Tag 560: Sarajevo

von Heiko Gärtner
15.07.2015 20:08 Uhr

Noch 1 Tag bis zum Treffen mit Paulina!

Heute ist wirklich der letzte Tag, den wir als Duo verbringen. Ein bisschen seltsam fühlt es sich schon an und wir sind wirklich gespannt, wie sich alles entwickeln wird. Paulina sitzt nun im Auto des Paketlieferanten und befindet sich irgendwo auf dem Weg hierher. Das letzte Mal, das wir von ihr hörten, war sie gerade kurz hinter Regensburg.

Der Weg nach Sarajevo war grenzwertig, so wie in jeder großen Stadt. Wir schafften es, bis auf die letzten 5km auf Nebenstraßen auszuweichen, wo der Lärm noch einigermaßen erträglich war. Dafür war der Gestank hier umso schlimmer. Ich weiß nicht warum, aber die Anwohner hatten es sich angewöhnt, ihre Abfälle und Abwässer in die kleinen Gräben zu kippen, die direkt vor ihren Häusern entlang flossen. Der Gestank den das verursachte erinnerte ein bisschen an den Geruch der einem entgegenschlägt, wenn man die halb verwesten Haare aus einem verstopften Ausguss in der Dusche entfernt. Nur viel intensiver. Es war eine Mischung aus Verwesung und chemischen Reinigungsmitteln. Wichtig schien den Menschen hier auch zu sein, dass man den Müll nicht in die Mülltonnen warf, sondern sorgfältig darum verteilte. Anders können sich die Duftaromen ja auch nicht richtig entfalten.

Die Autobahn war auch heute noch unser bester Freund. Hätten wir auf ihr wandern können, wären wir wahrscheinlich so ruhig und angenehm in die Stadt gekommen, wie sonst nie. Leider ging das nicht, dafür konnten wir aber neben ihr und teilweise unter ihr laufen, was interessanterweise immer die ruhigsten Abschnitte waren. Wenn man dem Graffiti mit der Aufschrift „Ich war hier 2005!“ glaubt, dann war die Autobahn allerdings doch schon eine ganze Nummer älter, als wir vermutet hatten. Wir hätten geschätzt, dass sie nicht älter als drei Jahre war, doch sie musste dann schon mindestens 10 Jahre hier stehen. Umso mehr war es verwunderlich, dass niemand sie nutzte. Vor allem, wenn man bedenkt, was für ein Aufwand es gewesen sein musste, sie zu bauen. Denn sie führte schnurgerade durch ein Hügelland, was bedeutete, dass sie entweder aus Tunneln oder aus brücken Bestand. Beides ist nichts, was man mal so eben in die Landschaft rotzt, weil einem sonst nichts besseres einfällt.

Schließlich aber endete unsere Nebenstraße und führte auf eine der Hauptzufahrtsstraßen nach Sarajevo. Es war die hinterste, also die, die wahrscheinlich am wenigsten befahren wurde und doch waren wir mehr als bedient. Die letztem Male, dass wir durch so eine Hölle mussten, waren Porto, Rom und Genova gewesen. Sonst hatten wir es geschafft, derartige Horrorverkehrsbereiche zu vermeiden.

Bei einem kleinen Hotel gerieten wir in ein Großaufgebot an Polizeifahrtzeugen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite reihten sich die Schaulustigen mit Fotoapparaten, Kameras und Smartphones aneinander. Was sie hier filmten und was der ganze Trubel sollte erfuhren wir leider nicht. Wahrscheinlich hatte es aber mit dem großen Reisebus zu tun, der auf dem Parkplatz stand und dessen Seitenaufdrucke lieblos mit einer Plastikfolie abgeklebt waren. Darunter konnte man deutlich die Bilder von Fußballspielern erkennen. Vielleicht war hier also gerade irgendein berühmter Fußballverein zu gast. Wobei, so berühmt konnte er auch wieder nicht sein, denn dann wäre er kaum in einem Dreisternehotel abgestiegen.

An einem Supermarkt versuchten wir unsere Nahrungsreserven wieder etwas aufzufrischen. Doch man wies uns mit der Begründung ab, dass hier nichts weggeworfen wurde und man uns somit auch nichts geben könne. Ein Blick auf den Parkplatz sagte hingegen etwas anderes. Die Container waren voll mit Lebensmitteln, die in der Sonne nun leider wirklich nicht mehr verwertbar waren. Doch dass hier weniger weggeworfen wurde als in anderen Ländern konnte man wirklich nicht behaupten. Mir fiel dabei eine Situation wieder ein, die ich vor ein paar Tagen erlebt hatte. Dabei hatte ich an einem kleinen Obststand nach Essen gefragt und war ebenfalls abgewiesen worden. Die Frau wäre nicht der Chef und Obst, das nicht mehr verkauft werden könne, gäbe es hier nicht. Keine 20 Minuten später war ich dann gemeinsam mit Heiko noch einmal an diesem Obststand vorbeigekommen. Nun war die Frau dabei, alle auszusortieren, das auch nur eine kleine Druckstelle hatte. Sie stopfte es in große Tüten und warf es in einen Müllcontainer. Als wir das sahen verschlug es uns fast die Sprache. Warum machte man das?

Ebenso wenig verstanden wir die Menschen, die hier lebten. Hier oder in anderen Städten wie dieser. Was veranlasste uns nur dazu, uns so dermaßen zu ballen, dass wir uns das leben selbst und gegenseitig so unerträglich wie möglich machten? Was war der Vorteil, den man hatte wenn man hier lebte, gegenüber einem Häuschen auf dem Land oder in einer Kleinstadt? Niemand musste hier ja leben, es war eine freie Entscheidung. Und doch zogen die Menschen ein Leben in Lärm, Dreck, Hektik und Gestank einem Leben in der Natur vor und zahlten dafür sogar noch mehr Geld, bzw. akzeptierten, dass sie hier ärmer lebten. Wie kommt das?

Das wir schließlich wieder von der Hauptstraße abbiegen durften, war wie ein Befreiungsschlag, wenngleich wir ihn recht teuer bezahlen mussten. Denn hinter der nächsten Kurve erwartete uns der steilste Anstieg, den wir auf der ganzen Reise überhaupt bewältigen mussten. Er begann als Teerstraße, wurde dann zu einem Betonweg und schließlich zu einer reinen Schotterpiste. Es war schon öfter vorgekommen, dass ich geglaubt hatte, nach hinten abzurutschen, weil der Weg zu steil und mein Wagen zu schwer war. Diesmal aber passierte es wirklich. Mein Wagen hatte auf den letzten 20 Metern einfach die Schnauze voll und dachte sich: „Warum soll ich da hoch, wenn die Schwerkraft mir doch ein so verlockendes Angebot macht, um dort hinunter zu rollen?“ Mir zog es die Beine unter dem Hintern weg und ich landete auf allen Vieren, wobei ich sicher ein beeindruckend dämliches Gesicht machte.

Um nicht den ganzen Berg nach unten zu rutschen, versuchte ich verzweifelt, irgendwo halt zu finden und schaffte es schließlich, meinen rechten Zeigefinger in einem Maschendrahtzaun zu verhaken. Das musste nun noch dämlicher ausgesehen haben, aber ich hatte immerhin wieder ein bisschen Halt. Vorsichtig schaute ich mich um. Wenn ich es schaffen konnte, auf den Grünstreifen zu gelangen, dann konnte ich vielleicht weitergehen, ohne dabei ständig abzurutschen. Nur war der Streifen einen guten Meter von mir entfernt, was sich in meiner Situation unerreichbar weit anfühlte. Gerade, als ich es fast geschafft hatte, tauchte Heiko neben mit auf und half mir beim Anschieben.

„Sorry!“ meinte er, „ich hätte dir auch früher schon geholfen, aber nachdem ich oben war musste ich erst einmal meine Lunge wiederfinden.“

Oben stellten wir den Wagen ab und sanken neben einer Garage zu Boden. Eine alte Oma, die offensichtlich die Eigentümerin der Garage war, wollte dagegen protestieren, doch wir waren viel zu fertig, um sie überhaupt nur wahrzunehmen. Als ich in der Lage war, die Augen wieder zu öffnen, fiel mein Blick auf ein weites Tal. Auf der gegenüberliegenden Seite stand eine riesige Fabrikhalle mit großen Einschusslöchern in den Wänden.

„Denkst du, was ich denke?“ fragte Heiko und deutete auf die Halle. „Das sieht nach dem optimalen Schlafplatz aus.“

Wir mussten nur noch einmal um das Tal herum auf die andere Anhöhe gelangen. Hier wurde nun zum ersten Mal der Blick auf die Innenstadt von Sarajevo frei. Mit Worten ist es kaum zu beschreiben. Schaut euch am besten einfach die Bilder an.

Die Fabrikhalle entpuppte sich wirklich als idealer Schlafplatz. Sie stand leer, war weitegehend unvermüllt und bot gegen alle Seiten Sonnen- und Sichtschutz. Außerdem war es hier erstaunlich leise. Der Lärm der Stadt und seiner Zufahrtsstraßen blieb hinter den Bergen zurück. Besser hätten wir es hier kaum treffen können.

Auf meiner Nahrungs- und Wasser-Such-Runde wurde ich als aller erstes von einer Schafsherde aufgehalten, die vor mir die Straße querte. Ich musste schmunzeln über diesen Zusammenprall von moderner Großstadt und dörflicher Bauernidylle. An Schafe und Kühe, die überall herumliefen waren wir ja bereits gewöhnt, aber hier wirkten sie irgendwie skurril.

Die Anwohner, die ich hier traf hätten ambivalenter nicht sein können. Die ersten schlugen mir die Tür vor der Nase zu, als ich nur fragte, ob sie Englisch sprachen und drei Häuser weiter wurde ich fast adoptiert.

Eine freundliche Frau mit Kopftuch öffnete mir die Tür und da sie nicht verstand, was ich von ihr wollte, holte sie ihre Tochter hinzu. Sie hieß Elina und sprach fließend Englisch. Während ihre Mutter ein Luchpaket für uns zurecht machte, unterhielten wir uns auf der Terrasse und ich erzählte ein bisschen von unserer Reise. Dann bekamen wir auch noch einen großen Kanister mit Wasser, sowie Seife und Handtücher um uns mal wieder waschen zu können. Wir müssen nun also doch nicht komplett verdreckt auf Paulina treffen.

„Ihr schlaft in der alten Fabrikhalle?“ fragte die Mutter entsetzt, „das ist bestimmt gefährlich, kommt lieber hier her und zeltet bei uns im Garten!“

Später besuchte ich die Familie noch einmal, um den Computer-Akku wieder zu laden und um diesen Bericht zu schreiben. Dabei erzählte mir Elinas Mutter mit Hilfe ihrer Dolmetscherin, wie der Krieg hier ausgesehen hatte. Elina selbst war erst nach Kriegsende geboren worden, aber ihre beiden älteren Brüder hatten ihn als kleine Kinder miterlebt. Die Hügelkette, die man von hier aus sehen kann, war die erste Linie der Schlacht gewesen. Die Serbischen Truppen hatten dort gestanden, während sich die bosnischen in genau der Fabrikhalle verschanzt hatten, in der wir nun schliefen. Sie hatten damals auch die Sandsäcke mitgebracht um sich dahinter zu verschanzen, die wir nun zum Befestigen der Zeltschnüre verwendet hatten.

Während ich hier saß und meinen Bericht schrieb, brachte die Mutter immer weitere Tüten mit Essen und schließlich auch noch mit Kleidung. Ich glaube, wenn ich noch länger sitzen bleibe, dann werde ich wirklich adoptiert. Zum Frühstück sind wir auf jeden Fall schon einmal herzlich eingeladen und auch auf einen Kaffee in dem kleinen Café in dem Elinas Bruder arbeitet. Mal sehen, was der morgige Tag so bringt. Dann werden wir entscheiden, ob wir die Einladungen annehmen können oder nicht.

Spruch des Tages: Ab morgen sind wir eine Herde!

 

Höhenmeter: 260 m

Tagesetappe: 17 km

Gesamtstrecke: 10.053,77 km

Wetter: sonnig und warm, später bewölkt

Etappenziel: Zeltplatz in einer ehemaligen Fabrikhalle, Sarajevo, Bosnien und Herzegowina

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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