Die Wahrheit über russische Gefangenenlager

von Heiko Gärtner
21.11.2016 19:38 Uhr

14.11.2016

Bei den Gesprächen mit Eduard und Frida erfuhren wir viele neue und interessante, teilweise auch sehr bestürzende Dinge über Russland und seine Geschichte. Eduard Leben war sehr stark von dem Regime geprägt, das zu seiner Jugend in Russland herrschte und auch heute auf seine Art noch immer herrscht. Damals gab es in Russland genau das System, auf das wir uns nun ebenfalls wieder mit großer Begeisterung zubewegen. Es war ein System der totalen Überwachung, bei dem es keine Privatsphäre und auch keine Meinungsfreiheit gab. Natürlich nicht, weil man den Menschen etwas Böses wollte, keines Wegs! Nein, nur zu ihrem Schutz, denn man weiß ja nie, wo sich ein Staatsfeind versteckt, der allen anderen das schöne, sichere Leben kaputt machen will. Jeder könnte schließlich ein Verbrecher oder Verräter sein, so wie heute auch jeder ein Terrorist sein könnte. Um das Volk also zu schützen musste man es überwachen und stets kontrollieren, dass alles seine Richtigkeit hatte. Die Stasi hatte ihre Augen und Ohren überall und das nicht nur in Form von Abhörgeräten und Kameras, sondern vor allem auch durch versteckte Mitarbeiter, die entweder eingeschüchtert wurden oder die man von der Wichtigkeit der Sache überzeugen konnte. Jeder Fremde konnte also ein geheimer Spitzel der Stasi sein, aber auch jeder Freund, jeder Verwandte und jeder Kollege. Selbst Menschen, die man seit der Kindheit kannte, konnte man nicht trauen, da man nie wusste, ob und wann es der Stasi gelang, irgendjemanden umzudrehen. Die Regierung hatte letztlich also Recht behalten. Man konnte wirklich niemandem trauen und musste extrem vorsichtig sein. Nur war das Monster, von dem diese Gefahr ausging kein Feind im Außen, sondern der eigene Staat selbst.

 

Solange man eine systemtreue Marionette war und stets alles tat was man tun sollte, ohne etwas zu hinterfragen, zu kommentieren oder sich gegen irgendetwas aufzulehnen, solange war es kein Problem. Problematisch wurde es dann, wenn man einen Fehler beging oder das Regime in irgendeiner Weise ankreidete und wenn es nur durch eine scherzhafte Anekdote war. Genau diesen Fehler hatte Eduards Vater begangen und das ausgerechnet in dem Jahr, in dem seine Mutter mit ihm schwanger war. Die Folge war das, was man bei uns mit sanften Worten als „Übertriebene Härte“ bezeichnen würde. Obwohl er nichts getan hatte, als ein kurzes scherzhaftes Kommentar abzugeben, an einer Stelle, an der jemand mithören konnte, der nicht hätte mithören sollen, wurde er zu 25 Jahren Haft verurteilt. Haft bedeutete in diesem Fall jedoch nicht Gefängnisstrafe, so wie wir sie uns vorstellen. Es bedeutete, dass man in ein sibirisches Gefangenenlager abtransportiert wurde. Dass dies kein Zuckerschlecken war ist allgemein bekannt, doch im Allgemeinen ist uns nicht bewusst, dass diese Lager genauso schlimm waren wie die Konzentrationslager im dritten Reich. Eduards Vater hatte Glück, denn er wurde bereits nach 10 Jahren wieder entlassen und konnte als gebrochener Mann zu seiner Familie zurückkehren.

 

Dies war das erste Mal, das Eduard seinen Vater zu Gesicht bekam und mit ihm sprechen konnte. Später erfuhr er von ihm auch einige Details über das Leben im Gefangenenlager. Die Lager befanden sich mitten in der sibirischen Wildnis, also an einem Ort, an dem die Gefahr, das jemand entkommen konnte, gegen Null ging. Die Gefangenen wurden mit 200 Mann in Baracken zusammengepfercht, die eigentlich für maximal 20 Personen ausgelegt waren, sie mussten bis zur vollkommenen Erschöpfung arbeiten, bekamen nur wenig zum Essen und hatten keinerlei medizinische Versorgung. Selbst wenn es einer von ihnen aus dem Lager herausschaffte, hatte er kaum eine Chance, unter diesen Umständen die Kälte in der Freiheit zu überleben. Anders als bei den Nazis war hier in diesen Lagern eine bewusste Massentötung durch Gaskammern einfach nicht nötig. Es war nicht so, dass sie nicht gewünscht war oder dass man hier humaner mit den Menschen umging. Nein, man brauchte einfach keine Gaskammern, weil die Gefangenen ganz von alleine starben. Das was in Auschwitz das Giftgas war, war hier die Kälte. Jeden Monat kam ein Viehtransporter im Lager an, dessen Wagons mit rund 1000 neuen Insassen befüllt waren. Trotzdem stieg die Zahl der Gefangenen niemals an. Diese 1000 Neuankömmlinge füllten lediglich die Lücken wieder auf, die innerhalb der letzten 30 Tage entstanden waren. Jeden Morgen mussten die Gefangenen zur Sichtung, also gewissermaßen zur Inventur antreten.

Jeder der nicht erschien, war höchst wahrscheinlich in der Nacht gestorben. Die Wachmänner durchsuchten dann die Zimmer und schliffen die Leichen an den Beinen hinaus in den Hof. Dort wurden sie splitternackt ausgezogen und dann auf einen großen Wagen geschichtet. Man legte sie stets so hin, dass die Köpfe jeweils links und rechts vom Wagen herunterschauten. Dann fuhr der Wagen aus dem Lager heraus in einen Zwischenbereich, der sich zwischen dem inneren und dem äußeren Zaun befand. Hier hielt er noch einmal an und es kam zu einer Prozedur, die mir noch immer eine Gänsehaut über den Rücken jagt, wenn ich daran denke. Die Wachposten konnten sich ja nicht sicher sein, ob die Leichen, die sie hinaus schliffen auch wirklich tot waren, oder ob sie nur so taten, weil sie hofften, vielleicht fliehen zu können. Die erste Maßnahme um diesen Fluchtweg zu verbauen war es, ihnen die Kleider zu nehmen, damit sie so schnell wie möglich erfroren. Die zweite folgte nun und zwar zur Abschreckung vor den Augen aller Gefangenen. Einer der obersten Befehlshaber ging mit einem schweren Prügel, der mit einem Hammer vergleichbar war auf den Wagen zu und schlug damit jeder Leiche einzeln den Kopf ein. Selbst wenn ein Gefangener alles andere überlebt hätte und sich wirklich nur tot stellte, das überlebte er auf keinen Fall.

Jeden Nachmittag musste ein Teil der Gefangenen ein großes Loch in den Schnee graben. Dieser lag meistens rund fünf Meter hoch, so dass man genügend Platz hatte, ohne in den gefrorenen Boden graben zu müssen. In dieses Loch wurden dann die Leichen gekippt. Das war alles. Es wurde nicht einmal wieder zugescharrt. Oftmals konnte Eduards Vater beobachten, wie die Tiere, die um das Lager herum lebten, einige der Leichen wieder aus ihren kalten Gräbern zerrten und an ihnen herum knabberten. Wirklich schlimm wurde es aber erst gegen Ende des Frühlings, denn dann begann der Schnee zu schmelzen und gab den Blick auf die unzähligen Leichenberge frei, die sich wie ein Wall aus Menschenleibern um das Lager herum auftürmten. All dies ist letztlich nicht anders vor allem aber nicht weniger grausam als das, was unter dem Nazi-Regime geschah und doch empfinden wir das eine als größtes Verbrechen der gesamten Menschheitsgeschichte, während wir dem anderen kaum Beachtung schenken. Ist das nicht seltsam?

Eduards Großvater erlitt ein ähnliches Schicksal, welches er jedoch nicht überlebte. Er was der Pfarrer in einer kleinen Gemeinde und wurde abtransportiert, als der Staat die Kirche und jede Form des Glaubens verbot. Nach seiner Rückkehr lebte er einige Zeit wieder bei seiner Familie, wollte und konnte seinen Glauben und seine Berufung aber nicht vollkommen aufgeben und so wurde er schließlich ein zweites Mal verhaftet. Dieses Mal kehrte er nicht zurück. Eduard selbst lernte seinen Großvater nie kennen, doch die tiefe Verbindung zum Glauben und die Gewissheit, für seine Überzeugungen einstehen zu wollen und zu müssen, egal was es auch für Konsequenzen hatte, die hatte er von ihm übernommen. Nachdem er eine Tischlerlehre gemacht hatte, studierte auch er Theologie und wurde Pfarrer. Das Stalin-Regime war nun bereits nicht mehr so aktiv, wie zuvor und die Strafen dafür, dass man seinen Glauben lebte, waren nicht mehr ganz so hoch. Doch auch Eduard bekam die Konsequenzen zu spüren. Während seiner Militärzeit arbeitete er in einer Baueinheit, da er keine Waffe bedienen wollte. Die Adventualische Kirche feiert den Samstag als heiligen Feiertag und verbietet ihren Mitgliedern hier das Arbeiten. Um das zu achten bat er seine vorgesetzten, von Freitag nach Sonnenuntergang bis Sonntag zum Sonnenaufgang vom Dienst befreit zu werden. Eine Weile ging dies gut, aber dann kamen einige andere Diensthabende dahinter, die mit der Lösung nicht so einverstanden waren. Er wurde nicht bestraft und er blieb auch weiterhin vom Dienst befreit, aber er musste in der Zeit, in der die anderen arbeiteten draußen in der Kälte stehen und auf sie warten. Als er anschließend zurück in die Kaserne kam, war er so ausgekühlt, dass er bis zum nächsten Morgen nicht mehr warm wurde. Es war bei weitem nicht so schlimm, wie das, was seine Vorfahren im Lager durchmachen mussten, aber er hatte nun eine Idee davon, was er heißt, kurz vor dem Erfrierungstod zu sein.

Einige Jahre später zerfiel die Sowjetunion und Usbekistan machte sich vom Rest Russlands unabhängig. Für einen Moment sah es so aus, als würde sich damit alles zum Guten wenden doch dann stellte sich heraus, dass die neue usbekische Regierung sofort in ein anderes Extrem umschlug. Von einem Tag auf den anderen wurden alle Russen aus höheren Posten entlassen und russisch wurde als Sprache vollkommen aus dem Programm entfernt. Zu den höheren Posten zählten auch alle Lehrer, die nun durch usbekische Kräfte ersetzt wurden. Das Problem war nur, dass es so gut wie keine ausgebildeten usbekischen Lehrer gab. Die Kinder gingen nun also zur Schule, wurden dort aber nicht mehr unterrichtet. Da aber auch die meisten Professoren Russen waren, gab es nun auch keine Ausbildung für Lehrer mehr, wodurch sich die Lage in absehbarer Zeit nicht verbessern konnte. Dies war für Eduard und Frida der Punkt gewesen, an dem sie beschlossen hatten ihre Heimat zu verlassen und nach Deutschland zu ziehen. Ihre Vorväter waren ohnehin aus Deutschland nach Russland ausgewandert und sie besaßen noch immer die Deutsche Staatsbürgerschaft. So waren sie schließlich zum Bodensee gelangt, wo sie bis heute wohnen. Nach einem ausgedehnten und sehr interessanten Frühstücksgespräch machten wir uns wieder auf die Beine und wanderten weiter am Ufer des Bodensees entlang. Die ersten 6km legten wir in Deutschland zurück, dann erreichten wir die österreichische Grenze, mit der auch wir unsere Heimat wieder einmal hinter uns ließen. Ein wenig sonderbar fühlte es sich schon an, aber es war auch ein gutes Gefühl, nun wieder die weite Welt vor uns zu haben.

In Bregens bekamen wir sofort und vollkommen unkomplex ein Zimmer im Kolpinghaus, was es uns ermöglichte, uns ganz in Ruhe die Stadt anzusehen. Dabei wurden wir dann allerdings auf die härteste Prüfung dieser Woche gestellt. Bregens hat ein Thermalbad mit einer kompletten Saunalandschaft und wir hatten den gesamten Nachmittag Zeit, um dies zu nutzen. Das Wetter war perfekt, denn es war nun so kalt, dass einem sogar der Atem in der Nase einfror. Voller Vorfreude stürmten wir auf die Eingangshalle zu und in Gedanken sahen wir uns schon schwitzend in der Sauna sitzen. Dann aber kam die Ernüchterung: „Montags geschlossen!“ Verdammt! Wieso mussten wir gerade an einem Montag hier ankommen? Es war nun bereits die dritte Therme in diesem Winter auf die wir uns gefreut hatten und die uns letztlich doch nichts nützte. Irgendetwas wollte offenbar verhindern, dass wir in die Sauna gingen. Sicher hatte es einen guten Grund und wahrscheinlich war es auch wirklich keine gute Idee, bei diesem Wetter in die Sauna und anschließend in die Berge zu gehen. Aber es fiel uns dennoch schwer, es zu akzeptieren.

Spruch des Tages: Die Höchste Form menschlicher Intelligenz ist zu beobachten ohne zu bewerten. (Krishnamurti)

Höhenmeter: 90 m Tagesetappe: 21 km Gesamtstrecke: 19.246,27 km Wetter: Teils Sonnig, teils bewölkt bei 15°C

Etappenziel: Gemeindesaal der reformierten Kirche, 8872 Weesen, Schweiz

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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