Tag 959: Fehler vertuschen

von Heiko Gärtner
06.09.2016 04:24 Uhr

03.08.2016

Heute war es endlich soweit! Die ungarische Grenze lag zum Greifen nahe und es waren nur noch wenige Kilometer, bis wir die Ukraine hinter uns lassen konnten. Um ihrem Stil treu zu bleiben verabschiedete sie sich noch einmal mit einem Feuerwerk an Highlights und Skurrilitäten. Das beste davon war die Frau, die eine laut polternde Schubkarre über die löchige Schotterstraße schob. Die Karre polterte deswegen so stark, weil sie kein Rad mehr hatte, sondern auf der Felge fuhr. Beim näherkommen erkannten wir, was sich in der Karre befand: Es war das eigene Rad. Als wir das sahen mussten wir so sehr anfangen zu lachen, dass auch die Frau nicht mehr ansich halten konnte. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie lächerlich ihre Tat für einen Außenstehenden wirken musste. Ich glaube, so viel Freude hatte sie schon lange nicht mehr. Insgesamt war uns aufgefallen, dass die Menschen hier nur sehr wenig lachten oder scherzten. Es gab peinlich berührtes Lachen oder hin und wieder einmal Schadenfreude, aber echtes, herzliches und gemeinschaftliches Lachen war uns bislang noch gar nicht aufgefallen.

Kurz vor der Grenze steigerte sich das Straßenchaos noch einmal ins Unerträgliche. Was all die vielen Menschen hier wollten und warum sie wie wild in der Gegend herumheizten, war uns ein Rätsel, doch es schien als hätte jemand ein Preisgeld für den unangenehmsten Verkehrsteilnehmer ausgesetzt. Der absolute Topfavorit in diesem Sektor war eine Art Minitraktor mit Außenmotor. Nich nur dass er lauter war als ein startender Düsenjet und dabei eine Höchstgeschwindigkeit von vier km/h erreichte. Er bließ auch eine dicke, schwarze Rauchwolke in den Himmel, die durch den, zwar äußerst geringen, aber trotzdem vorhandenen Fahrtwind, direkt in die Gesichter des Fahrers und Beifahrers wehte. Konnte man sich mit einer Fortbewegungsmethode noch mehr selbst schaden und nerven, als mit dieser?

Auf den letzten Metern vor der Grenze steigerte sich der Tummult noch einmal, denn hier gab es nun auch eine Art Basar, auf dem lauter Billigware aus China angeboten wurde, die aber immer mit "Ungarische Qualität" übertitelt war. Jeder, der auch nur ein einziges Mal ein Stück Kleidung in der Hand gehalten hatte wusste, dass es wertloser Ramsch war, doch die Leute kauften wie verrückt und jagten von einem Schnäppchen zum nächsten. Da wir selbst uns nicht mit derartigem Ballast belasten wollten, tauschten wir unser restliches, ukrainisches Geld an der Grenze gegen Euro ein. Laut offiziellem Wechselkurs hätten wir eigentlich etwas über 70€ dafür bekommen sollen, doch die Dame am Schalter gab uns 100€ heraus und meinte, dass es so stimmt. Einige der Scheine wirkten auf uns etwas seltsam, was entweder daran lag, dass sie komplett neu waren, oder dass sie uns Blüten untergejubelt hatte. Möglich war beides. Wenn die Scheine Echt waren, hatten wir 30€ gewonnen, waren sie falsch hatten wir den gleichen Betrag verloren. Da wir aber ohnehin alles geschenkt bekommen hatten, spielte das im Moment keine große Rolle.

Gegenüber der Grenze war der Basar davor jedoch ein Kindergarten. Die Autos reihten sich hier Kilometerweit auf und wurden alle systematisch kontrolliert. Zum ersten Mal waren wir jedoch nicht die einzigen Fußgänger. Es gab dieses Mal sogar einen gesonderten Fußgängerbereich, durch den man wandern musste und auch hier gab es eine kleine Schlange mit wartenden Grenzgängern. Die meisten von ihnen hatten prall gefüllte Einkaufstüten unter den Armen.

Mit dem Grenzübertritt war es, als würden wir in eine völlig neue Welt eintauchen. Auf der ukrainischen Seite war es laut, hektisch ungemütlich und voll von Abgasen gewesen. All dies war nun wie mit einem Messer abgehackt und plötzlich kamen wir in eine ruhige, entspannte und angenehme Gegend. Noch immer gab es Verkehr und noch immer gab es kläffende Hunde in den Gärten, aber alles wirkte bedeutend friedlicher und harmonischer. Hier erkannte man plötzlich eine Baseline.

Wir durchwanderten zwei kleine Orte und mit jedem wurde es noch ein bisschen ruhiger. Auffällig war, dass auch hier wieder unglaublich viele Sinti und Roma lebten, die teilweise mehr als die Hälfte der Ortschaften in ihrem Besitz hatten. Anders als in Bulgarien gab es hier aber keine Slums. Sie waren vielmehr direkt in die Dörfer integriert, wenngleich ihre eigenen Häuser noch immer heruntergekommen und verwahrlost wirkten.

Im dritten Ort machten wir eine kleine Pause an der Kirche. Wie lange wir schon keine Pausen mehr in Ortschaften machen konnten, weil diese immer unangenehm waren, konnten wir nicht einmal mehr sagen. Hier jedoch gab es einen schönen Platz in einem kleinen Park, an dem man gerne etwas verweilte. Nach der Stärkung machte ich mich auf, um nach einem Schlafplatz zu fragen. Auch dies hatten wir schon seit langer Zeit nicht mehr gemacht und es fühlte sich fast fremd an. Zunächst schien es, als hätten wir damit keinen Erfolg. Die Sprachbarriere war gigantisch und die Menschen hier waren viel zu ängstlich, um einen Fremden in ihr Dorf zu lassen, den sie nicht einmal verstanden. Dann aber war es gerade diese Angst, die uns die Läsung schenkte. Einige der Frauen im Ort geriehten schier in Panik über die beiden verschmutzten, Vagabunden, die mit ihren schlammigen Ziehwägen und ihren zerrissenen Kleidern vor ihren Grundstücken herumlungerten.

Ihre Angst war so groß, dass sie den Pastor dazu überredeten, die Polizei zu rufen. Als wir gerade an einem öffentlichen Wasserhahn unsere Kleider wuschen (man bemerke bitte: Es gab hier einen öffentlichen Wasserhahn!), kam ein Streifenwagen mit drei Polizisten und einer ukrainischen Grenzbeamtin um unsere Ausweise zu kontrollieren. Einer der Beamten sprach jedoch Deutsch und so konnten wir ihm recht gut erklären, wer wir waren und dass wir keine bösen Absichten hatten. Nun kam noch eine weniger ängstliche Anwohnerin hinzu, die sich über die Panikmache ihrer Nachbarn ärgerte und die beschloss, die Sache in die Hand zu nehmen. Gemeinsam mit dem Polizistendolmetscher und ihr gingen wir zum Pfarrhaus und wenige Minuten später bekamen wir ein Gästezimmer mit Dusche und allem drum und dran. Auch der Pastor und seine Frau sprachen recht gut Deutsch und trauten sich nun auch es anzuwenden. Wir bekamen eine heiße Suppe, Maiskolben und eine Brotzeit und fühlten uns zum ersten Mal seit langem wieder wirklich willkommen. Den Rest des Tages verbrachten wir damit, all unsere Kleidung zu waschen und die wichtigsten Reparaturarbeiten an unseren Wagen zu erledigen.

Und genau bei einer dieser Reparaturaktionen fiel ich wieder einmal in ein altes Muster zurück mit dem ich mir und Heiko das Leben unnätig schwer machte. Das Hauptproblem war immer noch die extreme Hektik in mir. Das System war immer wieder das gleiche und eb begleitete mich schon mein ganzes Leben. Jetzt wurde es mir nur bewusst und dadurch wurde es gerade noch einmal schlimmer. Ich hatte das Gefühl keine Zeit zu haben, weil es 100.000 Sachen zu erledigen galt. Am liebsten würde ich alles auf einmal machen und sofort abreißen und abschließen, damit mein Kopf wieder frei ist. Ich hatte das Gefühl, dass ich erst dann wieder locker und entspannt sein kann, wenn alles erledigt ist. Dadurch verfiel ich in einen Dauerstress, durch den ich vollkommen unkonzentriert wurde. Ich war nie bei der Sache. Wenn wir wanderten war ich in Gedanken schon am Ankommen und Losschreiben, wenn wir eine Pause machten war ich in Gedanken bereits beim Weiterwandern, wenn ich schrib war ich in Gedanken schon wieder beim nächsten Text und so weiter. Mein Leitsatz lautete daher: "Schnell, schnell, schnell, bloß keine Zeit verlieren!" Darum nahm ich mir für nichts richtig Zeit und vor allem nicht zum Nachdenken. Ständig kam es so zu unvermittelten Kurzschlussreaktionen. Ich sah ein Problem oder eine Aufgabe, reagierte automatisiert mit einer vollkommen unüberlegten Handlung und machte irgend einen Scheiß, der alles kaputt machte. In diesem Fall war es, dass ich das Deichselaufhängungsband meines Wagens ausbauen wollte, damit ich es nähen konnte. Nur noch schnell die Schraube lösen, dann kannst du auch diese Aufgabe abhaken!

Dabei habe ich keine einzige Sekunde damit verbracht, mir die Schraube einmal anzusehen, so dass ich hätte bemerken können, dass sie voller Dreck war, so dass der Schraubenschlüssel nicht greifen konnte. Sie wollte sich nicht sofort lösen, weil sie vom Schweiß und Staub komplett verpekt war und so riss ich mit voller Kraft an. Es gab einen Ruck und die Schraube war ausgeleiert, so dass man sie nicht mehr drehen konnte. Hätte ich an diesem Punkt inne gehalten und gesagt: "Alles klar Franz, du hast wieder einmal deinen üblichen Scheiß gebaut, also betrachte die Situation in Ruhe, gehe alle Lösungsmöglichkeiten durch, die dir einfallen, besprich dich mit Heiko, weil du ja weißt, dass du alleine die Sache gerne verschlimmerst und schau dann ganz in Ruhe, was getan werden kann und was nicht."

Doch stattdessen reagierte ich mit meinem zweiten, automatischen Standartprogramm. Ich erkannte, dass ich Scheiße gebaut hatte, bekam sofort das Gefühl, deswegen nicht mehr geliebt zu werden und ein schlechter Mensch zu sein und versuchte daher meinen Fehler wieder ungeschehen zu machen. Es ging mir nicht darum, eine Lösung zu finden, die am Ende funktioniert. Es ging mit darum, die Sache so zu drehen, dass es aussehen musste, als hätte es nie ein Problem gegeben. Sogar ein aussichtsloser Zustand, bei dem das Problem noch immer bestand, es aber wirkte, als wäre es nicht meine Schuld, war für mich eine akzeptable Möglichkeit. Mein Hauptproblem waren also nicht meine Fehler, sondern meine Angewohnheit, nicht dazu stehen zu können und stets zu versuchen, sie zu verbergen. So griff ich zu weiteren vollkommen unüberlegten Handlungen, versuchte die Schraube mit Gewalt trotzdem zu lösen, sprühte Karamba hinein, so dass sie nun auch noch glitschig wurde und machte sie am Ende ganz kaputt. Erst jetzt war ich soweit, dass mir einleuchtete, dass der Fehler da war und sich nicht Rückgängig machen ließ. Alleine kam ich nicht weiter. Ich musste also Heiko um Hilfe bitten. Dieser war natürlich wenig erfreut darüber, dass er wieder einmal meinen Scheiß ausbaden sollte. Dass er merkte, dass ich bereits alles soweit versemmelt hatte, dass auch er nichts mehr ausrichten konnte, machte es nicht wirklich besser. Für die nächsten drei Stunden versuchte ich, die Schraube mit Hilfe einer Säge irgendwie wieder frei zu bekommen, doch auch diese Variante blieb ohne Erfolg. Ich hatte es also wieder einmal geschafft, einen ganzen Nachmittag zu vergeuden, ohne nur ein Stück weit voranzukommen, nur weil ich eine einzige unüberlegte Handlung begannen hatte und nicht dazu stehen konnte.

Doch wie kam es dazu, dass ich ständig diese Fehlerschlaufen machte und mich dabei immer und immer wieder genau gleich verhielt? Heiko und ich sprachen lange darüber und schließlich brachte er mich auf die Lösung. In meinem Kopf hatte ich einige Lügen als feste Glaubenssätze verankert. Einer davon war, dass ich nichts richtig machen konnte, ein weiterer, dass ich nie genügend Zeit hatte und ein dritter, dass ich nur dann geliebt wurde, wenn ich fehlerfrei war. Alle drei gemeinsam bildeten dann meine übliche Schlaufe. Ich habe keine Zeit, also werde ich hektisch und unkonzentriert.

Da ich davon überzeugt bin, nichts gut machen zu können, führte dieses Hektik natürlich automatisch zu neuen Fehlerteufeln und der Versuch, diese zu vertuschen machte alles nur noch schlimmer. Im Nachhinein betrachtet, war diese Situation unglaublich wichtig, um mir dieser Gedankenschleife überhaupt einmal bewusst zu werden, doch in dem entsprechenden Moment sah ich das etwas anders. Mein Selbsthass kochte wieder einmal über und ich verfluchte mich in Grund und Boden. Plötzlich zweifelte ich alles an, was wir in den letzten Tagen erkannt hatten und wieder einmal glaubte ich, dass ich niemals einen Fortschritt machen würde. Eine unendliche Angst stieg in mir auf. Wenn ich nun wirklich für all meine Fehler eine Konsequenz bekam, würde ich diese dann überhaupt aushalten? War ich in der Lage zu lernen, oder würde ich einfach irgendwann erschlagen werden, ohne einen einzigen Lernschritt gegangen zu sein. Mein Verstandesgegnet wetterte wieder einmal gegen alles und versuchte, mich zu überreden, einfach aufzugeben und gar nichts mehr zu machen. Bleib doch einfach der Trottel, der du bist, so schlimm war das doch gar nicht! Geh nach hause, bau wieder eine Scheinwelt auf und vergiss einfach dass du ein wahres Sein hast.

Du wirst es ja eh nie wirklich leben können, warum also willst du es überhaupt versuchen? Ich spürte, dass ich Angst hatte, wahnsinnige Angst davor, ich selbst zu sein und dies auch nach außen zu tragen. Ich hatte Angst vor der Veröffentlichung des Textes über meinen Wandel, vor den Mails an meine Schwester und meine Freunde und vor der Vorstellung, ein Tattoo zu tragen. All dies überkam mich nun wie eine Welle der Panik. Und wieder einmal war ich dabei, mir zu wünschen, dass alles anders war, als es nun einmal war. Ich konnte den Ist-Zustand einfach nicht annehmen. Irgendwann, wenn ich keine Angst mehr hatte und wirklich ich war, wenn ich zu mir stehen konnte und in die Erleuchtung kam, dann konnte ich mich auch lieben und die Dinge so annehmen, wie sie waren. Aber jetzt nicht. Doch genau darum ging es. Ich war nun einmal eine Muschi, die sich vor allem fürchtete und die vollkommen lebensunfähig war. Das war mein Ist-Zustand und dieser war vollkommen in Ordnung. Es war der beste Zustand um von hier aus zum Erwachen zu gehen, denn so konnte ich die größten Lernschritte machen und die Liebe optimal ausdehnen. Wenn diese Überzeugung doch nur vom Papier auch in meinen Kopf und in mein Herz fließen würde!

Zumindest was meinen Wagen anbelangte, schaffte ich es schließlich, den Ist-Zustand zu akzeptieren. Die Schraube ließ sich nicht lösen und so musste ich meine Deichselaufhängung einfach direkt am Wagen nähen. Es dauerte die halbe Nacht, aber es gelang.

Spruch des Tages: Lass mich, ich kann das! ..... Oh, kaputt.

Höhenmeter: 80 m Tagesetappe: 24 km Gesamtstrecke: 17.293,27 km Wetter: sonnig und heiß Etappenziel: Sozialwohnung der Stadt, Hencovce, Slowakei

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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