Tag 948: Ein schlauer Fuchs

von Franz Bujor
02.09.2016 01:35 Uhr

22.07.2016

Vom Hotel aus folgten wir einer kleinen Holperstraße bis zu einer Brücke, die uns über einen Fluss führte. Jetzt in diesem Moment wirkte er eher wie ein Rinnsahl, doch im Winter musste er sich in eine reißende Flut verwandeln. Über eine Breite von fast fünfzig Metern war das Ufer weggerissen und in ein trockenes Flussett verwandelt worden. Auf der anderen Uferseite kamen wir in eine Art Innenstadt, nur dass der Rest der Stadt darum fehlte. Es war eine einzige Straße mit Läden, Bars und Cafes, an der sich die Leute tummelten. Hier gab es nun auch plötzlich die hübschen Frauen, von denen uns immer wieder erzählt wurde. Dafür war der Ort an sich hässlich und unangenehm. Wie schaffte man es nur, dass man die Orte, an denen sich die Leute aufhalten sollten, weil etwas los war, immer so gräßlich gestaltete, obwohl alles im Umkreis eigentlich schön war?

Je mehr wir uns von diesem kleinen Zentrum entfernten, desto angenehmer wurde es wieder und desto mehr verschwanden auch die attraktiven Frauen. Ob es hier wohl ein Gesetz gab, dass hübschen Frauen den Aufenthalt außerbalb von hässlichen Städten verbot, um eine Art Balance der Ästhetik zu erschaffen? Als wir von der Hauptstraße abbiegen konnten, kamen wir damit automatisch auf eine Schotterstraße, die uns auf sehr anstrengende Weise durch ein sehr schönes Bergpanorama führte. Wir befanden uns nun direkt vor den Toren der Kaparten und morgen würde der erste Tag sein, an dem wir in einen Canyon zwischen den Bergen gelangten. Aus Erfahrung wussten wir bereits, dass die Schlafplatzsuche in solchem Gelände immer bedeutet schwieriger war und so Schlugen wir unser Zelt in einem kleinen Wald kurz vor dem Gebirge auf. Als wir den Platz auswählten, hatten wir nicht vermutet, dass es sich dabei um einen so beliebten und besuchten Ort handeln würde. Es verging kaum eine Minute, in der nicht irgendjemand auftauchte, und irgendetwas von mir wollte. Am Nachmittag hatte ich beim Wandern durch Unaufmerksamkeit und Schluderei ein großes Loch in meine Hose gerissen, das nun genäht werden musste. Ich saß also auf einer Bank und nähte, als plötzlich ein Mann auf mich zukam, der mir mehrere Minuten lang auf einer mir unbekannten Sprache (wahrscheinlich Ukrainisch) die Ohren abkaute. Dann erst verstand ich, dass es sich bei ihm um einen Zeugen Yehovas handelte, der mich bekehren wollte. Gerne hätte ich ihm gesagt, dass ich gerade ein Mönch geworden war und nicht schon wieder eine neue Religion brauchte, aber das klappte mit meiner Sprachbarriere nicht. Stattdessen wies ich daraufhin, dass ich zu tun hatte und schließlich verwschwand der Mann. Auffällig dabei war jedoch, dass er die ganze Zeit versuchte, irgendwie freundlich und hilfreich zu sein, aber nur verplant im Weg herumstand und störte. Genau das gleiche Verhalten also, dass auch ich die ganze Zeit an den Tag legte. Er war also wie ein Spiegel, der mir sagen wollte: Schau mal, das machst du die ganze Zeit und so fühlt sich das für die anderen an!

Doch er war nicht der einzige Spiegel an diesem Tag. Kurze Zeit später kam eine ganze Familie an meinen Tisch und richtete hier ein Grillfest aus. Später fanden wir heraus, dass eienr der Männer Deutsch sprach und dass ihre ersten, für mich unverständlichen Worte tatsächlich die Frage waren, ob sie sich setzen durften oder ob es mich störte. Da ich aber nicht antwortete, interpretierten sie mein Schweigen als eine Einladung. Ich zog mich zu einem Baum zurück und versuchte, so schnell wie möglich mit den Nähen fertig zu werden, da ich ja eigentlich etwas ganz anderes tun wollte. Doch es klappte nicht und je mehr ich versuchte, mich zu beeilen, desto länger dauerte es. Nun kam eine Frau, die in der Nähe wohnte und die sich ebenfalls mit mir unterhalten wollte. Sie war nett, freundlich und wollte uns sogar etwas zum Essen bringen, doch in diesem Moment war mir einfach nicht nach einer Unterhaltung zu mute und so empfand ich auch ihre Anwesenheit nicht als angenehm. Sie kam an diesme Tag noch mehrere Male und war wirklich eine liebe, fürsorgliche Frau. Nur war ich bei jeder Ankunft von ihr tiefer in meiner Gedankenspirale gefangen und konnte ihre Kontaktversuche jedes Mal schlechter nehmen. Als nun auch noch der deutschsprechende Grillmeister auf die Idee kam, dass er sich unbedingt mit uns über die kulturellen Unterschiede zwischen Deutschen und Ukrainern unterhalten musste, war ich kurz vor dem Verzweifeln. Wie sollte ich jemals weiterkommen? Gleichzeitig merkte ich aber auch, wie sehr auch er nur ein Spiegel meiner Selbst war. Auch er wollte nett und hilfreich sein, hatte aber kein Gefühl dafür, was benötigt wurde und erreichte so genau das Gegenteil. Auch er war ein Robotter, der keine Gefühle hatte und daher einfach nur nach einem bestimmten Schema funktionierte. Und genau dies war auch gerade in mir der Fall. Nur das mein Schema eben nicht mehr funktionierte und ich deswegen alles falsch oder kaputt machte.

So kam es schließlich zu der bereits beschriebenen Situation mit dem Solarsegel, das ich zwar nicht in diesem Moment zerstörte, das ich aber so sehr aus den Augen verlor, dass ich eine Reparatur verhinderte und somit wieder einmal eine unnötige Gefahr für uns und unsere Reise provozierte. Heiko kochte vor Wut über meine schier unendliche Inkompetenz und schließlich kam es zu jener folgenschweren Explosion, die uns letztlich auf die Lösung mit dem Sanktionsprogramm bringen sollte. Für eine gute Stunde war die Stimmung auf dem Tiefpunkt und es schien, als wäre ich ein so hoffnungsloser Fall, dass es keinen Sinn mehr machte, wenn wir noch zusammen unterwegs waren. Dann, mit etwas Abstand und einigen frischen Pellkartoffeln der freundlichen Nachbarin reflektierten wir noch einmal über alles und zum ersten Mal wurde mir bewusst, wo ich gerade stand. Ich war nicht mehr Tobias Krüger, aber auch noch nicht Franz von Bujor, sondern ein totes Zwischenwesen, das keine Ahnung hatte, wer oder was es war. Der Teil mit dem Sterben hatte offenbar geklappt, nur der mit der Wiedergeburt noch nicht. Noch immer versuchte ich nur zu funktionieren, konnte es aber nicht mehr, weil mein Herz sich dagegen weigerte und so baute ich nun nur noch Scheiß. Der Grund war noch immer mein abgrundtiefer Selbsthass und die Tatsache, dass ich noch immer meinen Eltern dafür die Schuld gab. Ich konnte nicht sehen, dass alles einen Sinn hatte, erwartete es aber von mir und sorgte so dafür, dass ich meine Gefühle vollkommen von mir abschnitt. Ich wollte nicht spüren, dass ich traurig war, von nun an keinen Kontakt mehr zu meiner Schwester und meinen alten Freunden mehr zu haben, dass ich Angst vor dem Leben als Mönch und vor meinen Entwicklungsschritten hatte, dass ich nicht verstand, warum ich ein Tatoo haben sollte und dass ich noch immer stocksauer auf mich und meine Eltern war. Plötzlich konnte ich nun weinen und sobald ich einmal damit angefangen hatte, rannen die Tränen nur so über mein Gesicht.

Später versuchte ich nun noch einmal weiter an meinem Statement über mein Leben als Franz zu schreiben und die neuen Aspekte mit einzubringen. Kaum hatte ich jedoch begonnen, hörte ich Heiko, der mir vom Zelt aus zurief: "Schau mal, da ist irgendein Tier an unserem Zelt und nagt an den Schnüren!" Als ich ankam entdeckte ich zwei leuchtende Augen in der Dunkelheit. Das dreiste und kein bisschen ängstliche Wesen, das zu den Augen gehörte, spielte mit mir, bis ich erkannte, dass es ein Fuchs war. Dann verschwand er für einen Moment, kam aber immer wieder zurück. Gegen zwölf Uhr legte auch ich mich ins Zelt, doch der kleine, freche Rotpelz ließ mich einfach nicht einschlafen. Drei Mal sprang ich aus dem Zelt, um ihn wieder zu vertreiben, weil er an der Wand kratzte und an den Schnüren nagte. Beim dritten Mal kam Heiko auf eine Idee. Offensichtlich war der Fuchs ein Tierbote, der meinetwegen da war, also hatte er sicher auch einen Auftrag für mich. War es vielleicht das Beste, wenn ich diese Nacht nicht im Zelt schlief, sondern draußen Wache hielt und so gleichzeitig noch einmal mehr ins Fühlen kommen konnte? Meine Muskeln sagten ja. So schnappte ich mir also meine Matte und alle meine Jacken und legte mich draußen neben das Zelt. Es fühlte sich richtig an, unter dem Sternenhimmel zu liegen und nach diesem Tag war es der perfekte Ausklang. Tiefe Erkenntnisse erhielt ich jedoch nicht und auch der Fuchs ließ sich ab diesem Moment nicht mehr blicken.

Spruch des Tages: Ich glaubt da nagt ein Fuchs

Höhenmeter: 25 m Tagesetappe: 18 km Gesamtstrecke: 17.054,27 km Wetter: sonnig und heiß Etappenziel: Jugendherberge der Stadt, Nayecsed, Ungarn

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Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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