Tag 361: Italien und seine Herausforderungen

von Heiko Gärtner
30.12.2014 18:50 Uhr

Italien stellt uns nun noch einmal vor völlig neue Herausforderungen. Schlafplätze sind hier in der Regel kein Problem. So enttäuscht wir in Frankreich und Spanien oft von der Kirche waren, so begeistert sind wir hier. Italien ist eben doch das Mutterland der Kirche und darauf geben sie einiges. Die Schwierigkeit besteht lediglich darin, einen Pfarrer, einen Mönch oder eine Nonne ausfindig zu machen. Das ist zugegeben nicht immer einfach, doch wenn man es einmal geschafft hat, dann ist einem ein Schlafplatz nahezu sicher. Ein einziges Mal hatten wir bislang eine endtäuschende Erfahrung mit einem Geistlichen. Als wir seine Kirche erreichten saß er gerade im Auto und wollte davon fahren. Er war kein besonders guter Autofahrer, von dem, was wir erkennen konnten, denn er setzte umständlich zurück, würgte seinen Wagen zwei oder drei mal ab und drehte dann einen riesigen Bogen über den ganzen Platz. Sein Auto war eher eine Nussschale doch sein Wendekreis übertraf den eines Zehntonners. Er schaffte es sogar, auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes gegen den Bordstein des Fußweges zu fahren, so dass sein Auto stehen blieb. Ich nutzte die Zeit um zu ihm aufzuschließen und ihm per Handzeichen deutlich zu machen, dass ich mit ihm reden wollte. Er schaute mich einen Moment lang an. Ich winkte ihm. Er winkte zurück. Dann trat er aufs Gaspedal, schaffte es halb den Bordstein hoch, rollte zurück und stand exakt da, wo er zuvor auch schon gestanden hatte. Ein erneutes Winken, ein erneuter Blickwechsel und ein neuer Tritt aufs Gaspedal. Der Motor heulte auf und Zack, stand er wieder an der gleichen Stelle. Dann ging das Spiel ein drittes Mal von vorne los, doch dieses Mal gab er richtig Gas. Da er mein Zeichen erwidert hatte ging ich davon aus, dass er mich auch verstand und nur noch seinen Wagen in eine weniger peinliche Position bringen wollte, bevor er die Fensterscheibe herunterkurbelte. Doch weit gefehlt. Mit letzter Kraft schaffte es der Motor auf den Gipfel des zehn Zentimeter hohen Bordsteins. Nun ließ es der Pfarrer krachen! Er drückte auf die Tube und verschwand hinter der nächsten Ecke. Völlig perplex stand ich vor dem Bordstein und wusste nicht, was ich mit der Situation anfangen sollte. Damit hatte ich nicht gerechnet.

„Braucht ihr Hilfe?“ fragte ein junges Pärchen auf Englisch, das gerade mit den Rädern unterwegs war.

„Ja, wir suchen nach einem Schlafplatz, bzw. nach einem Pfarrer, der nicht vor uns flüchtet, sondern uns weiterhilft,“ antwortete ich und freute mich über die hilfsbereiten Mitmenschen.

„Sorry!“ antwortete der junge Mann mit dem sexy Radlerdress, „wir sind nicht von hier und kennen uns daher auch nicht aus! Aber viel Erfolg bei der Suche!“

Auch das war typisch für unsere ersten Eindrücke von Italien. Die Menschen ignorierten uns entweder komplett, so wie sie es in Spanien gemacht hatten, oder aber sie boten uns Hilfe an, an Stellen wo sie einfach keine hatten. Heiko erinnerte sich an seine früheren Italienurlaube als Kind. Er hatte einige Situationen im Kopf, in denen sich sein Vater über genau dieses Phänomen geärgert hatte. Es schien also wirklich eine Mentalitätsfrage zu sein. Das gute alte Prinzip: Gut gemeint ist das Gegenteil von gut. Hilfsbereitschaft ist eben nicht gleichbedeutend mit hilfreich. Doch zumindest im Moment sind die wenigen Situationen in denen uns derartige Erlebnisse begegnet sind noch eher lustig als störend.

Weitaus schwieriger ist die Suche nach Nahrung. Wir befinden uns in einer absoluten Touristenregion, in der es mehr Deutsche, Franzosen und Italiener anderer Regionen als Einheimische gibt. Selbst jetzt in der Winterzeit. Die Strandpromenaden und die Altstädte sind voll von Pizzerien, Spagetterien, Eisdielen, Süßigkeitenläden und Bäckereien. Doch es gibt kaum ein Restaurant, das Lebensmittel verkauft, die wir auch essen wollen. Zucker, Weißen, Farbstoffe, Käse und Schweinefleisch gibt es wie Sand am Meer. Doch mit Alternativen sieht es schlecht aus. Hinzu kommt, dass die Hilfsbereitschaft der Ladenbesitzer genauso groß ist, wie in allen anderen Touristenhochburgen, durch die wir gekommen sind. Sie geht gegen null und das kann man sogar verstehen. Doch satt wird man davon nicht. Ohne die Unterstützung durch die Pfarrer und Nonnen, wären wir ziemlich aufgeschmissen. Vor allem jetzt, wo durch die Weihnachtstage nicht einmal Supermärkte geöffnet haben, in denen man sich mit den Spendengeldern einen kleinen Notfallpuffer anlegen kann. Lediglich gestern Abend konnten wir einen geöffneten Supermarkt finden. Bei einem Blick auf die Preise wurde uns beinahe schwindelig. Nicht deshalb, weil hier alles so teuer ist, sondern aufgrund der unerklärbaren Preisschwankungen zwischen den Ländern, die wir in letzter Zeit bereist haben. Wie kann es sein, dass das gleiche Päckchen Nüsse in Frankreich 59 Cent kostet und hier fast 2€? Dafür ist rote Bete hier deutlich günstiger, als sie es beispielsweise in Spanien war. Mandeln und Walnüsse, die sowohl in Spanien als auch hier in Italien angebaut werden, sind hingegen unbezahlbar, während man sie in Deutschland sogar recht günstig kaufen kann. Wie kann das sein? Reis ist hier fast ein Luxusartikel, den sich selbst in seiner billigsten Form nur reiche Leute leisten können. Dafür bekommt man Markennudeln in allen Farben und Formen für nur 40Cent das Kilo. Der Preis eines Lebensmittels hat also nicht das Geringste mit seiner Herstellung zu tun. Es ist eine reine Willkür, die dazu bestimmt ist, das Kaufverhalten der Kunden zu steuern. Oder wie würdet ihr euch diesen Umstand erklären?

Neben der Nahrung ist vor allem die Kälte ein großes Problem. Tagsüber ist es in der Sonne zwar noch immer so warm, dass man im T-Shirt wandern und auch am Strand sitzen kann, doch sobald die Sonne weg ist und nur ein bisschen Wind aufkommt, ist die Kälte fast unerträglich. Im Freien ist das nicht so schlimm, da sind wir die Kälte aus Deutschland ja gewöhnt und wissen, wie wir damit umgehen können. Doch aufgrund der mediterranen Lage nehmen die Menschen das Wetter hier einfach nicht ernst und wollen partout nicht mit dem Heizen anfangen. Seit wir die Grenze überschritten haben, hatten wir mit Ausnahme des Hotels in Sanremo keinen einzigen warmen Raum mehr. Wenn wir uns zum Arbeiten an die Computer setzen, dann machen wir es mit Mütze und dicker Winterjacke. Dennoch frieren die Finger dabei oft so stark ein, dass sie sich kaum noch über die Tastatur bewegen wollen. Doch am schlimmsten ist die Kälte in Bezug auf die Verspannungen. Die Muskeln verkrampfen ständig und meine Schultern fühlen sich an als wollten sie gleich abfallen. Auch Heikos Bein, das fast wieder schmerzfrei war, hat sich wieder deutlich verschlimmert. Durch die Kälte verkrümeln wir uns so schnell wie Möglich in unsere Schlafsäcke. Massagen kommen da definitiv zu kurz und das wo sie jetzt wichtiger wären als je zuvor.

Die letzten drei großen Probleme sind Lautstärke, Internet und Sprache. Was den Lärm betrifft haben wir zwar wieder etwas mehr Glück als am Anfang, denn es kommen immer mehr Strandpromenaden, bei denen es keine oder nur sehr kleine Straßen gibt, doch wirkliche Ruhe gibt es hier nirgends. Wenn man einmal einen zurückgezogenen Ort gefunden hat, wie heute Mittag hinter einem Bahnhof, dann läuft dort laute Musik. Als wir dort saßen blickten wir gegenüber auf eine besprayte und verfallene Bauruine und stellten uns vor, wie wir uns fühlen würden, wenn dies der erste Moment eines lang erträumten Urlaubs wäre. Wie muss es den Touristen hier wohl gehen, wenn sie aus dem Katalog ein schönes Hotel am Strand herausgesucht haben und dann nach der Zugreise als aller erstes auf so eine hässliche Baracke starrten, während sie mit der dröhnenden Musik aus einem blechernen Bahnhofslautsprecher beschallt werden? Wie muss es ihnen gehen, wenn sie dann in das vier Sterne Hotel Mira Mare (oder wie sie alle heißen) kommen, das sich dann als Bunker mit fauligen Decken und abblätternder Farbe entpuppt, das nicht am Strand, sondern zwischen Bahnstrecke und Hauptstraße liegt, die beide für die Katalogbilder wegretuschiert wurden?

Anders als in Spanien und Deutschland wo man sich um Internet eigentlich nie Gedanken machen musste, ist es hier eine wahre Kunst einen Zugang zu bekommen. Frankreich war schwieriger, aber selbst dort gab es mindestens alle zwei bis drei Tage eine Möglichkeit. Hier jedoch scheint es fast gar keine Zugänge zu geben. Einige Bars haben offenes wLAN aber sie sind meist so weit weg, dass wir uns abends nicht mehr dorthin aufraffen können. Gestern habe ich eine gute Stunde vor der geschlossenen Bibliothek gehockt und die letzten vier Berichte eingestellt. Als ich fertig war, war ich ein Eisblock und brauchte gute zweieinhalb Stunden im Schlafsack, bis ich wieder eine Temperatur hatte, bei der ich aufhören konnte zu zittern. Ideal ist das also noch nicht so ganz.

Und dann gibt es natürlich noch das große Problem der Sprache. Wir sind noch immer ziemliche Stümper was das anbelangt und mein heutiger Versuch, mit der Gehilfin eines Pfarrers über die Gegensprechanlage zu kommunizieren endete in einem Desaster. Es war jedoch ein guter Hinweis, um noch einmal wieder auf ein altes zentrales Lebensthema von mir zu stoßen.

Faulheit!

Denn darin lag das Hauptproblem. In diesem Fall, wie auch in vielen weiteren Situationen, die mir heute bewusst geworden sind. Es ist ein so tief routiniertes Verhaltensmuster, dass ich es nicht einmal merke. Erst als mich Heiko mit der Nase darauf stieß wurde es mir bewusst. Die Faulheit besteht darin, dass ich weiß, wie ich mich auf eine Sache vorbereiten müsste, jedoch glaube, dass ich diese Vorbereitung nicht brauche. Und schwups, stehe ich wie ein Ochs vorm Berg, weiß nicht was ich machen soll und die Situation endgleist mir. Plötzlich fielen mir tausende Situationen ein, bei denen mir das gleiche Muster im Weg war: Feuermachen, Referate halten in der Schule, Projekte vorstellen, Frauen ansprechen und schließlich mit italienischen Pfarrern wegen eines Schlafplatzes zu sprechen. Ich wusste ja, dass ich die Sprachen icht beherrsche und dass ich ein Problem haben werde, wenn ich mich über die Gegensprechanlage verständigen muss. Trotzdem drückte ich erst einmal darauf und stammelte dann wild drauflos, als mir die Frau antwortete. Anschließend ärgerte ich mich über die Frau, die mir nicht helfen wollte. Dass sie mir gar nicht helfen konnte, weil ich ihr nicht einmal erklären konnte was ich wollte, das war mir in diesem Moment nicht bewusst. Dabei wäre es so leicht gewesen, mir einfach ein paar kurze Sätze rauszuschreiben und abzulesen: „Wir sind zwei Pilger und suchen einen Schlafplatz. Können Sie uns Helfen?“

Ich hoffe, dass mir dieses Muster nun so präsent ist, dass es mir beim nächsten Mal vor der Situation auffällt und nicht erst dann, wenn die Frau so genervt ist, dass sie nicht mehr auf das Klingeln reagiert.

 

Spruch des Tages: Fürchte nicht, etwas neues zu tun. Laien haben die Arche Noah gebaut, Experten die Titanic. (Arno Backhaus)

 

Höhenmeter: 190 m

Tagesetappe: 15 km

Gesamtstrecke: 6713,37 km

Etappenziel: Italien, 17024 Finale Ligure

Wetter: Sonnig mit einer ordentlichen Portion Wind

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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