Tag 1269: Das Tattoo-Ritual

von Franz Bujor
01.11.2017 15:50 Uhr

26.06.2017

Eine lange Nacht wurde es nicht, am wenigsten für Heiko. Denn irgendetwas wütete in ihm und ließ ihn kaum einen Moment schlafen. Er hatte wilde, aufwühlende Träume und befand sich ständig zwischen Schwitz- und Schüttelfrostattacken. Da auch Shania und ich bereits recht früh wach waren, beschlossen wir schließlich bereits um 7:15 Aufzustehen und uns auf den Weg zu machen. Immerhin hatten wir heute ja noch einiges vor und da konnte es nicht schaden, ein bisschen früher anzukommen.

Heute war der beginn eines Prozesses, der die nächsten Zwölf Tage andauern sollte. Zunächst dachte ich, das es einfach nur darum ging, mir ein paar Kraftsymbole auf den Rücken zu tätowieren, die mir dabei helfen sollten, zu mir zu stehen. Klar war es auch ein Ritual, doch was dies bedeutete, wurde mir erst im Laufe des Prozesses so richtig bewusst. Nach außen hin waren die nächsten Tage eher ereignislos und unspektakulär. Die meiste Zeit wanderten wir durch Regen, Wind und Wiesen und waren jedes Mal froh, wieder irgendwo innen anzukommen. Das Tattoo-Stechen selbst löste jedoch eine ganze Kette an Prozessen, Erkenntnissen und Themen aus, die alle irgendwo miteinander verbunden waren und die sowohl Shania als auch mich auf eine Weise weiter brachten, die wir uns nie hätten vorstellen können. Dabei spielte auch das Außen stets auf eine Weise mit, die uns sowohl unterstützte als auch forderte und sich im Nachhinein immer als optimal für unseren Lernprozess entpuppte. Darrel hatte damals stets gesagt, dass man ein Ritual daran erkennen kann, das die Umwelt auf einen reagiert. Daran gemessen kann man sagen, dass es sich wirklich um ein kraftvolles Ritual handelte, das fast ein bisschen den Anschein erweckte, als würde es alles andere um sich herum anordnen. Gerade heute am ersten Tag war es wichtig, so viel Zeit wie nur irgend möglich zu haben, da wir ja zunächst die Linien vom Papier auf meinen Rücken übertragen und mindestens einmal nachstechen mussten, damit am Ende nicht die Hälfte fehlt. Es kam also nicht ungelegen, dass wir bereits nach 12km an eine vereinsamte Kirche kamen, die nur noch für Weihnachtsgottesdienste verwendet wurde. Ein kurzer Anruf beim Pfarrer brachte grünes Licht: „In der Kirche könnt ihr bleiben so lange ihr wollt! Sie ist offen und wird ohnehin nicht mehr gebraucht!“

Wir konnten also gleich um kurz vor 12:00 Uhr mit den Tattoo-Vorbereitungen beginnen. Und wie wir es bestellt hatten, gab es in der Kirche einen kleinen versteckten Hinterraum, in dem wir uns ans Werk machen konnten, ohne Gefahr zu laufen, dabei von auftauchenden Kirchenbesuchern überrascht zu werden.

Tagebuch des Tattoo-Rituals: Tag 1

Vorbereitung, Technik und Durchführung

Zunächst ging es nun einmal daran, alles soweit vorzubereiten, dass wir das Tattoo überhaupt stechen konnten. Was dazu alles nötig ist, wie man es macht und was ein handgestochenes Tattoo genau ist, habe ich im Artikel „Selbsttätowieren per Hand“ noch einmal genauer beschrieben.

Der Beginn

Während sich Heiko und Shania um die praktischen Vorbereitungen kümmerten, setzte ich mich bereits in dem kleinen, versteckten Hinterräumchen auf einen Stuhl und versuchte mich mental auf das kommende Ritual einzustellen. Vor meinem geistigen Auge stellte ich mir das fertige Tattoo vor und lud dabei alle Krafttiere ein, die nun in den nächsten Tagen auf meinem Rücken erscheinen sollten. Naja, fast alle, denn über die Präsenz von einigen von ihnen war ich mir zu diesem Zeitpunkt nicht einmal bewusst. Ich lud den Adler als Boten der Freiheit ein, den Bären als mein persönliches Krafttier, den Wolf als Mentor, den Büffel als Boten der Gelassenheit und der Hingabe, sowie Mutter Erde und Vater Universum und alle Spirits und Geistwesen, die sonst noch helfen wollten. Dass auch der Rabe und der Coyote ein Teil des Tattoos werden würden, wurde mir erst später bewusst. Ebenso wie die Tatsache, dass der Büffel die Verbindung zu Mutter Erde verkörperte und als weiße Büffelfrau auch die Energielinie zu allen indianischen Ritualen und zu Heikos und Shanias Lebensaufgabe erstellte. Was immer dies auch bedeuten mag.

Dann kamen die beiden anderen zu mir herein und wir begannen mit der Umsetzung des Rituals. Die erste große Herausforderung, der ich nun gegenüber stand, war, dass ich mein T-Shirt ausziehen musste, obwohl es in dem Raum gerade einmal 14 °C hatte. Von Kälte bin ich ja immer nicht so ein großer Fan, aber auch dies gehörte zu den Lernaufgaben während des Prozesses.

Lektion 1: Es entsteht so, wie es entstehen will

Shania desinfizierte meinen Rücken mit Alkohol und brachte die Übertragungscreme auf, während Heiko und ich die Tattoo-Vorlage zusammensetzten, die bislang noch aus vier Einzelteilen bestand. Gleich beim Auftragen der Vorlage auf meine Haut standen wir vor dem ersten größeren Problem und vor der ersten Erkenntnis über mich selbst. Mein Rücken und meine Schultern sind vollkommen unsymmetrisch. Der Abstand zwischen Wirbelsäule und rechter Schulter ist einen guten Zentimeter länger, als der zur linken Seite.

Es war also vollkommen unmöglich, die Vorlage symmetrisch aufzubringen und obwohl die beiden genau ausmaßen, wie es optimal sein müsste, befand sich der Mittelpunkt des Tattoos am Ende nicht auf meiner Wirbelsäule, sondern leicht rechts daneben. Noch war es nur aufgemalte Farbe, die man jederzeit hätte wegwischen können, doch wir hatten nur diese eine Vorlage. Eine Korrektur war nur möglich, wenn wir das Bild noch einmal vollkommen neu von Hand zeichneten. Die Frage war nun also: „Sollte das Tattoo trotzdem so gestochen werden, obwohl es nicht perfekt saß, oder sollte ich es noch einmal neu machen? Wir überprüften die Antworten mit dem Muskeltest, doch ich wusste bereits zuvor, wie sie ausfallen sollte.

Von toter Scheinharmonie zur Dynamik des Lebens

Dies war der Moment, in dem ich zum ersten Mal verstand, was es bedeutete, dass man diesen Prozess fließen lassen muss, wenn er seine volle Wirkung entfalten soll. So wie es bei Shanias Tattoos darum geht, eine Harmonie zu erzeugen und eine besondere Ästhetik zu erzielen, die ihren Medizinkörper nach all den Negativ-Filmen wieder zum Vorschein kommen lässt, geht es bei mir gerade um das Durchbrechen der toten Harmonie, in der ich mich immer wieder verfange. Ich habe das Gefühl, dass mein Körper zu 100 % unversehrt sein und bleiben muss, um meine Mutter nicht zu enttäuschen. Dabei geht es weniger um meine echte Mutter, als viel mehr um das Konzept von ihr, dass ich in Gedanken und Überzeugungen noch immer mit mir herumtrage und von dem ich mich noch immer nicht lösen konnte. In dem Moment, in dem mir die beiden von dem Ergebnis auf meinem Rücken erzählten, fiel mir sofort eine Geschichte ein, die ich vor langer Zeit erzählt bekommen hatte. Sie handelte von einem Mann, der auf einem Marktplatz stand und dort allen sein makelloses, perfektes Herz zeigte, das trotz der bereits gelebten Lebensjahre noch immer aussah, als wäre es gerade vom Band gelaufen. Die Menschen staunten und bewunderten ihn dafür, bis ein zweiter Mann in die Mitte des Kreises trat. Auch er öffnete seinen Brustkorb und zeigte den Menschen sein Herz. Es war unzählige Male zerstückelt und wieder zusammengesetzt worden, hatte Flicken, Narben und Verfärbungen, war an einigen Stellen unförmig und an anderen überaus kräftig und gesund. „Dies ist mein Herz!“, sagte er, „es ist nicht schön und nicht perfekt und es trägt die Spuren meines Lebens. Doch es trägt sie, weil ich gelebt habe. Jede Narbe, jede Verformung und jeder Flicken erzählt eine Geschichte und keine einzige davon möchte ich verpasst oder nicht erlebt haben.“

Ich bin der erste Mann, dessen Ziel es war, sein Herz, seinen Körper und sein Leben ohne bei seinem Tod Gebrauchsspuren wieder an seinen Schöpfer zurückzugeben. Wie ein Buch, das man in Originalverpackung in eine Vitrine stellt, ohne es je zu lesen. Es mochte vielleicht ganz nett aussehen, war aber vollkommen nutzlos und konnte seine Bestimmung niemals erfüllen. Es war tot, da es nie zu leben begonnen hatte. Und diesen Zustand der toten, leblosen Unversehrtheit wollte ich nun hinter mir lassen. Unabhängig von jeder Symbolik, die sich in meinem Tattoo verbirgt, ist dies bereits die erste große Kraft, die es für meinen Heilungs- und Wandlungsprozess in sich trägt.

Fortsetzung folgt...

Spruch des Tages: Das Ritual hat begonnen!

Höhenmeter: 190 m

Tagesetappe: 32 km

Gesamtstrecke: 23.298,27 km

Wetter: Regen, Wind oder beides

Etappenziel: Kirche, Hyndford Bridge, Schottland

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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