Tag 946: Alte Baukunst

von Heiko Gärtner
02.09.2016 00:56 Uhr

20.07.2016

Wir begannen den Tag gleich einmal mit einer Ehrenrunde. Die kleine Hängebrücke war mir unheimlich und so wollte ich um jeden Preis vermeiden, dass wir noch einmal über sie hinweg mussten. Ich schlug daher vor, in die andere Richtung weiter zu gehen und Heiko willigte ein, da er wissen wollte, ob ich von selbst auf die Sinnlosigkeit meiner Idee kam. Tatsächlich kam ich sogar sehr schnell darauf, ignorierte den Impuls jedoch wie gehabt und folgte weitergin dem schmalen Feldweg. Gestern Abend und auch heute in der Früh war mehrfach ein Traktor vorbeigekommen, um sein Feld zu bestellen, das am Rande unseres Weges lag. Er konnte die Minibrücke natürlich nicht nehmen, sondern musste mitten durch eine Wasserfurt fahren. Hätte es also einen Weg auf die Straße gegeben, dann hätte er sicher diesen genommen. Dass er es nicht tat war eigentlich ein deutliches Zeichen dafür, dass es keinen Alternativweg gab. Doch ich wollte es nicht wahrhaben und glaubte sogar, durch das Weiterziehen noch etwas Zeit sparen zu können. So folgten wir einem holperweg, überquerten ein Feld, schleusten uns durch ein Gatter und landeten dann auf einer Schotterstraße, die uns direkt zurück zur kleinen Brücke führte. Wir waren nun über eine halbe Stunde unterwegs und genau an dem Punkt angekommen, an dem wir gestartet waren. Und das, obwohl ich von Anfang an gespürt hatte, dass es genau so enden würde.

Noch einmal wurde mir bewusst, dass ich den Prozess des "Ich-Selbst-Werdens" gründlich unterschätzt hatte. Ich hatte nun eine Glatze und einen neuen Namen, doch mein Verstand war noch immer genauso aktiv wie zuvor und verführte mich zu lauter dämlichen Handlungen. Das zu ändern war natürlich eine Entscheidung. Doch es war mehr. Es war keine Entscheidung, die man einmal traf und die dann galt. Es war eine Entscheidung die ich immer wieder treffen musste, in jeder Sekunde aufs neue, bis sie in Fleisch und Blut übergegangen war. Ich spürte, dass ich noch immer ein starkes Gefühl der Unruhe und der Hektik in mir trug, das einfach nicht abklingen wollte. Vielleicht lag es daran, dass ich mein Outing als Franziskus noch immer nicht fertig gestellt hatte. Vielleicht lag es auch an etwas anderem. Sicher war nur, dass ich mich durch dieses Gefühl nicht entspannen und damit auch nicht konzentrieren konnte. Ich befand mich schon wieder im Automatikmodus meines Verstandes und huschte dabei an allen Intuitionsimpulsen und Herzenshinweisen vorbei.

So wie wir gestern fast nur durch Wälder gelaufen waren, liefen wir heute fast nur durch Ortschaften. Die Dörfer hier waren im Grunde keine echten Dörfer. Es waren Häuser, die entlang der Straße gebaut worden waren und die aufgrund der großen Grundstücke immer einen gewaltigen Abstand zwischen sich hatten. Es gab kaum ein Haus, dessen Garten kleiner als 200qm war. In der Regel waren es sogar gute 500 bis 600. Sobald eines dieser Straßendörfer endete, begann sofort das nächste. Obwohl alles sehr schön aussah, war es für uns als Wanderer jedoch relativ unpraktisch, denn nahezu alles war hier umzäunt und privatisiert. Nicht einmal mehr die Brunnen standen am Straßenrand sondern befanden sich nun mitten in den Gärten. Das machte das Waschen sogar noch schwerer als zuvor. Die Häuser und Gärten waren auch hier sehr schön zurecht gemacht und gut gepflegt. Man spürte deutlich, dass es vor allem der älteren Generation am Herzen lag, die traditionelle Bau- und Lebensweise am Leben zu erhalten. Auch den jüngeren war es wichtig, dass sie schöne Häuser hatten, doch die Baukunst mit Naturstein, Rubinienschindeln, Schnitzereien und Blehkunst griffen sie immer weniger auf. Die neuen Häuser waren moderne Stein oder Betonhäuser, die zwar auch nicht schlecht aussahen, aber nichts Besonderes mehr waren. Wenn die ältere Generation ausstarb, würde es wohl nicht mehr lange dauern, bis auch das idyllisch rustikale Gesicht dieses Landes verloren ging und durch den modernen Einheitsbrei ersetzt wurde.

Wir hatten also eine ideale Zeit erwischt um das Land zu besuchen. Abgesehen von den relativ vielen Traktoren und den oftmals rücksichtslos rasenden Autos war es hier zum wandern wieder deutlich schöner. Es machte Spaß, sich die unterschiedlichen Häuser anzuschauen und dazwischen das viele Grün durchblicken zu sehen. Das einzige Manko waren die Straßen, die mehr Löcher hatten als jeder Schweizerkäse und die so staubig waren, dass es ständig zwischen den Zähnen knirschte. Was die Menschen anbelangte können wir nach den ersten drei Tagen sagen, dass sie größtenteils freundlich und respektvoll, aber auch sehr skeptisch gegenüber Fremden sind. Sogar die Kinder schauen uns schon mit einem skeptischen, argwöhnischen Blick an, wenn wir an ihnen vorübergehen. Bei der Hilfsbereitschaft gibt es eine weite Schere. Einige Male wurde ich in den Minimärkten buchstäblich rausgeworfen, weil ich kein Ukrainisch sprach. Es ging nicht darum, was ich wollte oder wer ich war, sondern nur, dass ich ein Ausländer war und so etwas wollte man hier einfach nicht haben. Ein Lädchen weiter sah man das hingegen völlig anders und wir wurden fast mit Essen überschüttet. Auffällig war, dass vor allem die Menschen wieder einmal besonders freundlich und aufgeschlossen waren, die eine Zeit lang im Ausland gelebt hatten, oder deren Familienangehörige ausgewandert waren.

Auch heute wehte uns wieder ein heftiger Gegenwind ins Gesicht und langsam fragten wir uns, ob es je wieder Ruhe geben würde. Auffällig dabei war auch, dass wieder einmal kurz vor dem Gebirge die dicken Unwetterwolken heraufzogen. Das gleiche hatten wir mehrfach in Griechenland erlebt, sowie in Bulgarien, Albanien, Mazedonien und Bosnien. In den Flachebenen war es fast immer sonnig und trocken. Kam jedoch ein Gebirge, wurde es ungemütlich. Zwischen zwei Ortschaften an einem kleinen Fluss schlugen wir unser Zelt im Wald auf. In unmittelbarer Nähe gab es eine kleine Wanderhütte, in der ich mich beim Regen geschützt zum Schreiben an einen Tisch setzen konnte. Zuvor aber spielten wir heute wieder einmal Zahnarzt und beseitigten gegenseitig den Zahnstein von unseren Zähnen. Waschen ist leider noch immer nicht drin gewesen, aber zumindest zur Zahnpflege sind wir nun schon einmal gekommen.

Spruch des Tages: Das waren noch echte Baukünstler.

Höhenmeter: 50 m Tagesetappe: 23 km Gesamtstrecke: 17.016,27 km Wetter: sonnig und heiß Etappenziel: Gemeindehaus der reformierten Kirche, Vámosoroszi, Ungarn

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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