Tag 935: Ein Land ohne Straßen

von Heiko Gärtner
31.08.2016 22:06 Uhr

27.06.2016 Mit dem Buckel im Rücken wurde es nicht gerade eine erholsame Nacht und so fühlte ich mich am nächsten Morgen im wahrsten Sinne des Wortes wie gerädert. Unser Weg führte uns auch weiterhin auf der Straße entlang, die immer geradeaus weiter nach Norden führte. Doch mit jedem Kilometer wurde sie kleiner, schmaler und schlechter. Es war noch immer die offizielle zugangsstraße für mehrere Dörfer, doch nun konnten wir uns kaum noch vorstellen, dass sie mit einem Auto passierbar war. Die Reifenspuren im Boden zeigten jedoch, dass die Anwohner da anderer Meinung waren. Durch die ständige Hitze, den wenigen, unruhigen Schlaf und das viele Wasser, das wir permanent in uns hinein schütteten, spielte langsam wieder unsere Verdauung verrückt. Mein Magen-Darmsystem brachte nur noch einen wässrigen Schleim zum Vorschein und Nahrung brachten wir nun fast kaum noch herunter. Bereits in Rumänien und Bulgarien hatten wir in den Märkten stets nur das gleiche bekommen. Es gab nichts anderes als eine einzige, pappige Brotsorte, zwei oder drei verschiedene Sorten von etwas, das man hier Wurst nannte, jede Menge Süßkram, Tomaten, Gurken und Zwibeln. In Rumänien hatten wir noch gesagt, das wir langsam keine Tomaten mehr sehen konnten, doch hier mussten wir feststellen, dass es nun überhaupt kein Gemüse mehr gab. Jeder vierte oder fünfte Laden hatte irgendetwas frisches im Angebot. Dafür gab es nun überall massenweise Kekse. So wirklich viel verpassten wir also nicht, wenn wir uns mit dem Essen eher zurück hielten. Dafür gab es aber zumindest ausreichend Trinkwasser in den Märkten. Dies war zuvor meine größte Befürchtung gewesen, denn Moldawien war ebenso ein Agrarland wie Rumänien und ohne Flaschenwasser wären wir hier nicht durchgekommen. Am späten Nachmittag befanden wir uns noch immer auf der gleichen Straße, die nun langsam wieder eine passierbare Form annahm. Hier bauten wir unser Zelt wieder unter einen Nussbaum auf, dieses Mal jedoh ohne Buckel. Es war der beste Zeltplatz, den wir seit langem hatten und wir kamen sogar wieder einmal dazu, eine Fußreflexzonenmassage zu machen.

28.06.2016 Als wir aufwachten war der Himmel bewölkt und zum ersten Mal seit Tagen gab es so etwas wie kühle. Wir folgten unserem Weg bis zur nächsten Ortschaft und beschlossen dann, abzubiegen und mitten durch den Ort auf die andere Seite des Tales zu wandern. Der Himmel sah nun so schwarz aus, dass es sicher bald zu regnen begann und was mit Wegen wie diesem passierte, wenn sie nass wurden, hatten wir ja bereits in Bulgarien erlebt. Die Entscheidung war richtig, kam jedoch ein paar Minuten zu spät, denn gerade als wir die Talsohle erreicht hatten, begann ein kurzer aber heftiger Platzregen. Innerhalb von Minuten hatte sich unsere Straße in eine rutschige Lehmwüste verwandelt, auf der wir unsere Wagen kaum noch voranbringen konnten. Auch für die Einheimischen wurde dies ein Problem. Ein junger Kutscher raste an uns vorbei und trieb seinen Gaul zu Höchstleistungen an, damit er das Dorf erreichte, bevor die Wege vollkommen zerstört waren. Wir hingegen mussten uns nun die steile Schlammpiste wieder nach oben quälen. Es gelang uns nur, weil es am Wegesrand noch Gras uns Steine gab. Überall dort, wo blanker Lehm war, konnte man keinen Tritt mehr finden und rutschte einfach wieder nach unten. Wie konnte man nur solche Wege bauen? Als Feldweg, der nahezu nie genutzt wurde war es ja in Ordnung, aber doch nicht als Hauptzufahrtsstraße für ein komplettes Dorf! Wie unmöglich konnte man es sich noch machen? Langsam verstanden wir nicht mehr, warum hier überhaupt noch ein Mensch lebte. Wenn man solche Bedingungen als Outlaw im Kanadischen Busch hatte, weil man für sich alleine leben wollte, dann war das irgendwo nachvollziehbar. Aber hier hatte man alle Nachteile der Zivilisation gepart mit allen Nachteilen des Autark-Seins ohne die jeweiligen Vorteile nutzen zu können. Wenn ich in der Natur lebe, dann will ich es doch auch schön und ruhig und ungestört haben. Ich will es mir so angenehm wie möglich machen und jeden Tag meine Freiheit spüren, anstatt von Agrarfeldern umgeben zu sein, Glutamatbrot und Plastikwurst kaufen zu müssen und von allen Seiten den Lärm meiner Nahbarn zu hören. Und wenn ich im Gesellschaftskäfig leben will, dann will ich doch wenigstens die Leckerlis haben, will gutes Essen, Freizeithighlights und spaßige Ablenkungsmöglichkeiten. Aber nichts davon zu haben und nur das Gefängnis ohne die Highlights? Wo ist da der Vorteil? Was veranlasst die Menschen, all dies aufsich zu nehmen?

Doch noch etwas anderes gab mir zu Bedenken. Wenn die meisten Straßen in diesem Land aus Lehm bestanden und bei Regen unpassierbar wurden, dann durfte es hier nicht regnen, denn sonst waren wir ziemlich am Hintern. Leider konnten wir nicht verhindern, dass es gelegentlich mal regnete, wie die Situation gerade gezeigt hatte. Also mussten wir irgendwie einen Weg finden, dass wir das Land durchqueren konnten, ohne ständig auf Lehmstraßen zu landen. Ungünstiger Weise gab es aber auch so gut wie keine Möglichkeit, irgendwo ins Internet zu kommen, so dass wir die Strecke nicht weiter planen konnten. Nachdem wir das Tal verlassen hatten, gelangten wir oben wieder auf eine Schotterstraße. Sie war noch immer nicht besonders angenehm zum Wandern, aber sie war auch bei Regen passierbar. Solche Straßen mussten wir also finden, wenn wir hier durchkommen wollten. Im nächsten Ort tankten wir unsere Wasser und Nahrungsreserven wieder auf. Dabei kamen wir auch auf eine neue Tradition, die uns die kommenden Tage versüßen sollte. Obst und Gemüse gab es in den Läden zwar nicht, dafür aber Eis. Und bei dieser Höllenshitze war ein kühles Eis genau das war man brauchte. Ein bisschen fertig machte es uns schon, dass man hier leichter an ein Eis kam, als an ein anständiges Essen, aber man musste die Dinge eben so annehmen wie sie kommen. Seit diesem Tag gab es keinen einzigen mehr, an dem wir nicht mindestens ein Eis pro Tag aßen. So viel Eis habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht verputzt. Doch das Eis war nicht das einzig spannende an meinem Minimarkt-Besuch. Als ich den Laden betrat, standen gerade zwei große, schlanke und überaus heiße junge Damen an der Kasse. Sie trugen chicke Kleider und waren insgesamt ein Hingucker, von dam man unmöglich seine Augen lösen konnte. Sie sprachen weder Deutsch noch Englisch oder Italienisch, doch sie schafften es trotzdem, mit zumindest eine kleine Botschaft mitzuteilen. Die beiden Jungen Frauen waren im Auftrag der Kirche unterwegs, um den Menschen ein bibeltreues Leben in Frömmigkeit und Enthaltsamkeit nahezubringen. Eine von ihnen hatte sogar eine Bibel dabei, die farblich auf ihre silber glänzende Handtasche abgestimmt war. Warum ihre Kirchengemeinde gerade die beiden Mädels für die Missionarsarbeit ausgewählt hatte, lag auf der Hand. Doch abstrakter hätte es kaum sein können, denn gewissermaßen verkauften sie nun ihre Körperlichkeit für eine Glaubensgemeinschaft, die genau dies verteufelte.

Der einzige Zeltplatz, den wir heute finden konnten, befand sich hinter der Ortschaft direkt an der geschotterten Hauptstraße. Dass hier vor kurzem ein Hund in einem Sack entsorgt wurde, der gemächlich vor sich hin verweste, bemerkten wir erst, als der Wind sich drehte. Das waren nun also unsere Idealplätze. Direkt an der Straße, auf Buckelpisten, Müllhalden oder Hundefriedhöfen. Im Balkan hätten wir solche Plätze nicht einmal für einen Sekundenbruchteil in Betracht gezogen. Am Nachmittag kam es dann ein weiteres Mal zu einer Druckentladung. Die letzten Tage und vor allem Nächte hatte ich damit verbracht, die von Heiko überarbeiteten Texte noch einmal zu konkretisieren und zu straffen. Nun war Heiko sie ein weiteres Mal durchgegangen und stellte fest, dass ih dabei ganz wesentliche Aspekte wieder gelöscht hatte, ohne dass es mir auch nur aufgfallen war. Das Thema mit dem Geld alleine war es also noch nicht. Ich sabotierte mich noch immer und ich konnte auch noch immer nicht damit aufhören. Irgendetwas steckte noch tief in mir fest und verkeilte sich so sehr, dass ich es nicht lösen konnte. Die Erkenntnis, die ich an diesem Tag aus der Situation gewann war die, dass ich noch immer ein Sklave der Stimme in meinem Kopf war, die ich meiner Mutter zuschrieb. Seit Monaten hatte ich nun schon keinen Kontakt mehr zu meiner Familie und so glaubte ich, dass ich nun endlich gegen die alten Muster rebelliert und mich befreit hatte. Doch in Wahrheit tat ich noch immer genau das, was von mir verlangt wurde. "Sprich nicht offen über deine Gefühle!" Schreibe nichts in den Blog oder irgendwo anders hin, was dich persönlich und unsere Familie betrifft!" "Hör auf, dich wandeln zu wollen, sondern bleib einfach der kleine dumme Junge, zu dem wir dich erzogen haben!" Diese Befehle hatte ich noch immer in meinem Kopf und ich gehorchte ihnen aufs Wort. Mit meinen Eltern hatte das nichts mehr zu tun, denn die existierten ja nur noch in meiner Vorstellung. Es war meine eigene Gedankenstimme, die mir die Befehle gab und sie war so gut, dass sie mich vollkommen in die Irre geführt hatte.

29.06.2016 Langsam half es nichts mehr, wir brauchten Internet! Spätestens morgen waren wir mit unserem Kartenmaterial am Ende und dann sahen wir in diesem Land ziemlich alt aus. Heute musste also eine Internetverbindung her, koste es, was es wolle! Und wie das Leben so spielt, sollten wir auch genau das bekommen: Einen Internetzugang zu einem sehr hohen Preis. Zum Wandern war es heute etwas angenehmer, weil die Sonne zu großen Teilen von dichten Wolken bedeckt wurde. In einem Dorf sahen wir eine Frau, die eine Schubkarre mit einem Eisenrad über die Schotterpiste schob. Wieso tat sie sich das an? Natürlich hielt so ein Rad ohne Gummigschlauch ewig, aber es war bereits unter Idealbedingungen reine Quälerei, es zu bewegen. Auf dieser Piste musste es die blanke Hölle sein. Und doch hiefte sie die Karre unbeirrt weiter, so als wäre dies die einzige Möglichkeit, wie man überhaupt Dinge von A nach B transportieren konnte. Auf den ersten Blick hätte man vielleicht vermuten können, dass sie sich keine andere Schubkarre leisten konnte, doch sie besaß ein relativ großes Anwesen, telefonierte immer wieder mit einem Smartphone und hatte einen dicken Audi in der Einfahrt stehen. Am Geld konnte es also nicht liegen. Es war wirklich eine bewusste Entscheidung.

In einem kleinen Mini-Markt bekam ich zum ersten Mal meinen neuen Entschluss vor Augen geführt, wirklich ohne Geld zu leben. Seit Tagen waren wir nun schon auf der Suche nach Olivenöl, um unseren Sonnenschutz wieder aufzufüllen. Zum ersten Mal entdeckte ich nun eine solche Ölflasche in einem der Regale. Unter anderen Umständen hätte ich einfach danach gefragt und aller Wahrscheinlichkeit nach hätte ich sie auch geschenkt bekommen. Doch ich hatte Angst. Ich fürchtete, dass er sie mir verweigern könnte und vertraute nicht darauf, dass das passieren würde, was auch passieren sollte. Als ließ ich meinen Erklärungszettel stecken, fragte den Verkäufer nach der Ölflasche und suchte das moldawische Geld zusammen, das wir von irgendwo geschenkt bekommen hatten. Wie sich herausstellte, waren es genau 25 Lei zu wenig. Rumänisches Geld wollte der Mann nicht und einen Rabatt wollte er mir auch nicht geben. mit Euro hätte ich zahlen können, doch dann hätte er für das kleine Fläschchen 5€ haben wollen, was ich nicht einsah. Kaum stand ich wieder auf der Straße, wurde mir klar, dass die Situation eine Prüfung gewesen war, durch die ich gleich einmal vollkommen durchgerasselt war. Es stimmte: Geld war für mich ein Stoff, der dazu führte, dass ich glaubte, nicht mehr vertrauen zu müssen. Das konnte nicht funktionieren.

Im nächsten Ort suchten wir wieder eine halbe Ewigkeit nach einem Schlafplatz. Dabei wurden wir von einigen Männern aufgegriffen, die uns auf ein Mittagessen einluden. Einer von ihnen sprach Italienisch und ein anderer wohnte gleich nebenann. Internet sollte es ebenfalls geben, und so ließen wir uns zu dem Besuch überreden. Da die Frau noch unterwegs war, gab es keinen im Haus, der sich im Stande sah, ein paar Nudeln zu zubereiten. Wenn wir also wirklich etwas essen wollten, dann mussten wir es uns selbst kochen. Saucen oder ähnliches gab es nicht, nur trockene Nudeln mit einer dose Thunfisch und einigen krübelm Feta-Käse. Als ich den Thunfisch in die Nudeln rühren wollte, stoppte mich der Mann. "Warte, du willst die Nudeln italienisch zubereiten", meinte er, "aber du musst auch probieren, wie wir sie hie in Moldawien essen!" Die Variante, die er mir dann stolz als moldawische Spezialität präsentierte, waren die gleichen Nudeln ohne Thunfisch und nur mit Käsekrümeln darin. Irgendwie war es schon fast niedlich, wie er uns erwartungsvoll anblickte und fragte, ob wir diese außergewöhnliche Variante mochten. Als ich fragte, wer alles mit isst, antwortete er "Alle natürlich!" und so deckten wir den Tisch für sieben Leute. Damit meine ich allerdings nicht, dass wir einen kompletten Tisch deckten, denn es gab nur ein winziges Tischlein mit zwei Hockern und zwei Stühlen. Wir kratzen jeden Teller aus der kleinen Küche zusammen, verteilten die Nudeln darauf, so dass für jeden nur noch ein winziges Häufchen blieb und stellten sie so auf den Tisch, dass es gerade passte. am Ende rühte außer mir, Heiko und dem Italiener aber niemand etwas an, so dass die meisten Nudeln am Ende des Tages im Müll landeten. Es waren einfache Nudeln, also kein wirklich schwerer Verlust, aber traurig machte mich dieser respektlose Umgang mit dem Essen trotzdem.

Wirklich genährt waren wir im Anschluss nicht und auch das Internet hatte uns noch nicht allzu viel geholfen, weil der Computer so langsam war, dass man nicht einmal den Browser richtig öffnen konnte. Die ganze Aktion hatte also vor allem Zeit gekostet und je länger wir uns in der Wohnung aufhielten, desto mehr Alkohol tranken die Männer und desto unangenehmer wurden sie. Wir machten aus, dass wir uns nun zunächst einen Zeltplatz suchen und anschließend noch einmal zurückkommen würden, um die Streche rauszusuchen. Der einzig passable Platz befand sich oberhalt der Ortschaft an einem kleinen Hohlweg. Wir waren extra hierhin ausgewichen, weil es keine Rubinien an dieser Stelle gab, doch kaum hatten wir die Plane ausgebeitet, mussten wir feststellen, dass dennoch alles voller Dornen war. Wieder kostete es uns eine halbe Stunde, den Platz so zu bereinigen, dass wir gefahrlos unsere Luftmattratzen darauf legen konnten. Dann kehrte ich ins Tal zurück und setzte mich mit meinem eigenen Computer ins Schlafzimmer neben den Router. Es gelang mir die restliche Strecke durch Moldawien herauszusuchen, bis wir wieder zurück nach Rumänien kamen. Doch es wurde die reinste Tortur, denn der Italiener war nun so besoffen, dass er ununterbrochen ins Zimmer kam, mir permanent die selben Fragen stellte und dabei immer unangenehmer und aufdringlicher wurde. Als ich schließlich fertig war und gehen wollte, musste ich mir regelrecht den Weg freikämpfen, weil er versuchte, mich festzuhalten und zum Saufen zu überreden.

Spruch des Tages: Dirtroads soweit das Auge reicht...

Höhenmeter: 110 m Tagesetappe: 19 km Gesamtstrecke: 16.623,27 km Wetter: sonnig und heiß Etappenziel: Zeltplatz im ortnahen Wald, 59208 Bahna, Ukraine

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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