Tag 942: Blindmaus

von Heiko Gärtner
01.09.2016 02:09 Uhr

15.07.2016

"Was bist du denn für ein seltsamer Kumpel?" fragte Heiko plötzlich und deutete auf ein kleines, längliches Wesen, das planlos über die Straße lief. Es war ungefähr unterarmdick und gut 20cm lang, hatte ein kurzes, helles Fell, große, rosane Füße ohne nennenswerte Krallen, riesige Schneidezähne, ähnlich wie ein Kaninchen und besaß keine Augen. Ohne jeden Zweifel handelte es sich um ein Nagetier, doch um was für eines konnten wir unmöglich ausmachen. Unser erster Gedanke war eine Wühlmaus, doch die Wühlmäuse die bei uns ihr Unwesen treiben sind in der Regel ganz normale Feldmäuse und um so eine handelte es sich definitiv nicht.

Der kleine Kerl wirkte eher, als wäre er ein Höhlenbewohner, der normalerweise niemals das Tageslicht erblickte, weshalb sich sein Schöpfer gleich einmal die Augen gespart hatte. Was es nun hier auf der Straße machte, war wohl uns allen dreien ein Rätsel. Besonders sportlich oder wehrhaft war unser Freund nicht, denn man konnte ihn einfach schnappen und auf den Arm nehmen. Als ich das machte, konnte ich sein kleines Herz wild bollern hören. Vorsichtig setzten wir ihn neben der Straße wieder ab und ließen ihn seinen Weg fortsetzen. Am Abend schauten wir einmal nach, ob wir ihn bestimmen konnten, doch leider tauchte er in keinem unserer Bücher auf. Dennoch schlugen wir die Bedeutung der Botschaft von Wühlmäusen nach und auch wenn wir nicht wirklich sicher sind, ob er eine war, passte diese Nachricht wie die Faust aufs Auge. Wühlmäuse teilen einem durch eine außergewöhnliche Begegnung mit, dass man die eigenen Erwartungshaltungen etwas drosseln sollte. Es ist vollkommen ok, wenn man nicht alles auf einmal versteht oder umsetzen kann. Die Dinge brauchen Zeit und wenn man es vertrauensvoll zulässt, entwickeln sie sich von ganz alleine. Vorausgesetzt natürlich, man hat zunächst den richtigen Initialisierungsimpuls gesetzt und der eigene Fokus passt zu dem, was man erreichen will.

Wenig später kamen wir durch einen größeren Ort, der direkt an einer Hauptstraße lag und daher einiges an Läden und Restaurants besaß, was es andernorts nicht gab. So kamen wir mal wieder in das Vergnügen, eine Pizza essen zu dürfen und der Restaurantchef gab uns im Anschluss gleich noch eine riesige Tüte mit Proviant mit. Es wurde also seit langem mal wieder ein echter Schlemmertag, was wirklich gut tat. Heute schaffte ich es nun auch endlich, die letzten Nadelstiche an unserem Zeltreißverschluss zu setzen, so dass nun auch dieses Projekt abgeschlossen ist und ich mich nun erst einmal wieder ganz dem Nachholen der Berichte widmen kann. 17 Stück stehen noch aus und wenn alles gut geht, schaffe ich vielleicht die meisten davon bereits heute.

16.07.2016

Bereits seit ein paar Tagen hatte Heiko starke Rücken- und Nackenschmerzen, so dass er sich kaum noch rühren konnte. Jeden Abend massierten wir was das Zeug hielt, doch zunächst wurde es immer nur schlimmer. Heute schien es dann seinen Höhepunkt erreicht zu haben, denn nun konnte er beim Wandern nur noch geradeaus schauen und weder den Kopf noch den Oberkörper drehen. Frustrierenderweise nahm er damit trotzdem noch mehr von unserer Umgebung war als ich, obwohl ich in alle Richtungen schauen konnte. Die Infrastruktur in Rumänien war ganz Eindeutig von den einzelnen Regierungsbezirken abhängig. Als wir die Grenze von Moldawien aus überquert hatten, waren wir in einem Bereich gelandet, in dem die Straßen sauber, gut gepflegt und vollkommen intakt gewesen waren. Direkt nach dem Schild mit "Willkommen im Bezirk Dingsdabums" wurde die Straße plötzlich schlecht, war übersäht von Schlaglöchern und verwandelte sich schließlich vollkommen in eine Schotterpiste. Seither gibt es nur noch zwei Varianten. Entweder man wandert auf Hauptstraßen mit ewig viel Verkehr, oder man hat Nebenstraßen aus Schotter, die sich anfühlen als würde man seinen Karren durch ein ausgetrocknetes Flussbett ziehen.

Genauso ambivalent waren auch die einzelnen Dörfer. Heute kamen wir in einen Ort, der wirkte wie eine Deutsche oder Holländische Kleinstadt. Die Häuser waren prunkvoll und nobel gestaltet, die Zäune in frischen Farben gestrichen und verziert, der Garten mit den farbenprächtigsten Blumen bepflanzt und vor den Fenstern hingen sogar Gerranien und andere Topfblumen. Dass hier noch immer die gleichen Pferdekutschen herumfuhren, wie in allen anderen Orten auch, wirkte richtig grotesk und passte plötzlich überhaupt nicht mehr ins Bild. Ein Ort weiter gab es plötzlich nur noch verfallene Baracken und Betonbunker, in denen kein Leben mehr möglich war, sondern nur noch ein hausen. Je länger die Ferien nun im Gange waren, desto stärke merkte man den Leuten ihre Langeweile an. Die meisten saßen irgendwo auf Bänken oder Mauern herum und starrten Löcher in die Luft. Dabei war es egal, ob sie 3 Jahre alt waren oder 93. Andere nutzten jede Gelegenheit, um sich irgendwie abzulenken und so wurden wir immer wieder in eine Art Pseudogespräch verwickelt. Heute kam ein betrunkener Mann mit dem Fahrrad an uns vorbei, der ein gutes Stück mit uns mitging und dabei immer wieder lauthals die gleichen, unverständlichen Sätze von sich gab. Ich glaube sogar, dass sie selbst für einen Rumänen kaum zu verstehen gewesen wären. Das einzige Wort, dass ich immer wieder heraushörte war "Romania"

"No Romania, nix verstehen!" antwortete ich. Daraufhin stoppte der Mann, ging zu einem Nachbarn, der ebenso gelangweilt im Garten stand und rief "Hey! Das sind Touristen! Kannst du dir das vorstellen, ich habe mich gerade mit Touristen unterhalten!" Dann erzählte er seinem Kumpel eine hahnebüchene Storry über unser Leben, die wir natürlich nicht verstanden und die auch nichts mit uns zu tun hatte. Aber sicher war sie genauso spannend. Diejenigen, die ihre Langeweile nicht mit Alkohol und Smalltalk oder Löcher-Starren bekämpften, bekämpften sie mit Autofahren. Dabei rasten sie zumeist ohne jede Rücksicht durch die Ortschaften und hupten jeden an, der die Straße außer ihnen benutzte. Für uns war das oft unangenehm und lästig, doch für die Einheimischen war es zusätzlich auch noch extrem gefährlich. Denn die gleichen Straßen wurden ja auch von den gelangweilten Kindern zum Spielen benutzt. Zwei kleine Jungs, die nicht älter waren als vier oder fünf, fuhren sogar mit einem kleinen Quad herum, mitten zwischen den LKWs und den Kamikazerasern. Die dritte Kategorie von Feriennutzern waren die Stressarbeiter. Es waren diejenigen, die einen Teil ihrer Zeit im Ausland lebten und dort Geld verdienten. Nun nutzten sie die Sommerferien, um hier in ihrer Heimat alles auf- oder umzubauen, was ihnen in die Finger kam. Sie schraubten, mähten, bohrten und sägten was das Zeug hielt und sorgten so für eine unruhige und laute Atmosphäre in den ansonsten toten Dörfern.

Trotz dieser vielen Langeweile waren die Menschen aber noch immer größtenteils freundlich, hilfsbereit und angenehm. Immer wieder kam es vor, dass uns Privatpersonen tütenweise Essen schenkten, wenn sie mitbekamen, dass wir in den Minimärkten nichts bekamen. Und auch wenn viele nicht wussten, wie sie ein Gespräch mit Fremden führen sollten, grüßten sie doch zumeist freundlich und versuchten ihr Land im bestmöglichen Licht stehen zu lassen. Gestern wurden wir von einer Lehrerin angesprochen, die so aufgeregt war, uns zu treffen, dass sie richtig zu Zittern begann. Schon seit langem spielte sie mit dem Gedanken, hier einfach alles stehen und liegen zu lassen, um aufzubrechen und ihr Leben in Freiheit und ohne familiären Verpflichtungen zu leben. Nun konnte sie es kaum fassen, dass wir wie aus dem Nichts vor ihrer Nase aufgetaucht waren und genau das taten. Zum ersten Mal seit Wochen fanden wir heute ganz einfach und unnkomplex einen Zeltplatz. Kurz vor unserem Etappenziel gab es einen Wald. Wir bogen ein, sahen uns kurz um und bauten dann unser Zelt auf. So war es früher normal. Heute war es fast einen Freudentanz wert. Dumm nur, dass sich Heiko noch immer nicht bewegen konnte.

Spruch des Tages: Hey, was bist du denn für ein komischer Kumpel?

Höhenmeter: 430 m Tagesetappe: 28 km Gesamtstrecke: 16.914,27 km Wetter: sonnig und heiß Etappenziel: Zeltplatz am Berghang, kurz hinter 90433 Lypets'ka Poliana, Ukraine

Hier könnt ihr uns und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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