Tag 949: Wandern in den Kapaten

von Heiko Gärtner
02.09.2016 01:54 Uhr

23.07.2016

In der Früh wurde es so kalt, dass ich nicht mehr Schlafen konnte und so stand ich auf, um mich von den ersten Sonnenstrahlen wärmen zu lassen. Wieder kam die Frau vorbei und versuchte ein Gespräch mit mir zu beginnen. Es war als wollte sie sagen: "Du armes kleines Opferwesen, lass dich doch bemuttern!" Mit der Ausstrahlung, die ich hatte, musste ich das natürlich anziehen und wahrscheinlich war es mir deswegen so sehr zu wider. Ich wollte einfach nur in Ruhe den Sonnenaufgang spüren und dafür lehnte ich sogar sämtliches Essen ab, das sie uns noch anbot. Kurz bevor wir den Canyon erreichten, trafen wir einen Radfahrer aus der Nähe von Dresden, der gerade dabei war, eine Osteuropa-Tour zu machen. Er war hauptberuflich Kirchenorgelspieler und da nun im Sommer nahezu keine Feiertage lagen, hatte er für einen längeren Zeitraum frei und konnte sich einiges von der Welt anschauen. Die Kleinstadt in die wir kurz darauf kamen, hätte eigentlich unser Rettungsanker in Sachen Ersatzteile für unsere Solarsegel sein sollen, doch leider gab es hier keinen einzigen hilfreichen Laden. Wir würden also wieder einmal improvisieren müssen.

Zu diesem Zeitpunkt war es uns noch nicht bewusst, aber mit dem Betreten des Canyons der am Ende der Stand lag, begann unsere härteste und anstrengenste Zeit auf der ganzen Reise. Die ukrainischen Kaparten saugten uns auf, würgten uns im Eilverfahren durch sich hindurch und spuckten uns auf der anderen Seite nach Ungarn wieder aus. Die ersten Vorboten waren bereits jetzt erkennbar, doch noch immer konnten wir nicht glauben, dass es noch so viel schlimmer werden würde. Der kleine Canyon in den wir kamen, war zu beiden Seiten der Straße fast vollständig bebaut worden. Zunächst waren es die üblichen Wohnhäuser, doch dann kamen auch immer mehr Familienhotels dazu. Alle waren vollkommen ausgebuch, da wir uns in der Hauptsaison befanden und so herrschte hier ein heilloses Tohuwabohu. Wenn wir uns zuvor vorgestellt hatten, wie es war, durch die ukrainischen Kaparten zu wandern, dann hatten wir stets eine menschenleere, rauhe Gegend mit endlosen Wäldern im Kopf, bei der wir aufpassen mussten, nicht ausversehen einem Bären auf die Füße zu treten. Genau dies musste dieses Gebirge auch einst gewesen sein, doch heute war es das genaue Gegenteil. Die Kaparten waren in dieser Region ein reines Ferienparadies und es gab so gut wie keinen einzigen Zentimeter, der nicht bebaut oder belagert war. Wie sollten wir hier jemals einen Zeltplatz finden?

Heute hatten wir noch Glück, denn unser Canyon sollte kein Canyon bleiben. Am Ende verwandelte sich die gut befahrene Straße wieder einmal in eine Schotterpiste, die immer steiler den Berg hinauf führte. Schließlich wurde es so steil, dass uns die Wagen für jeden Schritt den wir vorwärts gingen, einen halben Schritt wieder zurück zogen. Und doch kamen noch immer Autos an uns vorbei, die ebenfalls den Kampf mit der steilen Rollsplittpiste auf sich nahmen. Oben erreichten wir eine Alm mit einem Ski-Gebiet, das nun voller Touristen und Sommerwanderer war. Auch hier gab es noch Ferienhäuser und auch hier hatte man es geschafft, eine umtriebigkeit zu erzeugen, die einem das Gefühl gab, auf einem Marktplatz zu sein. Wir kletterten ein Stück auf einen Berghang hinauf und machten ein Picknick um dabei ein wenig die Menschen zu beobachten. Das Ferienhaus vor uns wurde von einer Familie mit mehreren Jugendlichen bewohnt, die alle so gelangweilt wirkten, als wäre dies ein Jugendknast und kein Urlaub.

Wenn wir gedacht hatten, dass die Straße, die uns hier her geführt hatte, nahezu unpassierbar war, dann lag das nur daran, dass wir die für den Abstieg noch nicht kannten. Sie war noch einmal um einiges Steiler und bestand nun auch noch aus dicken Findlingen, die kreuz und quer auf dem Boden lagen. Es war keine Straße mehr, es war ein Flussbett! Doch noch immer fuhren die Autos und zwar ganz normale Rostschüsseln, ohne jeden Allradantrieb oder sonstige Offroad-Fähigkeiten. Wenn sie auf de gesamten Strecke nach oben nur ein einziges Mal bremsen mussten, hatten sie verloren. Nur durch den Schwung war die Fahr überhaupt möchlich. Die absolute Krönung war jedoch ein Motorradfahrer, der uns entgegen kam. Er fuhr eine ganz gewöhnliche Straßenmaschine, was allein schon ein Wahnsinn war. Dazu aber fuhr er einhändig mit der linken Hand am Steuer und hielt mehrere zwei Meter lange Bretter in der rechten Hand. Mit dieser Transporttechnik auf einer normalen Straße zu fahren, war bereits mehr als nur halsbrecherisch, aber kombiniert mit diesem Aufstieg grenzte es an ein Wunder. Dabei fuhr der Mann mit einer Sicherheit und einer Gelassenheit, die auf der Welt erst einmal etwas vergleichbares finden musste.

Auf etwa halber Höhe bis ins Tal kamen wir an einen verlassenen Rohbau, bei dem nur der Keller errichtet worden war. Hier geschützt unter den Betondecken errichteten wir für heute unser Zelt. Erst waren wir unsicher, ob es wirklich ein guter Platz war, doch im Nachhinein war es nicht nur der beste, den wir hätten finden können, es war auch auf einer Strecke von mehr als 20km der einzige. Spannend aber war, dass wir nicht die einzigen waren, die diesen Platz für sich entteckt hatten. Fast im Minutentakt kamen Spaziergänger und Radfahrer hier her, die den Rohbau als Aussichtsplattform nutzten. Nicht, dass man von hier aus eine gute Aussicht gehabt hätte, aber es gab eben sonst keien Attraktionen in der näheren Umgebung. Hier, versteckt im Bauch des Betonbunkers, kam Heiko schließlich darauf, was uns der Fuchs uns hatte mitteilen wollen. Der neue, trickreiche und zugleich heilsame Umgang mit Wut und Selbsthass.

Spruch des Tages: Wer hätte gedacht, dass hier sogar die Bauruinen Sehenswürdigkeiten sind?

Höhenmeter: 22 m Tagesetappe: 19 km Gesamtstrecke: 17.073,27 km Wetter: sonnig und heiß Etappenziel: Gemeindehaus der griechisch-katholischen Kirche, Nyircsaszari, Ungarn

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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