Tag 1370: Unterschiedliche Vorstellungen von Stille

von Heiko Gärtner
06.03.2018 06:35 Uhr

14.09.-15.09.2017

Egal welche Religion oder Lebensphilosophie man sich auf der Welt auch anschaut, alle enthalten immer das Element der Heiligen Stille, als ein Schlüssel um den Weg zu Gott oder zur Urquelle zu finden, wie immer sie dort auch genannt wird. Fast jede Kultur enthält dafür Traditionen, Routinen, Meditationen und Rituale, um sich zu zentrieren und in diese göttliche Stille zu gelangen. Eine einfache Übung dazu ist es beispielsweise, sich auf den eigenen Atem oder besser auf die winzigen Pausen dazwischen zu konzentrieren. Jedes Mal, wenn wir vom Einatmen ins Ausatmen wechseln, entsteht genau am Scheitelpunkt ein winziger Moment in dem wir gar nicht Atmen. In diesem Moment ist es, als würde unser Organismus vollkommen stehen bleiben, wodurch wir für einen winzigen Augenblick die Möglichkeit haben, hinter die Fassade der Traumgebildes zu blicken, das wir unser Leben nennen und das göttliche, formlose Sein des Allbewusstseins dahinter zu erkennen. Es ist ein bisschen wie bei einer Schiffsschaukel, die mit hoher Geschwindigkeit hin und her pendelt. Sie bewegt sich so schnell, dass wir die Landschaft um uns herum nur verschwommen, wahrnehmen können. Lediglich im Scheitelpunkt, wenn wir von der Rückwärts- in die Vorwärtsbewegung übrgehen oder anders herum, halten wir für einen Moment an und können klar sehen. Aber natürlich nur, wenn wir unseren Fokus auf diesen Moment legen und ihn ganz bewusst wahrnehmen. Wenn nicht huscht er einfach an uns vorbei und wir merken nicht einmal, dass er je dagewesen ist. Uns für diesen Moment zu sensibilisieren, so dass wir durch die Fassade des Offensichtlichen hindurch ins Göttliche sehen können, ist Ziel und Zweck unzähliger Meditationsformen, Gebete und Routinen überall auf der Welt.

Der Klosterhof wirkt friedlicher, als er ist.

Der Klosterhof wirkt friedlicher, als er ist.

So sind beispielsweise Klöster egal welcher Religion in ihrem Ursprung immer als Orte der Stille gedacht gewesen, die es einem ermöglichen sollten, die innere und äußere Unruhe des Alltags hinter sich zu lassen und Stille zu finden. Im laufe der Zeit haben sich die Ideen darüber, was diese Stille eigentlich ist und wie sie praktiziert werden sollte, allerdings sehr stark gewandelt und so gibt es heute eine unglaubliche Vielzahl an Definitionen und Vorstellungen zum Thema „Heilige Stille“.

Erstaunlicher Weise haben die meisten davon mit einer geradezu beeindruckenden Menge an Geräuschen zu tun.

Ein Sportwagen durchdringt die Stille

Ein Sportwagen durchdringt die Stille

Das durften wir auch heute wieder erleben, als wir nach unserer 15km langen Wanderung die uns durch eine Stadt und am Ufer eines Flusses entlang führte, schließlich wieder in einem Kloster der Zisterzienser ankamen. Pater John-Pasqual hatte uns bereits angekündigt und so war klar, dass wir hier übernachten konnten. Wir mussten nur einen Moment warten, da wir gerade genau während der Mittagszeremonie ankamen, zu der auch das Essen in „vollkommener Stille“ gehörte, was das Empfangen von Gästen natürlich irgendwie ausschloss.

Auch im Inneren der Kirche gibt es eine Menge Geräuschquellen

Auch im Inneren der Kirche gibt es eine Menge Geräuschquellen

Da saßen wir nun also umgeben von den alten Klostermauern in der Sonne, an einem Ort, der vor über 700 Jahren als Ort des Rückzugs und der Stille erschaffen worden war, und drückten gewissermaßen auf die Pausetaste. Bis zu unserem Treffen mit Bruder Alexandre dauerte es noch etwa 15 Minuten und anschließend würden auch wir etwas zu essen bekommen. Es gab also nichts praktisch oder körperlich sinnvolles, das wir hätten tun können, außer uns zurückzulehnen und uns in der Welt zu beobachten. Was also wäre besser geeignet gewesen, um in die heilige Stille zu kommen, als dieser Moment?

"Lehn dich zurück! Schließe die Augen und horche auf das was in dir und um dich herum wahrzunehmen ist!"

Dank ihrer Glockentürme sind Kirchen nicht unbedingt Ruhebringer

Dank ihrer Glockentürme sind Kirchen nicht unbedingt Ruhebringer

Zunächst einmal nahmen wir wahr, dass sich die Mönche vor 700 Jahren wohl nicht hätten träumen lassen, dass man ihnen eines Tages eine Staustufe mit einer Turbine zur Stromgewinnung direkt vor die Tür bauen würde, die ein konstantes Rauschen, Wasser plätschern und Pfeifen verursacht. Dabei die Stille wahrzunehmen war nun schon eine Herausforderung. Doch mit etwas Training konnte man es schaffen, gewissermaßen an dem Störgeräusch vorbei zuhören. Wenn einem dies gelang, dann nahm man Plötzlich die Autos auf der nun angrenzenden Hauptstraße wahr, die über den rauen Asphalt polterten. Konzentriere dich! Achte auf die Stille zwischen den Geräuschen! Denn hier findest du das wahre... Blätterrascheln? Ach komm schon!

Irgendjemand hatte den Klosterhof mit hohen Pappeln zu gepflanzt, deren Blätter sich im Wind ein bisschen wie Plastiktüten verhielten und die so ein wahres Knisterkonzert ertönen ließen, sobald auch nur eine leichte Brise aufkam.

Nur eine kleine Änderung beim Glockenanschlagen würde reichen um aus dem durchdringenden Dröhnen eine heilende Klangtherapie zu machen

Nur eine kleine Änderung beim Glockenanschlagen würde reichen um aus dem durchdringenden Dröhnen eine heilende Klangtherapie zu machen

Doch wir hatten keine Zeit, uns Gedanken darüber zu machen, welcher Scherzkeks auf die Idee gekommen war, gerade diese Bäume in einen Klostergarten zu pflanzen, denn in diesem Moment kehrten die 6 Militär-Düsenjets zurück, die bereits ein paar Mal über unsere Köpfe hinweg geschossen sind. Wir hatten sie das erste Mal kurz nach Verlassen der Stadt Laval gehört und seither immer mal wieder. Nun jedoch schien es, als hätten wir sie wie ein paar Luftballons hinter uns her gezogen und hier an einen Baum gebunden, denn für die nächsten Zwei Stunden kreisten sie direkt über dem Kloster. Sie flogen in engen Formationen und wirkten, als würden sie für eine Flugshow trainieren. Sogar bunte Rauchschwaden ließen sie ab um damit Linien an den Himmel zu malen. Abgesehen vom ohrenbetäubenden Lärm, den sie dabei verursachten, war es sogar ganz nett.

Auch in Klöstern ist es heute Schwer, einen Ort der Stille zu finden

Auch in Klöstern ist es heute Schwer, einen Ort der Stille zu finden

Fassen wir also noch einmal zusammen: Aus dem einstigen Ort der Stille ist nun ein Platz der lauten Geräusche geworden, der so ziemlich alles vereinte, was einen davon abhalten konnte, in die Stillemeditation zu gelangen, von lauten Raschelbäumen bis hin zu Düsenjets. Was uns an der ganzen Sache jedoch wirklich irritierte war der Umstand, dass es trotz allem hier im Klostergarten noch immer am Angenehmsten war. Denn „Essen in vollständiger Stille“ bedeutete in diesem Fall wieder einmal, dass zwar nicht gesprochen werden durfte, dass aber über blecherne Lautsprecher wieder einmal eine Lesung abgehalten wurde. Der Essenssaal der Stille wurde also vollbeschallt und dies in einer Lautstärke, dass wir es nicht einmal für ein einziges Glas Wasser darin aushielten und sofort wieder nach draußen flüchteten.

Spruch des Tages: Listen to the Sound of Silence...

Höhenmeter 55m

Tagesetappe: 14km

Gesamtstrecke: 25.799,27km

Wetter: sonnig und warm, immer wieder leichter Regen

Etappenziel: Gästezimmer in einem Schloss, südlich von Garigny, Frankreich

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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