Tag 947: Gefühlsketten im Traum

von Heiko Gärtner
02.09.2016 01:20 Uhr

21.07.2016

Bis um 23:00 Uhr schrieb ich an meinem Bericht über das Ritual und die Erkenntnisse, die ich in letzter Zeit gewonnen hatte. Teilweise floss es aus mir herau, teilweise überhaupt nicht und noch immer lastete irgendetwas in meinem inneren, das mich blockierte. Als ich zurück ins Zelt kam, wurde dies deutlich. Der Reißverschluss, den ich neu eingebaut hatte, hatte sich mit dem alten verhakt, so dass Heiko im Inneren eingesperrt war. Um sich zu befreien brauchte er meine Hilfe, doch ich verstand einfach nicht, was ich tun sollte und tat deswegen irgendetwas, wodurch die Sache natürlich nicht besser wurde. Irgendwann verlor Heiko die Geduld und wurde fuchtig. Am Ende klappte es zwar, doch die Situation war ein deutlicher Stellvertreter für meine Allgemeinsituation im Moment. Seit meinem Ritual und meinem Entschluss Franziskus zu sein, war nichts besser geworden. Im Gegenteil, ich was sogar noch unaufmerksamer, tollpatschiger, langsamer und begriffsstutziger als zuvor. Die Frage war nur, woran das lag. Aus irgendeinem Grund war ich vollkommen verunsichert. Ich hatte so eine Angst davor, etwas falsch zu machen, dass ich am Ende entweder überhaupt nichts mehr tat, oder wirklich alles falsch machte. Wir führten ein längeres Gespräch darüber und machten noch einmal einige Austestungen. Mein zentrales Problem war einfach meine Angst. Ich hatte Angst vor allem und sogar vor meiner Angst selbst.

Ich wollte sie mir nicht anschauen und konnte mich ihr deshalb auch nicht stellen. Ich hatte noch immer Angst davor, dass ich mich selbst nicht mögen würde, wenn ich mich wirklich anschaute. Ich trug einen Todesangstkonflikt, einen Geborgenheitskonflikt, verschiedene Selbstwertkonflikte und vieles mehr in mir, das noch immer unbearbeitet und ungelöst war. Mein Problem war, dass ich den Weg nicht akzeptieren konnte. Ich schaffte es nicht, ein Schüler zu sein, auch wenn ich es gerne wollte. Darum wechselte ich stets zwischen zwei Zuständen. Entweder ich fühlte mich vollkommen nutzlos, glaubte, dass ich überhaupt nichts konnte und hasste mich dafür selbst, oder aber ich bildete mir ein, bereits alles verstanden und gelernt zu haben und landete dadurch in einer gnadenlosen Selbstüberschätzung und Großkotzigkeit, von der ich schließlich wieder in den Zustand des Selbstzweifels fiel. Was mir nicht gelang war, anzunehmen, dass ich am Anfang eines Weges war. Mir selbst ohne Umschweife und Verschönerung anzuschauen, wo ich gerade stand und dies als perfekten Ausgangspunkt zum Lernen und Entwickeln anzunehmen. Ja, ich war ein Depp, machte vieles falsch, hatte tausend Ängste und hatte von unglaublich vielen Dingen keine Ahnung. Aber das war in Ordnung. Es war kein Grund, mich zu schämen, mich schlecht zu fühlen oder mich selbst dafür zu verurteilen. Aber genau das tat ich. Und deswegen konnte ich nicht weiterkommen. Aufgrund meiner Ängste hatte ich noch nie etwas wirklich angepackt, hatte nie wirklich etwas begonnen, nie wirklich etwas durchgezogen und nie wirklich etwas abgeschlossen. Nicht einmal klare Enden hatte ich in meinem Leben setzen können und wenn ich ehrlich war, gab es mit allen Expartnerinnen, die ich in meinem Leben hatte, noch immer Bergeweise offene Themen, die nie geklärt worden waren. Es war stets wie bei meinen Versuchen, einen Salto ins Wasser zu machen. Ich wollte, fasste den Mut, begann und bekam in genau diesem Moment Angst, so dass ich nur halbherzig Sprang und unweigerlich einen Bauchklatscher machte. Diese Strategie wendete ich in allem an. Die Frage war nur warum? Warum fiel es mir so schwer, ins Fühlen zu kommen? Warum fiel es mir so schwer, aufmerksam zu sein. All diese Dinge, die vollkommen natürlich sein sollten, waren für mich eine immense Anstrengung. Wenn Heiko im Weitwinkelblick über eine Landschaft blickte, dann nahm er dabei automatisch Tiere Pflanzen und lauter auffälligkeiten wahr. Ich hingegen sah eine Landschaft und musste mich enorm anstrengen um irgendetwas spezielles zu erkennen.

Ich konnte stundenlang hinter Heikos Wagen hergehen, ohne zu bemerken, dass seine Packsäcke verrutscht waren. Wenn ich es merken wollte, dann musste ich mir in Erinnerung rufen, dass ich genau darauf achten wollte. Irgendetwas blockierte mich also in diesem Bereich. Irgendeine tiefe Angst, oder wahrscheinlich eine ganze Reihe von Ängsten. Als Heiko meine Muskeln austestete, kam heraus, dass ich mehr als 100.000 verschiedene Ängste in mir trug, die mich blockierten und lahmlegten.

Eine davon war die Angst vor meinen eigenen Gefühlen. Obwohl ich mit dem Franziskus-Ritual beschlossen hatte, von nun an alle Gefühle zuzulassen, war ich schon wieder dabei, sie zu unterdrücken. Mir war klar, dass die Trennung von meiner Familie und meinen alten Freunden wichtig und richtig war und dass dieser Schritt nun gegangen werden musste. Doch das bedeutete nicht, dass ich dazu kein Gefühl haben durfte. Doch genau das hatte ich wieder einmal angenommen. Es ist richtig, also darfst du deswegen nicht trauern. Das Leben ist ohnehin eine Illusion und die Menschen von denen du dich trennst existieren nicht wirklich. Also stell dich nicht so an! Erst als Heiko mir spezifische Fragen stellte, wurde mir klar, dass ich nichts durchlebt, sondern alles nur verdrängt hatte. "Was ist, wenn deine Eltern zum Pflegefall werden oder wenn deine Schwester eine tödliche Krankheit bekommt? Wie fühlt sich das für dich an?" Plötzlich spürte ich eine enorme schwere in mir und hatte einen Kloß im Hals. An solche Fälle hatte ich ganz bewusst nicht gedacht und mir wurde klar, dass ich einfach nicht hatte hinfühlen wollen. Es war ein logischer Schritt und mir war klar, das er an der Reihe war, also wurde er getan. Und das war auch in Ordnung. Nicht in Ordnung war aber, dass ich die damit verbundene Trauer schon wieder unterdrückte. Und sie war nun sicher auch eine der Ursachen, warum ich gerade in den letzten Tagen wieder so unachtsam und trottelig war. Gerade jetzt wo ich das schreibe, wird mir bewusst, dass auch diese Verpeiltheit ein Spiegel, bzw. ein Mentor ist. Das war mir zwar auch zuvor schon irgendwie klar, aber ich wusste nie wirklich wofür. So wie es aussieht, weißt mich meine Unachtsamkeit immer auf unterdrückte Gefühle hin. Vielleicht ein erster Schritt, um sie annehmen zu lernen.

In der Nacht hatte ich einen intensiven Traum. Wir waren am Ende unserer Wanderung und suchten gerade nach einem Platz, um unser Zelt aufzuschlagen, als ich plötzlich vor mir eine große Schlange entdeckte. Ich erschrack und wich zurück und bemerkte dabei, dass gleich dahinter eine noch viel größere saß. Die erste ähnelte der Zornnatter, die wir mit Heydi in Griechenland entdeckt hatten, die zweite war eher eine große Python. Ich bekam so eine Angst, dass ich mich umdrehte und davon rannte. Ich lief über eine große, breite Straße und plötzlich tauchten von überall her Schlangen auf. Egal wohin ich auch schaute, überall lauterte eine Schlange, die sich in meine Richtung schlängelte. Ich geriet so sehr in Panik, dass ich nur noch hüpfte, sprang und rannte. Ich wich nach links aus, dann nach rechts, dann sprang ich über die nächste hinweg und immer so weiter. Solange ich in Bewegung blieb, kam ich einigermaßen zurecht, denn nun konnten mir die Schlangen nichts anhaben. Doch es war natürlich unheimlich anstrengend und irgendwann wurde mir klar, dass ich schon verdammt weit in eine Rictung gelaufen war, in die ich überhaupt nicht gehen wollte. Heiko stand noch immer bei unserem Zeltplatz und ich war nun mit den Schlangen vollkommen alleine. Das konnte auch keine Lösung sein und so machte ich kehrt und rannte den ganzen Weg wieder zurück. Die Straße war wie gesagt groß und breit und es war an und für sich unmöglich, sie zu verfehlen. Trotzdem merkte ich plötzlich, dass ich vom Weg abgekommen war und mich nun auf einer Straße befand, die aus einer Art Eisengitter bestand. Hier konnte ich nun nicht einmal mehr erkennen, wenn eine Schlange von unten kam.

Sofort wurde meine Angst noch einmal größer und ich rannte so schnell es ging wieder auf die Hauptstraße zurück. Kaum aber hatte ich das getan, war ich schon wieder vom weg abgekommen und befand mich nun auf einem schmalen Weg inmitten von übermannshohen Weizenären. Auch hier hatte ich wieder keine Möglichkeit rechtzeitig zu erkennen, wenn eine Schlange unvermittelt aus dem Getreidefeld auftauchte. Also machte ich erneut kehrt und rannte nun wieder auf der großen Straße entlang. Sie war zwar noch immer voller Schlangen, doch hier konnte ich sie zumindest sehen und ihnen ausweichen. Plötzlich aber tauchte vor mir eine Schlange auf, die größer war als alle die ich zuvor gesehen hatte und auch als alle, die es auf unserer Welt hätte geben dürfen. Allein ihr Kopf war so groß wie mein Rucksack. Ich erschrak so sehr, dass ich zur Salzsäule erstarrte und wie angewurzelt stehen blieb. Mir war klar, dass ich mich mitten in ihrem Angriffsradius befand und dass sie nur einen Sekundenbruchteil brauchte, um mich zu töten. Plötzlich aber bewegte sich ein kleines Säugetier am Straßenrand. Ich konnte nicht erkennen, was es für eines war, doch es zog die Aufmerksamkeit der Schlange auf sich. Blitzschnell schnappte die Riesenschlange zu und schenkte mir nun keine Beachtung mehr. Dann wachte ich auf.

So klare und detailreiche Erinnerungen hatte ich schon lange nicht mehr an einen Traum gehabt, und mir war klar, dass er eine wichtige Botschaft für mich hatte. Die Schlangen waren zum einen meine Ängste, denen ich mich nicht stellen wollte. Hätte ich mir die erste genau angeschaut, hätte ich erkannt, dass es eine Zornnatter war, von der keinerlei Gefahr ausging. Doch stattdessen ergriff ich die Flucht und kam nun aus dem Fliehen vor all den Ängsten nicht mehr heraus. Klar konnte ich auf diese Weise überleben, aber ich befand mich nun auf einem Weg, der mich immer weiter von mir selbst wegführte. Und selbst als ich das erkannte, und versuchte wieder zu mir zurückzufinden, war ich noch immer auf der Flucht. Noch immer war meine Angst vor meinen eigenen Ängsten so groß, dass ich vom Weg abkamt, obwohl dieser so klar und deutlich vor mir lag, wie er nur hätte sein können. Gleichzeitig machten mir die neuen Wege, die ich noch nicht kannte aber noch weitaus mehr Angst. Lieber blieb ich in den alten Mustern, auch wenn ich wusste, dass sie scheiße waren, als einen neuen Weg zu gehen, über den ich überhaupt nichts wusste. Erst die Riesenschlange schaffte es, mich zum Stehenbleiben zu bewegen, so dass ich mich ihr stellen musste.

Gleichzeitig sind Schlangen aber auch die Boten der geistigen und spirituellen Wandlung. Ich lief also nicht nur vor meinen Ängsten davon, sondern auch vor allen Chancen, mich wandeln und wachsen zu können. Der Traum beschäftigte mich auch noch, als wir am Vormittag durch die saftig grüne Berglandschaft wanderten. Es war nun wieder sonnig und warm, aber bei weitem nicht mehr so unerträglich heiß wie in Rumänien. Abgesehen von den Straßen, die manchmal sehr gut und manchmal absolut unbegehbar und vor allem unbefahrbar waren, war es eine traumhafte Wanderung. Wir waren nun direkt vor den Kapaten und alles erinnerte uns an die Alpen. Die Berge mochten anstrengender sein, aber dennoch war das Wandern hier bedeutent schöner als in den Flachebenen.

Am Mittag erreichten wir ein Familienhotel namens Barvu Karpat, in dem wir übernachten durften. Damit wurde unser Marathon der Ungewaschenheit erst einmal wieder beendet. Wir konnten duschen, uns rasieren, die Haare schneiden und alles waschen, was wir an Kleidung besaßen. Das einzige was wir nicht schafften, war es ausreichend zu schlafen, denn es hatte sich wieder einmal so viel angestaut, was abgearbeitet werden wollte, dass wir nicht vor drei Uhr ins Bett kamen.

Spruch des Tages: Ich wollt', ich wäre 'ne Schlange - dann könnt' ich im Liegen gehen.

Höhenmeter: 30 m Tagesetappe: 20 km Gesamtstrecke: 17.036,27 km Wetter: sonnig und heiß Etappenziel: Gemeindehaus der reformierten Kirche, Porcsalma, Ungarn

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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