Durch die Industriehölle

von Franz Bujor
30.04.2014 23:14 Uhr

Eine der schwierigsten Herausforderungen in Spanien ist es nach dem Weg zu fragen. Man bekommt zwar immer eine Antwort, doch nie ist es die, um die man gebeten hatte. Jedes Mal, wenn ich irgendwo nach dem Weg fragte, hatte das einen gut 10 Minütigen Redeschwall zur Folge, bei dem jede Information mindestens vier Mal wiederholt wurde. Da jedoch niemand mit seiner Antwort wartete, bis ich mit meiner Frage fertig war, bekam ich immer irgendetwas zu hören, dass dem Gegenüber gerade einfiel. Heute zum Beispiel versuchte ich von einer älteren Dame zu erfahren, ob die Straße auf der wir uns befanden eine Sackgasse war oder nicht. Sofort bekam ich eine umfangreiche Antwort mit allen Informationen über die Stadt und am Ende wurde ich gefragt, wo wir den hinwollen. Ich zeigte es ihr auf der Karte und sie erklärte mir, dass es zu weit zum laufen sei. Da müssten wir in die andere Richtung und in den Zug steigen. In diesem Moment kam eine jüngere Frau hinzu, die überzeugt war, uns besser helfen zu können. Sie sagte der alten, dass sie gehen könne und begann uns von neuem lauter Informationen zu geben, die wir nicht brauchten. Es war wirklich lieb gemeint, aber es trieb mich fast in den Wahnsinn. „Danke! Aber das ist überhaupt nicht meine Frage!“ rief ich. Doch bevor ich erklären konnte, was ich eigentlich wissen wollte, hatte sie schon zu einem neuen Redeschwall angesetzt.

„Verdammt nochmal, jetzt hör mir doch erst Mal zu!“ unterbrach ich sie und schaffte es so tatsächlich zum erstem Mal, sie zum Schweigen zu bringen. Doch auch diesmal reichte er nicht bis zum Ende meiner Frage.

„Wollt ihr am Fluss entlang oder in die Innenstadt? Es gibt dort einige Punkte, die ihr euch anschauen solltet. Oder wollt ihr vielleicht erst noch nach Bilbao hinein? Dort ist es auch sehr schön! Und seit ihr sicher, dass ihr wirklich alles laufen wollt? Das ist verdammt weit!“

Langsam riss mir wirklich der Geduldsfaden. Wieso konnte sie mir nicht einfach zuhören und klar und mir mit ‚Ja’ oder ‚Nein’ antworten, ob der Weg vor uns endete oder bis ans Meer führte? „Wir sind 2300km hier her gewandert,“ sagte ich gereizt „also erklär mir nicht was weit ist und was nicht! Endet dieser Weg am Wasser oder führt er weiter bis ans Meer?“

„Ihr wollt ans Wasser?“ fragte sie erstaunt.

„Nein, wir wollen einen Weg, der nicht auf einer Halbinsel endet! Können wir diesen hier nehmen?“

„Ja, der ist gut, aber wenn ihr lieber durch den Ort gehen wollt, dann ...“

„Nein, wir wollen nicht durch den Ort!“ rief ich und war kurz vorm platzen. Wenn ich sie an dieser Stelle nicht unterbrochen hätte, würden wir wahrscheinlich noch immer dort stehen. Heiko neben mir konnte sich das Lachen kaum noch verkneifen. Für einen Außenstehenden sah unser Gespräch einfach zum schießen aus. Normalerweise fällt es mir ja schon eher schwer, in einem Gespräch einmal laut zu werden und meinen Gefühlen deutlich Ausdruck zu verleihen, doch hier in Spanien bin ich sicher, dass es lernen werde. Das Gespräch mit der jungen Frau alleine hätte mich wahrscheinlich noch nicht aus der Ruhe gebracht, doch es war eben nur eines unter vielen.

Gestern verlief es ganz ähnlich. Da wollte ich einfach nur wissen, wo es in Bilbao eine Touristeninformation gibt und schon wurde ich mit Vorträgen über die Stadt überschüttet, die mich nicht weiterbrachten. Das schlimme ist, dass niemand Dinge sagt wie: „Sorry, ich habe keine Ahnung!“ Stattdessen bekommt man irgendwelche Informationen, ob sie nun stimmen oder nicht. Die Touristeninformation fand ich auf diese Weise jedenfalls nicht. Dafür aber eine Polizeistation und hier bekamen wir alles was wir brauchten. Mit einem kleinen Bonus an Nervenkitzel obendrauf. In den vergangen Tagen hatten wir festgestellt, dass sich die Menschen hier unter wandernden Mönchen ohne Geld nicht viel vorstellen können. Daher waren wir dazu übergegangen, in schwierigen Fällen einen Orden dazuzusagen, mit dem man leicht ein Bild verbinden konnte. Ich gebe zu, dass ist nicht unbedingt die ehrlichste Art, aber wenn man bedenkt, dass wir als Heiler zu Fuß um die Welt wandern, auf nahezu alle materiellen Dinge, sowie auf Alkohol und alle Arten von Drogen verzichten und fast vollständig ohne Geld leben, dann sind wir vielleicht näher am Leben eines Mönches dran, als viele Mönche, die einem echten Orden angehören. Näher als die Nonnen von vor ein paar Tagen auf jeden Fall.

Dem Polizisten in Bilbao jedenfalls erklärte ich, dass wir Franziskanermönche waren, die um die Welt zogen. Seine Antwort kam prompt: „Das dürfte kein Problem sein! In Bilbao gibt es ein Franziskanerkloster und die werden euch bestimmt aufnehmen!“ Er griff zum Telefon und wenige Minuten später hatten wir eine Einladung ins Kloster. So sehr ich mich darüber freute, so mulmig wurde mir auch bei dem Gedanken, was passieren würde, wenn die Mönche merkten, dass wir keinerlei Ahnung von der Bibel hatten und nicht einmal wussten, wer dieser heilige Franziskus eigentlich war. Wie sollte ich das erklären?

Mit klopfendem Herzen standen wir eine halbe Stunde später vor der Klostertür. Ob es wohl besser war, wenn ich so tat, als verstünde ich kein Spanisch? Ein alter Mann mit grauen Haaren und freundlichem Gesicht öffnete uns die Tür und hieß uns Willkommen. Unsicher traten wir ein und wurden in einen Gang geführt, in dem wir auf einen weiteren Mönch trafen. Es dauerte nur wenige Minuten und dann war das Eis gebrochen. Es spielte keine Rolle mehr, ob wir nun Franziskaner waren oder nicht. Die Brüder freuten sich über den Besuch, vor allem von so jungen Mönchen wie uns. Und sie freuten sich darüber, dass sie uns helfen konnten. Einer der Mönche war ein begeisterter Techniker und hatte eine Werkstatt oben unter dem Dach des Klostergebäudes. Als wir ihm erklärten, dass wir neue Bremsklötze brauchen, nahm er uns mit uns führte uns zu einigen Werkstätten in der Gegend, die uns vielleicht helfen konnten. Bei der ersten hatten wir Pech. Dann aber kamen wir zu einem Motorradladen, der auch Fahrräder und allerlei andere Fortbewegungsmittel verkaufte, die Bremsen brauchten. Er hatte keine passenden Bremsklötze für unsere Bremse und es war wahrscheinlich auch unmöglich solche in Spanien aufzutreiben. Aber er hatte Bremsklötze, die man so zurechtstutzen konnte, dass sie passen müssten. Der Mönch, der uns begleitete, schaute sich die Sachen an und meinte, es sei kein großes Problem. Er bekomme das schon hin, da brauchen wir uns keine Sorgen zu machen. Allerdings konnten wir die Klötze erst um 7:00 abholen, da er sie bestellen musste. Wir kehrten also ins Kloster zurück und verabredeten uns dort mit dem Mönch für kurz nach sieben. Dann gingen wir in die Stadt, kauften Sekundenkleber von dem Geld, was wir am Vormittag geschenkt bekommen hatten und sahen uns die Stadt noch einmal genauer an. Heiko machte einige Fotos, mit denen er jedoch nicht so zufrieden war wie sonst. Es war in dieser Stadt einfach unmöglich, einen Moment abzupassen, in denen nicht alles voller Menschen war, die durchs Bild wuselten. Der Regen und die diesigen Lichtverhältnisse machten es kein bisschen leichter.

Um 19:00 holten wir uns dann die Bremsscheiben ab und kehrten zum Kloster zurück. Dort hatten die Mönche nun eine Versammlung bis um kurz vor neun. Da es um 21:00 Uhr Abendessen gab, beschlossen wir die Reparaturaktion die Zeit danach zu verschieben.

Die Zeit bis zum Essen nutzen wir für die Reparatur von Kleinteilen, sowie für eine ausgiebige Dusche, was nach dem anstrengenden Tag dringend nötig war.

Beim Essen wurde es dann noch einmal spannend. Hier saßen wir nun zum ersten Mal mit allen Mönchen zusammen und hatten ausreichend Zeit zu erzählen. Es blieb also nur zu hoffen, dass man uns keine allzu direkten Fragen über unser heimischen Kloster stellte. Doch unsere Reise war für die Mönche viel zu interessant um Fragen über das Leben in einem Ort zu stellen, der ihrem eigenen ähnelte. Stattdessen erzählten wir von den Klöstern, die wir unterwegs besucht hatten und gaben Tipps für die Behandlung von Nierensteinen und Herzrhythmusstörungen. Außerdem erzählten wir, von der Idee, das junge Mönche von ihrem Kloster auf eine Reise geschickt werden, um so neues Wissen über die Welt zusammenzutragen und um ihren Glauben an Gott, die Menschen und die Natur zu kräftigen. Heute gibt es leider zumindest in Europa keine Klöster mehr, die so etwas machen, doch früher war dies eine gängige Praxis. Und auch wenn wir unseren Auftrag nicht von einem Kloster bekommen hatten, so hatten uns doch die Medizinleute in Österreich unsere Forschungsfrage mitgegeben. Insofern entsprach es also schon wieder fast der Wahrheit. Und wer weiß, vielleicht finden die Mönche von Bilbao die Idee ja so gut, dass sie sie wieder zum Leben erwecken. Denn dass Klöster im Allgemeinen einen Anreiz für junge Menschen brauchen um nicht komplett auszusterben, das steht außer Frage.

Das Abendessen war sehr gut und erinnerte fast ein bisschen an die Essenszelebrationen in Frankreich. Spannend war, dass die Mönche auch Lebensmittel verwerteten, die bereits leicht über das Ablaufdatum hinaus waren und die sie daher von den Märkten umsonst bekamen. Das einzige, was uns dabei irritierte war die Obstplatte, denn sie enthielt viele Früchte, die bereits schimmelig waren. Wir konnten nicht ganz nachvollziehen, warum sie das schlechte Obst nicht aussortierten um das gute nicht zu gefährden.

Da Heiko kein Spanisch sprach und ich alles was er sagen wollte auch noch übersetzten musste, kam ich fast nicht mehr zum Essen. Irgendwann wurde der Mönch, der uns bei den Reparaturen helfen wollte etwas unruhig in Anbetracht der Zeit. Wir beendeten das Gespräch und das Essen und trafen uns vor unseren Gästezimmern auf dem Gang. Dort richteten wir unsere Werkstatt ein und arbeiteten bis spät in die Nacht durch. Heiko nähte an der Wagenaufhängung, der Mönch und ich feilten an den Bremsklötzen. Schließlich bohrte er noch ein Loch durch die neuen Stahlplatten, die an unsere Achsen geschweißt worden waren und nietete sie an der Bodenplatte fest. Um kurz nach 1:00 Nachts war alles soweit fertig.

Am nächsten Morgen verabschiedeten wir uns von den Mönchen und bedankten uns noch einmal herzlich für ihre Hilfe. „Geld nehmt ihr nicht an?“ fragte der Mönch, der unsere Wagen repariert hatte schließlich. „Wir versuchen so gut wie möglich ohne auszukommen, aber es klappt nicht immer“, sagten wir. „Für Reparaturen wie gestern brauchen wir manchmal welches. Daher nehmen wir es auch an, wenn uns jemand welches gibt.“

Er bedeutete uns einen Moment zu warten und kam kurz darauf mit einem Umschlag zurück, den er uns zum Abschied in die Hand drückte. Als wir später hineinblickten, fanden wir 100€ darin. Wir waren absolut baff. Noch vor zwei Tagen hatten uns Nonnen einfach abgewiesen, ohne uns auch nur anzuhören und heute hatten wir diese Männer getroffen, die uns nicht nur einen Schlafplatz und reichlich zu Essen, sondern auch ihre Unterstützung und dazu noch so viel Geld geschenkt hatten. Es war unglaublich, wie unterschiedlich Menschen sein konnten.

Den Vormittag verbrachten wir weitgehend damit, die Innenstadt von Bilbao zu verlassen und nach einem neuen Pullover für Heiko zu suchen. Letzteres scheiterte an der unvorstellbar geringen Auswahl an Pullovern in dieser Stadt. Den Weg heraus fanden wir aber. Er führte am Fluss entlang und immer geradeaus in Richtung Meer. Das klingt erst Mal schön, ist es aber nicht. Denn die komplette Strecke verläuft über mehr als 10 Kilometer durch ein halb verfallenes Industriegebiet. Bis heute hatten wir nicht geglaubt, dass es auf dieser Erde so hässliche Gegenden gibt. Und dann, wie aus dem Nichts, steht zwischen den heruntergekommenen Baracken plötzlich ein Designerladen mit teuren Möbeln. Wieso jemand auf die Idee gekommen ist, einen solchen Laden gerade hier zu eröffnen, blieb uns vollkommen schleierhaft. Denn auch danach endete die Industriehölle noch lange nicht. Irgendwann gaben wir die Hoffnung, je wieder etwas Grünes zu sehen, ganz auf. Kurz bevor es Abend wurde, war es zum ersten Mal an diesem Abend so still, dass wir unsere Wagen hören konnten. Erst jetzt stellten wir fest, dass noch immer irgend etwas klapperte. Die Reparaturarbeiten waren also doch noch längst nicht abgeschlossen.

Spruch des Tages: Es gibt immer was zu tun!

 

Höhenmeter: 170m

Tagesetappe 18 km

Gesamtstrecke: 2396,47 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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