. Die Sonne schien und es sprach alles dafür, ein wirklich schöner Tag zu werden. Das wurde es auch, mit nur einem kleinen unbedeutenden Haken. Der Weg führte wie mit einem Lineal gezogen immer geradeaus. Und das diesmal für knapp 20 Kilometer. Nach nur zwei Kilometern hatten wir jegliches Gefühl für Zeit und Raum verloren. Wanderten wir nun erst seit Minuten, Stunden oder bereits seit Tagen? Wie weit waren wir schon gekommen?  Es gab keinerlei Anhaltspunkte, an denen wir uns orientieren konnten. Wären wir nicht zu zweit unterwegs gewesen, wären wir mit Sicherheit durchgedreht. Zumindest für einen Moment. Auch so war es eine Herausforderung, um sich in Hingabe zu üben. Der Gedanke an ein Ziel machte einen verrückt. Nur wenn wir akzeptierten, dass dieser Weg einfach gegangen werden musste, auch wenn er vielleicht niemals endete, konnten wir seine schönen Seiten genießen.

„Ich glaube, dass die Lehre dieses Weges hier auch nicht ohne Grund für uns da ist!“ meinte Heiko nach irgendeiner Zeit.

„Meinst du die Leere oder die Lehre?“, fragte ich.

„Die Leere vielleicht auch, aber eigentlich meinte ich das, was uns der Weg beibringen will. Findest du nicht auch, dass wir in der letzten Zeit immer mehr das Gefühl hatten, dass wir irgendwelche Highlights brauchen? Ich weiß nicht, wie es dir damit geht, aber bei mir kommt immer wieder so ein Gefühl von Ungeduld auf. Einmal in Bezug auf den Weg, also dass ich glaube, langsam müsste mal wieder irgendetwas Spektakuläres passieren. Aber vor allem auch, was die Heilungsprozesse angeht. Manchmal kommen echt Zweifel in mir auf, ob meine Ohren jemals wieder ganz geheilt werden. Auf einer Ebene weiß ich, dass es besser wird und merke auch, dass wir genau auf dem richtigen Weg sind, aber auf der anderen Seite kommt dann immer wieder dieses Gefühl auf, dass es schneller gehen müsste. Das Gleiche ist es mit den Büchern und mit den Verlagen. Auf der einen Seite weiß ich, dass alles zu seiner Zeit geschieht, aber auf der anderen merke ich, dass ich ungeduldig werde und denke, dass sich da endlich mal etwas bewegen müsste. Wie geht es dir damit?“

 
Die Jakobswegweiser waren die einzige Abwechslung auf dem Weg

Die Jakobswegweiser waren die einzige Abwechslung auf dem Weg.

 

„Ähnlich!“, sagte ich, „vor allem was die eigenen Prozesse anbelangt. Da merke ich auch, dass ich am liebsten alles auf einen Schlag gelöst hätte.“

„Aber wir müssen natürlich auch sehen, dass wir nicht einmal 100 Tage unterwegs sind. Für einen Heilungs- oder Entwicklungsprozess ist das gar nichts. Überleg einmal, wie lange wir Sachen aufgestaut haben. Wie lange haben wir uns selbst fertig gemacht, haben Tage und Nächte durchgearbeitet um die Firma aufzubauen und haben uns nicht mehr als 4 oder 5 Tage Urlaub im Jahr gegönnt? Wir haben wirklich Raubbau mit unserem Körper betrieben und wundern uns jetzt, wenn es länger als ein paar Tage dauert, bis er sich davon wieder erholt.“

„Du hast Recht“, stimmte ich zu, „um Geduld zu lernen ist der Weg mehr als perfekt. Sogar dieser Strommast dort ist ja schon ein Highlight, weil er der erste ist, den wir heute sehen. Man kann hier wirklich nichts anderes tun, als Hingabe zu lernen. Und das kann uns auch für unser Leben nicht schaden. Wir haben nur Glück, dass wir nicht im Hochsommer hier gelandet sind. Der Weg wird links und rechts von kleinen Gräben eingerahmt, die das reinste Paradies für Mücken sind. Das wäre dann wirklich eine ordentliche Lektion im Lernen von Hingabe.“

„Oh ja, das kannst du laut sagen! Da hätten wir auf jeden Fall keine Freude dran!“

Ich musste an ein Seminar zurückdenken, dass wir vor knapp drei Jahren gemacht hatten und das vom NDR begleitet worden war. Damals war es meine Aufgabe gewesen, fast ohne Ausrüstung 100 Kilometer in drei Tagen zurückzulegen und mich in der Natur zurechtzufinden. Eine Herausforderung war es, mich in ein Mückengebiet zu setzen und die Mücken dabei zu beobachten, wie sie mich stechen, ohne sie jedoch verscheuchen zu dürfen. Mithilfe von Meditation hatte ich es eine ganze Weile ausgehalten, doch es hatte viele heftige Gefühle in mir hochgekocht. Mücken sind die wahrscheinlich besten Mentoren, wenn es darum geht, innere Ruhe, Gelassenheit und Hingabe zu lernen. Denn wer es schafft, Ruhe zu bewahren, während er Hunderte der kleinen Blutsauger auf seiner Haut spürt, den kann auch sonst nichts mehr aus der Ruhe bringen. Und wenn einem das nicht gelingt, dann kommt man zumindest mit allen ungelösten Gefühlen und Aggressionen in Kontakt. Hier könnt ihr euch noch einmal die Dokumentation darüber anschauen:


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Diese Herausforderung blieb uns für heute jedoch erspart. Wir wanderten einfach durch den unendlich wirkenden Wald. Dabei war er weit weniger unendlich, als wir glaubten. Denn nur etwa 100 m links von uns verlief die Schnellstraße und 100 m rechts die Autobahn. Beide verrieten sich jedoch nur durch gelegentliche Autos, denn um diese Jahreszeit waren sie fast nicht befahren. Als wir die Autobahn schließlich überquerten, lag das breite Band aus Asphalt vollkommen leer vor uns. Wir legten sogar eine Picknick-Pause direkt neben der Autobahn ein, ohne dass wir uns deswegen gestört fühlten.

 
Die Autobahn ist so leer, dass man darauf picknicken kann.

Die Autobahn ist so leer, dass man darauf picknicken kann.

 

Eine unbestimmbare Anzahl an Kilometern später riss der Wald plötzlich auf und gab den Blick auf einige riesige Felder frei. Alle waren mit automatischen Sprühanlagen ausgestattet, von denen die längste gut 500 Meter lang war. Obwohl wir es sahen, konnten wir uns die Ausmaße dieser Konstruktionen kaum vorstellen. Alle zusammen waren gut 2,5 Kilometer lang und deckten somit eine Fläche von mehr als 18 Quadratkilometern ab. Wenn diese Anlagen nur im Sommer liefen und nur ein einziges Mal am Tag, dann ging der Wasserverbrauch dafür trotzdem in den Bereich von vielen Millionen Litern. Dass hier nur Wasser durchgeschossen wurde, war naiv zu glauben. Später am Abend erfuhren wir, dass sich hier in der Gegend die größte Monsantoniederlassung in ganz Frankreich befand. Wahrscheinlich war das kein Zufall.

Spritzmittel auf dem Feld verteilen

Spritzmittel auf dem Feld verteilen.

 

Die Felder endeten und der Wald begann von neuem. Diesmal wurde der Boden sandiger und alles wirkte eher wie in einer Heide. Noch immer hatten wir keine Ahnung, ob jemals wieder eine Ortschaft kommen würde. Doch als wir schon fast nicht mehr daran glaubten, tauchten zwischen den Bäumen die ersten Häuser auf.

„So, jetzt brauchen wir nur noch einen Schlafplatz!“ kommentierte Heiko die Gesamtsituation.

In diesem Augenblick hielt neben uns ein weißes Auto mit einem spanischen Kennzeichen. Eine junge Frau stieg aus und fragte: „Seit ihr auf dem Weg nach Santiago? Sucht ihr einen Schlafplatz?“

Wir nickten zweimal und wurden daraufhin eingeladen, ihr zum Haus ihrer Mutter zu folgen. Dort erlebten wir eine Begegnung der dritten Art, die uns auf jeden Fall dabei half, mehr Verständnis für unsere eigenen Eltern zu bekommen. Doch davon erzähle ich euch morgen mehr!

Spruch des Tages: Gut Ding will Weile haben

Tagesetappe: 19 km

Gesamtstrecke: 1933,97 km

 

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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