Tag 1132: Lourdes – Der berühmteste Wallfahrtsort der Welt

von Heiko Gärtner
04.03.2017 03:10 Uhr

03.02.2017

Langsam macht es den Eindruck, als hätten all die Heiligen, denen man Pilgerstätten geweiht hat nicht das geringste Gespür dafür, wie man seine Besucher mit einer gewissen Gemütlichkeit empfängt. Als wir Santiago erreichten regnete es, in San Giovanni Rotonda ebenfalls und in Monte Sant Angelo hat uns das Unwetter sogar fast vom Berg gespült. Bernadette schien sich ihre heiligen Kollegen zum Vorbild genommen zu haben und begrüßte uns ebenfalls mit einem heftigen Regenschauer. Er hielt nicht lange an, aber das musste er auch nicht um uns komplett nass werden zu lassen. Kurz nachdem wir die Stadtgrenze überschritten hatten hörte es wieder auf und der Himmel wurde zusehends blauer. Lourdes selbst jedoch machte keinen besonders guten ersten Eindruck auf uns. Es schien eine laute, turbulente und vor allem ziemlich schäbige Stadt zu sein, die so gar nicht nach einem weltberühmten Heiligtum aussehen wollte. Wir passierten einige Wohnblocks, die uns an die Städte im Balkan erinnerten, die wir so gerne gemieden hatten. Es waren Betonplattenbauten mit abblätternder oder angeschimmelter Farbe, grauen Balkons und schmutzigen Fenstern. Sollte dies wirklich die Stadt sein, die nach Paris die meisten Besucher in ganz Frankreich anlockte?

Genau, ihr habt richtig gelesen! In Sachen Touristenbesuche ist Lourdes tatsächlich die zweitgrößte Stadt in Frankreich. Als größte Stadt im Land, die zugleich noch die Hauptstadt ist, ist es natürlich kein Wunder, dass es mehr Hotels in Paris gibt, als irgendwo sonst im Land. Doch gleich an zweiter Stelle kommen nicht etwa Bordeaux oder Orlean, sondern eben Lourdes. Frankeich als ganzes hat etwa 2,3 Millionen Hotels und davon befinden sich rund 16.000 in Paris. Alle anderen Hotels in Frankreich verteilen sich auf die kleineren Städte und auf die verschiedenen Urlaubsregionen. Lourdes hört sich mit einer Anzahl von nicht einmal 300 Hotels dagegen zunächst lächerlich an, stellt seinen Gästen aber alles in allem rund 28.000 Betten zur Verfügung. Im Sommer übernachten hier dann also fast doppelt sos viele Besucher wie Einheimische.y

Die Nonnen, die uns zu sich eingeladen hatten, hatten erwähnt, dass wir zwar mit Abendessen und Frühstückt versorgt würden, aber nicht mit einem Mittagessen rechnen konnten. Wir mussten uns also selbst versorgen und nutzen deshalb die Gelegenheit, bei einem kleinen Casino-Supermarkt vorbeizuschauen und nach etwas Nahrung zu fragen. „Ich habe wirklich nicht viel!“ sagte der Filialleiter und verschwand in seinem Lagerraum, um kurz darauf mit einer Obstkiste voller Lebensmittel zurückzukehren. Es waren alles Waren, die kurz vor oder kurz nach ihrem Ablaufdatum standen und daher aussortiert wurden, um sie wegzuwerfen. In der Kiste befand sich ein Paket Bio-Kaffee für rund 5€ ein Achterpack Fruchtsafttüten für 4€, zwei Literflaschen frischen, hundertprozentigen Annanassaft für je 3€, vier Packungen Nestlé Schoko-Müslirigel für jeweils 2,5€ und zwei Tüten mit Keksen für je noch einmal 3€. Alles in allem hielten wir also Waren im Wert von 31€ in der Hand, die einfach so auf den Müll wandern sollten, obwohl ihnen nicht das geringste fehlte. Kaum zu glauben, oder?

Um in die Innenstadt zu kommen mussten wir noch einmal an einer großen Hauptstraße entlang, an der wir von mehreren Bussen überholt wurden, die allesamt komplett leer waren. Lourdes war ein reiner Sommerpilgerort, der im Winter keine Saison hatte und daher fast vollkommen ausgestorben war, was die Besucherzahl anbelangte. Und doch war es hier bereits jetzt schon nahezu unerträglich. Wie sollte es dann wohl erst im Sommer sein? Unsere Anlaufstelle hier in Lourdes war die Congregation Notre Dame de Fidelité, was übersetzt so viel heißt wie „Gemeinschaft von unserer lieben Frau der Fröhlichkeit“. Ein Name, der wie sich herausstellen sollte durchaus passend gewählt war. Das Haus der Gemeinschaft lag in einer kleinen Seitengasse hinter einer Schule, direkt am Rande des Zentrums. Als wir eintrafen hatten die Kinder nebenan gerade Pause und schrien über den Hof als wollten sie eine Revolution anzetteln. Die beiden Pausenaufseher, die die Kinder eigentlich im Zaum halten sollten, waren vollkommen überfordert und schienen noch mehr zum Himmel zu beten, als alle Kranken, die hier für ihre Heilung herkamen zusammen. Der Anblick schockierte uns ein wenig, denn noch vor drei Jahren hatten wir die französischen Kinder und Jugendlichen als die angenehmsten und ruhigsten im europäischen Vergleich empfunden. Doch nun schienen sie den italienischen Kindern um nichts mehr nachzustehen. Was drei Jahre in dieser Hinsicht ausmachten war immens und es war definitiv keine beruhigende Entwicklung.

Wir waren nur froh, als die Schwestern uns öffneten und wir geschwind ins ruhige Innere ihrer Behausung schlüpfen konnten. Die junge Frau, die uns die Tür öffnete war, wie sich herausstellte keine Ordensschwester sondern eine Mitarbeiterin. Schwestern trafen wir tatsächlich nur eine und das war Schwester Myriam, mit der ich bereits zwei Mal telefoniert hatte. Sie war eine von grund auf gut gelaunte, fröhliche, aufgeweckte und äußerst sympathische kleine Dame in den siebzigern, der es gelang, dass man sich innerhalb von Sekunden wie ihr Enkel fühlte. Gemeinsam zeigten uns die beiden Frauen unser Zimmer und bereiteten uns im Anschluss trotzdem noch ein kleines Mittagessen vor, einfach nur weil sie uns mochten. Anna, die junge Dame erzählte uns bei der Gelegenheit auch bereits einige erste Details über die Erscheinung von Lourdes. Doch darauf gehen wir später noch einmal genauer ein.

Nach dem Essen machten wir uns auf, zu unserer ersten Erkundungstour durch die Stadt. Unser Quartier lag direkt an der zentralen Hotelstraße, die auf geradem Wege zum Santuario der heiligen Bernadette führte. Kaum hatten wir sie erreicht, konnten wir unseren Augen kaum mehr trauen. Wir hatten geglaubt, dass Fátima ein touristischer Ort war und dass es die Bewohner von Medjugorje mit der Vermarktung ihrer Marienerscheinung deutlich übertrieben hatten. Aber beides war ein Kindergarten gegen das, was hier in Lourdes veranstaltet wurde. Soweit das Auge reichte reihten sich die Hotels an-, über- und nebeneinander. Plötzlich verstanden wir, wie es möglich war, dass dieser verhältnismäßig kleine Ort nach Paris die meisten Besucher in ganz Frankreich anlockte. Lourdes selbst hat nach offiziellen Angaben gerade einmal knapp 15.000 Einwohner, zieht aber Jahr für Jahr fünf bis sechs Millionen Besucher aus aller Welt an. Zum 150jährigen Jubiläum im Jahr 2008 waren es sogar zwischen acht und neun Millionen Menschen. Um diese Menschen unterzubringen gibt es in Lourdes 223 Hotels und 14.000 Gästezimmer die zusammen insgesamt 28.000 Betten zur Verfügung stellen. Außer Paris gibt es in ganz Frankreich keine Stadt, die so viele Gästebetten besitzt. Nach den offiziellen Angaben der Industrie- und Handelskammer des Départements Hautes-Pyrénées, also des französischen Bundeslandes in dem sich Lourdes befindet, machen die Hotels zusammen auf einen Jahresumsatz von 165 Millionen Euro. Und die meisten von ihnen lagen in unmittelbarer Nähe des Heiligtums . Mit anderen Worten: Direkt vor uns.

Doch das allein war es nicht, das uns so überwältigte. Viel mehr erstaunt waren wir von dem katastrophalen Zustand in dem sich hier alles befand. Vom zweittouristischsten Ort in ganz Frankreich hatten wir nicht erwartet, dass man hier im Stadtzentrum eine echte spirituelle Kraft oder eine besondere Atmosphäre spürte, aber wir hatten eine Glämmermetropole erwartet, die ihren Besuchern eine Illusion von etwas einzigartigem, besonderen erschuf. Stattdessen aber wirkte Lourdes wie eine verlassene Goldgräberstadt aus einem Western. Im Sommer reihten sich hier in der Straße die Schaufenster aneinander und alles was mit Souvenirs, Sonnenschirmen, Stühlen und Tischen übersät, so dass der Blick auf die maroden Fassaden weitgehend versperrt wurde. Jetzt aber war alles mit grauen Rollladen verdeckt, die den Anschein erweckten, als wären die Geschäfte bereits seit Jahren geschlossen und würden auch nie wieder öffnen. In der ganzen Straße gab es vielleicht noch zwei oder drei Hotels und ebenso viele Cafés, die geöffnet haben. Eines davon bewarb sein Gewerbe mit einer rot blinkenden Leuchtreklame, die wirkte, als führte sie zu einem Bordell. Dies war der erste Eindruck, den wir nun vom Zentrum einer der berühmtesten, christlichen Pilgerstätten der Welt bekamen. Unsere Vermutung, dass ein Ort, der in solch einem Maße touristisch genutzt wurde, auch einen gewissen Reichtum angehäuft hätte, schien offenbar falsch zu sein. Und tatsächlich zeigte unsere Recherche später am Abend im Hotel, dass es Lourdes und seinen Bewohnern bei weitem nicht so gut ging, wie man vermuten würde.

Seit der Marien-Erscheinung im Jahr 1858 ist der Pilgertourismus natürlich zur wichtigsten Einnahmequelle der Stadt geworden, die zuvor hauptsächlich von der Schweinezucht lebte. Diese spielt schon lange keine Rolle mehr und auch sonst gibt es hier keine Industrie oder sonstige Sparten, die für Jobs und Einnahmen sorgen würden. Es gibt die Pilger und wer hier in Lourdes irgendwie Geld verdienen will, der muss seinen Anteil von ihnen abgreifen. Eine Grundsituation, die nicht gerade dazu führt, dass man besonders entspannt mit dem Thema Pilgertourismus umgehen kann. Und eigentlich sollte man vermuten, dass genau dies eine Motivation ist, um es den Gästen hier so schön wie möglich zu machen. Doch dies ist bei weitem nicht der Fall und das liegt wahrscheinlich an einem in sich geschlossenen Teufelskreis in dem die Stadt offenbar steckt. Es beginnt damit, dass die Saison für den Pilgertourismus gerade einmal ein paar Monate dauert und sich fast ausschließlich auf den Sommer bezieht. Im Winter, davon wurden wir nun ja gerade Zeuge, passierte hier gar nichts. Unwillkürlich wurden wir an die Türkei erinnert, in der wir vor einigen Jahren ein ähnliches Phänomen erlebt hatten. Die Strände in der Gegend um Antalia sind voll von Hotelbunkern für den sommerlichen Massentourismus. Während der Saison strömen hunderttausende von Menschen aus aller Welt hier her, weil man hier relativ billig ein paar Tage im Warmen verbringen kann. Im Winter kommt jedoch kein Mensch und so schließen fast alle Hotels, um die Kosten für das Personal zu sparen. Das paradoxe dabei ist jedoch, dass es billiger ist, die Hotels in dieser Zeit verfallen zu lassen und im Frühjahr grundzusanieren, als sie den Winter über zu erhalten. Dementsprechend geisterhaft wirken die Touristenorte im Winter. Der große Unterschied zwischen Antalia und Lourdes ist jedoch, dass Lourdes durchaus genauso viel Potential für Winterpilger hätte, wie für Sommerpilger. Dafür müsste es seinen Besuchern jedoch auch zu dieser Jahreszeit etwas bieten und das funktioniert nicht, wenn alles permanent geschlossen hat. Später fanden wir heraus, das im Winter nicht einmal das Santuario in der Nacht beleuchtet ist. Wer außerhalb der Saison kommt, bekommt also ein relativ ruhiges Lourdes zu sehen, das weitaus mehr mit einem Gebetsort zu tun hat, als das Sommerlourdes, aber er bekommt ansonsten gar nichts. Man darf sich also nicht beschweren, wenn man zu dieser Zeit keine Besucher abgreift, obwohl man sie mir leichten Mitteln anlocken könnte. Ein Weihnachtsmarkt auf dem Gelände des Heiligtums würde Wunder bewirken, ebenso regelmäßige Zelebrationen auch im Winter oder ein Spektrum an Winter-Kombinations-Angeboten. Immerhin liegen die Pyrenäen mit mehreren Winter-, Wander- und Ski-Gebieten gleich hinter der Stadt. Es gäbe also genug Potential, das einfach nicht genutzt wird.

Der zweite und vielleicht noch deutlich schwerwiegendere Faktor ist der, dass Lourdes vor allem ein eher finanzschwaches Publikum anzieht. Nach Lourdes kommen vor allem alte und kranke, die sich von ihrem Aufenthalt hier Heilung versprechen, sowie Rentnergruppen, Kirchengruppen und andere Reisegruppen, die für wenig Geld eine spirituelle Erfahrung machen wollen. Und genau auf diese Form des Tourismus ist Lourdes auch ausgelegt. Ein durchschnittlicher Übernachtungspreis in einem Doppelzimmer in einem Drei-Sterne-Hotel kostet in Lourdes zwischen 60 und 70 Euro. Der Europäische Durchschnitt liegt in Europa bei 115€ pro Nacht und in Paris sind es sogar 151€. Mit der gleichen Anzahl an Betten wird also in Paris mehr als das doppelte an Geld verdient, wie in Lourdes. Es ist also kein Wunder, dass hier auch unterm Strich nicht so viel hängen bleibt. Man braucht also die Massen, um überhaupt über die Runden zu kommen und selbst dann bleibt nicht genug hängen, um die Stadt wirklich in Schuss zu halten. Aber stimmt die Rechnung so? Natürlich sind Pilger eher ein Klientel mit kleinerer Geldbörse. Genaugenommen ist ja selbst das noch weit an der Wahrheit vorbei. Ein Pilger, in eigentlichen Sinne, sollte ja komplett ohne Geld unterwegs sein und sein Ziel zu Fuß erreichen. Der Tourismus, der nach Lourdes kommt hat mit einer wirklichen Pilgerschaft hingegen nur noch wenig zu tun. Tatsächlich gibt es nicht einmal einen Wanderweg, der von den äußeren Bereichen der Stadt ins Zentrum führt. Kurz vor dem Santuario haben wir zwar tatsächlich einen Jakobswegweiser gefunden, aber das war dann auch schon alles. Der bezeichnendere Begriff ist also Wallfahrer, denn tatsächlich machen die Besucher ja eine Fahrt hier her, um den heiligen Ort zu besuchen. Und hier trifft es dann zu, dass die meisten ein eher kleineres Budget haben.

Spannend ist jedoch, Lourdes einmal mit anderen Orten zu vergleichen, die eigentlich ein ähnliches Publikum anziehen. Santiago beispielsweise ist ja tatsächlich eine reine Pilgerstadt, die seit Jahrhunderten von den Wanderern und Wallfahrern lebt, die in die Stadt kommen. Hier begann es zudem wirklich mit Menschen, die vollkommen Mittellos ankamen und keine Motivation oder Möglichkeiten hatten, viel Geld in der Stadt zu lassen. Dennoch hat es die Stadt geschafft, heute ein breitgefächertes Publikum abzugreifen, vom Pilger bis hin zum Luxustouristen. Ähnlich haben wir es auch in Fátima erlebt. Beide Städte waren aber auch deutlich gepflegter und ansprechender als die in der wir uns jetzt gerade befanden. Es ist also wohl ein bisschen zu einfach, zu klagen, dass niemand bereit ist, sein Geld in die Kassen der Lourdbewohner fließen zu lassen, wenn man im Gegenzug nichts unternimmt, um auch etwas für ein Publikum zu bieten, das auch Geld da lassen kann.

Fortsetzung folgt...

Spruch des Tages: Nur weil etwas berühmt ist, muss es nicht unbedingt auch schön sein.

Höhenmeter: 50 m Tagesetappe: 14 km Gesamtstrecke: 20.699,27 km Wetter: Dauerregen Etappenziel: Mehrzwecksaal der Gemeinde, 64420 Espoey, Frankreich

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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