Tag 962: Traditionelles, ungarisches Gulasch

von Heiko Gärtner
06.09.2016 05:06 Uhr

06.08.2016

Über Nacht war Heikos Auge so sehr zugeschwollen, dass er nun kaum noch daraus sehen konnte. Sein ganzes Gesicht war durch die Schwellung so sehr verändert, dass er wirkte, wie ein vollkommen anderer Mensch. Natürlich war es nicht angenehm, dass er diese riesige, juckende Beule hatte, aber irgendwie war es auch interessant zu beobachten, was für eine immense Wirkung so kleine Änderungen in der Gesichtskontur hatten. Mit meinen Wassereinlagerungen im Gesicht war es ja ähnlich. Langsam verstanden ich nun, wieso man anhand der typischen Gesichtsformen auf die Persönlichkeit eines Menschen schließen konnte. Wir glauben oft, dass unser Gesicht wie in Stein gemeißelt ist und sich nicht verändert. Doch das stimmt nicht. Es sind winzige Details, aber sie machen eingen großen unterschied aus. Und viele dieser kleinen Details hingen direkt von unsere Psyche ab.

Als die Frau des Pfarrers Heikos Gesicht sah, fiel sie aus allen Wolken und schleifte ihn gleich erst einmal zur Apotheke, wo er ein Antiallergikum bekam. Nach dem Frühstück zogen wir weiter und dieses Mal kamen wir sogar die ganze Strecke ohne eine Schlammpiste aus. Sanktionen gab es heute nicht, da Heiko ja außer Gefecht gesetzt war. Sie wurden dann auf den nächsten Tag verschoben. Schließlich erreichten wir eine Kleinstadt mit rund 5000 Einwohnern und einem beeindruckend großem Kirchengelände. Leider war dieses vollkommen verlassen und trotz mehrfacher Versuche gelang es uns nicht, den Pfarrer ausfindig zu machen. als Trostpreis fragten wir in einer Eisdiele nach einem Eis und bekamen zusätzlich gleich noch Hilfe bei der Schlafplatzsuche. Der Eisverkäufer ließ nicht locker und nach der fünften Absage gelang es ihm, einen Platz für uns in einer Art Jugendherberge aufzutreiben, die gerade renoviert wurde. Als wir dort eintrafen, fanden wir sie ebenfalls verlassen vor und so klingelten wir erst einmal beim Nachbarn, um nachzufragen, ob wir an der richtigen Adresse waren. Die gesamte Familie saß hinten im Garten, verteilt auf einige Stühle, eine Picknickdecke und zwei Planschbecken. Ein kugelrunder Mann, der es sich mit seiner Frau in eine der Planschbecken gemütlich gemacht hatte, sprach sehr gut Deutsch und nahm sich unserer an. In seiner knappen Badehose begleitete er uns auf die Straße, um sich einen Überblick zu verschaffen. Die Adresse stimmte und nach wenigen Minuten brachte er auch in Erfahrung, dass die Hausverwalterin auf dem Weg war. Um die Wartezeit angenehm zu überbrücken wurden auch wir zur Familienfeier eingeladen. Wir nahmen jedoch auf Stühlen und nicht im Pool Platz und freuten uns über Saft, Wasser und Kuchen. In einem großen Topf über einem Gasfeuer köchelte ein traditionelles Gullasch vor sich hin. Bevor wir in unsere Herberge gingen, mussten wir versprechen, dass wir am Abend noch einmal wiederkommen würden, um an dem großen Festessen teilzunehmen.

Die Herbergsleiterin war eine kleine, dicke, gemütliche Sinti-Frau, die uns alles in Ruhe zeigte und dann sogar noch etwas zum Essen vorbei brachte. Der dicke Mann aus dem Pool begleitete uns dabei als Dolmetscher, wobei er noch immer nichts trug, außer seiner Badehose. Er strahlte dabei so eine Selbstverständlichkeit aus, dass sich deswegen auch niemand wunderte. Zu unserer Herberge gehörte sogar ein kleiner Swimmingpool, in dem wir es uns am Nachmittag auch noch einmal für einen Moment bequem machten. Besonders erfrischend war er allerdings nicht, denn das Wasser hatte sich durch die Sonne auf die Temperatur von frischem Urin erwärmt.

Gegen 19:00 gingen wir dann wieder zu den Nachbarn, um das Gullasch zu probieren. Es war noch immer nicht fertig und so wurden wir erst noch ein wenig in die Kunst des Kochens eingeweiht. Insgesamt brauchte der Eintopf fünf bis sechs Stunden, bis er richtig gar war. In dieser Zeit sog sich das Paprikagewürz tief ins Fleisch ein und sorgte so für den einzigartigen Geschmack. Der Koch war ein klatzköpfiger Mann in den Siebzigern, der fast die gleiche Figur hatte, wie unser Gastgeber. Man merkte, dass er das Kochen aber auch das Essen liebte. Bei Tisch zeigte er uns später ein Foto von sich selbst aus früheren Zeiten. Damals war er Fußballspieler gewesen, war vollkommen schlank und durchtrainiert. Seitdem hatte sich einiges verändert, aber seinen Humor hatte er nicht verloren. Obwohl wir kein Wort von ihm verstanden, mussten auch wir bei seinen Geschichten mitlachen, einfach nur, aufgrund der Art, wie er sie erzählte. Das Gullasch selbst war ein absoluter Traum. Wie man anhand der Figuren unserer Gastgeber schon vermuten konnte, waren sie nicht geizig, was das Essen anbelangte und so wurden wir fast bis zum zerbersten gemestet. Als wir fertig waren gab es noch einmal Kuchen und dann mussten wir uns zurück in unsere Herberge rollen.

Spruch des Tages: Gut Ding will Weile haben!

Höhenmeter: 390 m Tagesetappe: 41 km Gesamtstrecke: 17.387,27 km Wetter: sonnig und heiß Etappenziel: Zeltplatz auf einem Feld hinter dem Friedhof, 10km vor Stulany, Slowakei

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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