Tag 515: Offene Fragen

von Heiko Gärtner
01.06.2015 00:59 Uhr

Auch heute verbrachten wir den ganzen Tag damit, durch die menschenleere Natur im Herzen Bosniens zu wandern. Ein Mal nur kamen wir durch einen kleinen Ort, der fast genauso verlassen war, wie der von gestern Abend. An einer kleinen Kirche machten wir Pause und kaum hatten wir uns hingesetzt, kam auch schon ein Mann, der wissen wollte, was wir hier machten. Es war geradezu beeindruckend und irgendwie auch ein bisschen beängstigend, dass man trotz der Einsamkeit hier nahezu niemals alleine ist. Lustiger Weise kamen die Menschen nie direkt zu uns um uns anzusprechen und so etwas zu sagen wie: „Hey, wer seit ihr denn und was macht ihr so? Ich habe euch mit diesen lustigen Wagen gesehen und es hat mich einfach interessiert.“

Nein, stattdessen fanden sie immer einen guten Grund, warum sie genau jetzt, völlig zufällig hier an diesem Ort auftauchen mussten, wo auch wir uns befanden. Dieser Mann hier beispielsweise kam nur her, um eine alte zerschlissene Fußmatte vor den Eingang der Kirche zu legen, die hier eh schon längst hingesollt hätte. Er sprach uns dann auf Bosnisch an, woraufhin wir ihm mitteilten, dass wir seine Sprache leider nicht besonders gut verstanden. Anschließend versuchte er es mit ein paar Sätzen auf Englisch und Deutsch, doch eine Konversation wurde nicht daraus. Es waren wieder die üblichen Fragen: „Woher?“

„Nürnberg!“

„Wohin?“

„Medjogerje!“

„Aha!“

Dann zündete er sich eine Zigarette an und stand er den Rest unseres Picknicks schweigend neben uns, um uns anzustarren. Ich kann nicht sagen, wer von uns dreister war, der Mann, weil er es fertig brachte, jemanden über mehr als 10 Minuten aus nächster Nähe anzustarren, obwohl er wusste, dass er störte, oder wir, weil wir einfach ruhig sitzen blieben und den Mann ignorierten, ohne uns von ihm aus der Ruhe bringen zu lassen. Er war ja eigentlich auch ganz nett, nur eben vollkommen fehl am Platz.

Nach der Pause ging es dann wieder für zwanzig Kilometer in die Einsamkeit, diesmal durch ein karges Felsenland, das nicht mehr so richtig wie das Auenland wirkte. Eher ein wenig wie Mordor, aber nicht so gruselig und auf seine Art auch voller Schönheit. Der Wind wehte nun so stark, dass wir uns gegenseitig kaum noch verstehen konnten. Das merkwürdigste daran war jedoch, dass er immer von Vorne kam und das obwohl wir ständig in Serpentinen liefen und immer wieder die Richtung änderten. Ebenso auffällig waren die künstlichen Wolken am Himmel. Ich muss zugeben, dass ich bislang immer noch ein bisschen skeptisch war, wenn Heiko meinte, dass das Wetter nicht natürlich sein konnte, sondern definitiv von Menschen manipuliert wurde. Jetzt aber gab es keinen Zweifel mehr daran. In der Früh hatten wir gestern wie heute einen strahlend blauen Himmel, ohne eine einzige Wolke. Dann kamen die ersten Flugzeuge, die ihre „Kondenzstreifen“ hinterließen, die sich nicht auflösten, wie sie es eigentlich hätten tun sollen. Sie bildeten nach und nach ein richtiges Gitternetz, dass sich immer mehr zu einer geschlossenen Wolkenschicht zusammenschloss. Doch die Wolken waren eckig und kantig, eben so, wie es bei einer Fläche der Fall ist, die aus einzelnen geraden Linien entsteht. Am Nachmittag war der Himmel dann weitgehend von dieser Wolkenschicht zugedeckt. Gestern war es bereits das gleiche gewesen, doch über Nacht hatte sich alles wieder verzogen.

Die Frage war nur, warum diese Wettermanipulationen hier vorgenommen wurden. Es lebte ja fast niemand hier, dem man damit schaden konnte. Ging es also vielleicht eher um ein Experiment, das bewusst hier durchgeführt wurde, eben weil hier kaum jemand lebte? Oder ging es darum, die Menschen, die hier lebten und die ihr Leben weitaus autark gestalteten, von den Supermärkten abhängig zu machen? Wir hatten nun bereits ein paar Mal gehört, dass die Ernten in den letzten beiden Jahren sehr schlecht waren und dass davon für die Menschen hier alles abhing. Wenn sie selbst nichts mehr ernten konnten, weil alles im Wasser ertrank und verfaulte, dann kam die Armut in Form der geringen Gehälter wirklich zum tragen. Oder ging es vielleicht gar nicht um dieses Gebiet, sondern viel eher um die Küste, die von den sintflutartigen Regenfällen ja genauso betroffen war? Sollte vielleicht verhindert werden, dass Kroatien wieder ein Urlaubsparadies wurde? Oder ging es vielleicht überhaupt nicht um diese Region? War der Regen hier vollkommen egal und sollte nur nicht dort herunterfallen, wo er eigentlich hinwollte. Wenn es hier unnatürlich viel regnete, dann musste es an anderer Stelle unnatürlich trocken sein. Ging es vielleicht darum?

Wir wissen es nicht, aber irgendetwas an der ganzen Sache ist definitiv faul.

Das gleiche gilt auch für den Krieg. Dieses Land ist so menschenleer, dass man sich fragt, wer hier überhaupt je hatte kämpfen wollen. Die größeren Städte, durch die wir kamen hatten gerade einmal fünf- bis zehntausend Einwohner und waren strategisch betrachtet absolut wertlos. Worum wurde hier also gekämpft? Warum wurden Dörfer in den Bergen zerbombt und vermint, in denen außer ein paar Bauernfamilien niemand lebte? Die Menschen waren für niemanden eine Bedrohung und sie besaßen auch nichts, das man ihnen hätte nehmen können. Außer natürlich ihr Land und den Wald. Aber ließ sich damit ein Krieg rechtfertigen. Irgendwie ergibt das alles noch immer keinen Sinn.

Man spürt jedoch, dass der Krieg und vor allem auch die Zeit davor, ihre Spuren bei den Menschen hinterlassen haben. Das, was sie so suspekt macht, ist nicht Unfreundlichkeit, sondern Angst. Die ständige Überwachung und das Gefühl niemandem trauen zu können, scheint noch immer in den Menschen verhaftet zu sein. So jedenfalls ließe es sich erklären, warum sie plötzlich neben einem stehen und einen Anstarren wie einen Schwerverbrecher, nur weil man sein Picknick auspackt.

 

Spruch des Tages: Das große Karthago führte drei Kriege. Nach dem ersten war es noch mächtig. Nach dem zweiten war es noch bewohnbar. Nach dem dritten war es nicht mehr zu finden. (Bertolt Brecht)

 

Höhenmeter: 290m

Tagesetappe: 31km

Gesamtstrecke: 9331,77 km

Wetter: sonnig und heiß, in der Nacht Temperaturen um 4°C.

Etappenziel: Platz auf einer Wiese am Fluss, Kuk, Bosnien und Herzegowina

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

Schreibe einen Kommentar:

Speichere Namen, Email und Webseite im Browser fur zukunftige kommentare