Die Spielregeln der Matrix

von Heiko Gärtner
18.03.2017 15:23 Uhr

22.02.2017

Wir hatten auf unserer Reise ja schon einige besondere und ungewöhnliche Tierbegegnungen, aber die von heute war noch einmal ein ganz anderes Kaliber. Wir wanderten durch das weite, von Weinanbauflächen geprägte Hügelland und kamen schließlich an einer Kuhweide vorbei. Links des Weges standen sechs oder sieben junge Kühe, rechts des Weges ebenfalls und dazwischen mitten auf dem Weg stand auch eine. „Na irgendetwas hast du hier falsch verstanden!“ witzelte Heiko an die Kuh gewandt, „du solltest doch eigentlich auf der anderen Seite des Zaunes stehen.“

Die Kuh graste gemütlich das frische Gras der Freiheit und schaute uns dann neugierig aber entspannt an. Erst als wir sie fast erreicht hatten, kam in ihr der Gedanke auf, dass wir vielleicht auch eine Gefahr darstellen könnten und dass sie trotz allem einen gewissen Mindestabstand zu uns aufrecht erhalten wollte. Leicht erschrocken sprang sie auf und wackelte ihren recht kotverschmierten Hintern vor uns her bis ans Ende der Weide. Dann bog sie ein Stück nach rechts ab, wo sich, wie wir vermuteten, das Loch im Zaun befand, durch das sie entkommen war. Sie blieb einen Moment stehen und wartete, bis wir wieder direkt neben ihr waren, um sicherzugehen, dass wir auch alles genau beobachten konnten. Dann ging sie einfach durch den Zaun. Uns fielen die Kinnladen herunter. Es gab hier kein Loch und auch keinen umgestürzten Pfahl, der ein Überwinden des Stacheldrahtzauns ermöglicht hätte. Lediglich die Spannung des Drahtes war hier ein klein bisschen geringer, so dass man die beiden Stacheldrahtstreben etwas auseinander drücken konnte. Doch auch dies erklärte nicht, was die Kuh hier gerade vollbracht hatte. Ihr Körper hatte einen Durchmesser, der den Abstand der beiden Drahtschnüre locker um ein dreifaches überstieg. Mit aller Gewalt hätte sie sich also vielleicht gerade noch hindurch quetschen können, wenn die beiden anstehenden Zaunpfähle etwas nachgegeben hätten. Doch dann wären da noch immer die scharfen und spitzen Drahtstacheln gewesen, die sich bei dieser Spannung tief in ihre Haut hätten bohren müssen, wodurch sie sich unweigerlich einen ordentlichen Flanken Fleisch herausgerissen hätte.

Später testeten wir die Schärfe der Drahtdornen mit unseren Schuhen. Bereits ein kleiner Druck reichte aus, um darin hängen zu bleiben, so dass wir unsere Sohle zerstört hätten, wenn wir wirklich weiter versucht hätten, mit Kraft gegen die Spannung darüber zu ziehen. Die Kuh jedoch blieb völlig unverletzt. Sie senkte ihren Kopf, setzte die Vorderfüße über den unteren Draht, duckte sich kurz und was voller Leichtigkeit und Grazilität binnen Sekunden auf der anderen Seite. Lediglich ein paar filzige Haare blieben am Drahtdornen zurück.

Wie war das möglich? Wenn wir nun das gleiche versuchen würden, würden wir uns dabei den ganzen Rücken aufreißen und das obwohl wir nicht einmal halb so viel Körpermasse besaßen. Hätte David Copperfield den gleichen Trick vor Publikum durchgeführt, hätten ihm die Zuschauer begeistert applaudiert und wären vollkommen beeindruckt gewesen, von der Präzession, mit der er seinen Trick geplant, trainiert und durchgeführt hat. Doch dies war nicht Copperfield. Es war eine Kuh und sie hatte sicher keinen präparierten Zaun mit versteckten Spiegeln und doppeltem Boden verwendet. Sie war einfach durch ein vollkommen unüberwindbares Hindernis geglitten, als wäre es das normalste der Welt. Diese Begegnung beschäftigte und noch lange und wir sannen intensiv darüber nach, was sie zu bedeuten hatte. Mit Hilfe der Kineolosogie machten wir einige Tests um Hintergrundinformationen zu bekommen. Das Ergebnis war verblüffend. Die Kuh selbst war real und sie war eine ganz normale Kuh. Aber die Situation war eine Illusion. Es war eine Art Traumgeschehen, das nicht in die Logik der Wirklichkeit passen musste, weil es außerhalb dieser Wirklichkeit stattfand. Es war gewissermaßen ein Wink mit dem Zaunpfahl um zu erkennen, dass es die Regeln der Wirklichkeit nur innerhalb der Traumillusion gelten, die wir für die Wirklichkeit halten. Ok, ich schätze, das muss ich wohl ein bisschen erklären, damit man versteht, was ich hier meine.

Gehen wir also noch einmal einen Schritt zurück und schauen uns unsere Welt von außen an. Alles ist eins, alles ist Gott alles ist Liebe. Soweit waren wir ja bereits. Es gibt nur ein großes Allbewusstsein, das alles, was wir in unserem Leben wahrnehmen können als Traumrealität erschafft, um sich selbst zu erfahren und um die Liebe, also sich selbst auszudehnen. Diese Traumwelt kann man sich ein bisschen wie die Matrix aus dem gleichnamigen Film vorstellen. Es gibt eine illusorische Welt innerhalb der Matrix und eine nicht-illusorische außerhalb davon. Man könnte es auch mit einem kollektiven Traum vergleichen, bei dem es einmal die Welt innerhalb des Traumes und einmal die äußere Welt, also die Welt des Erwachens gibt. Der Unterschied von unserem kollektiven Lebenstraum zu dem was im Matrix-Film gezeigt wird, ist lediglich dass unsere Matrix nicht von bösartigen Maschinen erschaffen wird, die uns aussaugen wollen, sondern vom göttlichen Allbewusstsein, dass dadurch wachsen will. Die Matrix ist also nicht böse und nichts negatives, sondern viel mehr eine Art Spiel oder Schauspiel, bei dem es um erkennen und wachsen geht.

Ein hawaiianischer Schamane hat die Funktionsweise dieser Traumrealität einmal recht anschaulich erklärt. Nehmen wir einmal an, unser Leben wäre ein Schachspiel. Solange wir uns innerhalb des Spiels befinden, verläuft unser Leben also nach bestimmten Regeln. Als Läufer darf ich beispielsweise nur diagonal auf die schwarzen oder weißen Felder treten, niemals aber auf die anderen. Als Turm kann ich gerade Strecken zurücklegen, nicht aber um die Ecke gehen. Und so weiter. Solange ich nun dieses Spiel für die Wirklichkeit halte, bin ich zu 100% an die Regeln gebunden. Erkenne ich hingegen, dass es ein Schachspiel ist, hält mich im Grunde nichts davon ab, die Regeln zu ändern. Denn rein physisch ist es kein Problem, den Turm auch um die Ecke zu ziehen oder den weißen Läufer auf ein schwarzes Feld zu setzen. Mehr noch, ich kann die Figuren sogar vollkommen vom Spielfeld nehmen und ganz woanders hin setzen. Ich kann sie sogar durch den Raum werfen oder in den Kühlschrank stellen. Mir muss nur bewusst sein, dass es dann kein Schachspiel mehr ist, sondern etwas anderes. Wenn ich also einmal erkannt habe, dass es ein Spiel ist und dass die Regeln nur innerhalb des Spiels gelten, sind meine Möglichkeiten grenzenlos. Ich bin Gott, ich bin das alles und somit kann ich auch alles nach belieben erschaffen, wandeln und verändern. Innerhalb der Spielrealität unserer Welt hätte die Kuh also nicht durch den Zaun gehen können. Sie wäre nicht einmal durch ihn hindurch nach draußen gelangt. Mit einem Bauchdurchmesser von einem knappen Meter zwischen zwei Stacheldrähten hindurchzuhuschen, die einen Abstand von 30cm haben ist ebenso wenig möglich wie einen Schach-Turm regelkonform um die Ecke zu setzen. Außerhalb der Regeln ist es aber kein Problem und genau das hat die Kuh uns gezeigt. Es war als wollte sie sagen: Findet die Schlupflöcher! Erkennt die Regeln der Illusion und enttarnt sie! Innerhalb unserer Traummatrix gibt es immer wieder aussichtslose und hoffnungslose Situationen, denen man scheinbar nicht entkommen kann. Auf unserer Reise erleben wir dies im Kleinen, teilweise auch im Großen immer wieder. Oft sind es einfache Situationen, die einen nicht umbringen, von denen man aber weiß, dass sie einem schaden, die man aber trotzdem einfach aushält, weil man glaubt, keine Wahl zu haben. Was soll man denn machen, wenn man einen Schlafsaal bekommt, in dem es permanent rauscht und piept, wenn man an einer Straße entlang muss, wo permanent der Verkehr dröhnt, wenn man mit seinen Projekten nicht weiter kommt, weil man nirgendwo einen Platz findet? Hier muss man die Situation ja einfach hinnehmen, da man sie nicht ändern kann. Oder kann man es doch?

Die Frage lautet nun natürlich vor allem: „Wie hat die Kuh das gemacht?“ Wie hat sie die Schlupflöcher im Regelwerk der Traummatrix gefunden und genutzt? Wie hat sie die Illusion erkannt? Wie konnte sie ihre Form, bzw. die Form des Außen so verändern, dass sie einfach durch die Lücke gleiten konnte, ohne dass es ihr etwas ausmachte? Dies ist es, was es zu lernen und zu erkennen gilt. Was wir bislang erkannt haben ist, dass es zunächst wieder ein altbekanntes Thema ist, das uns davon abhält, unsere Kraft als Matrix-Wandler auch anzuwenden. Unsere Angst. Was die Kuh anwendete um aus der augenscheinlich ausweglosen Situation zu entkommen war das Formenwandeln. Unser Körper ist kein festes, konstantes, gleichbleibendes Objekt. Er ist Energie, genau wie alles andere auch. Wenn er in seiner aktuellen Form nicht durch den Zaun passt, dann passt er in einer anderen Form hindurch. Genau auf die gleiche Weise wandeln Medizinleute ihre Form, um die Medizin oder Fähigkeit verschiedener Tierarten anzunehmen und nutzen zu können. Und genau au die gleiche Weise können wir in verschiedensten, ausweglosen Situationen ein Schlupfloch erkennen. Ein lärmender Tag ohne eine einzige Sekunde Ruhe beispielsweise ist kein Thema mehr, wenn man seine Gehörgänge bis auf eine winzige Restöffnung verschließt. Wenn einen ein helles Licht blendet, macht man ja schließlich auch einfach die Augen zu und alles ist nur noch halb so schlimm. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass ein Ohrenverschließen in den Spielregeln dieses Lebenstraums nicht vorgesehen ist. Um es dennoch tun zu können, müssen wir die Spielregeln umgehen und die Form unseres Körpers wandeln, in dem wir beispielsweise die Ohren eines Schwerhörigen annehmen. Und hier kommt unsere Angst ins Spiel. Wir glauben nicht daran, dass alles im Fluss ist. Wir glauben, dass alles fest und statisch und dauerhaft ist. Wir glauben, dass unser aktueller Körper so ist und bleibt wie wir ihn im Moment wahrnehmen und dass wir daran nichts ändern können. Selbst wenn wir nun also erkannt haben, dass dies nicht stimmt, haben wir aber noch immer das Konzept der Unveränderlichkeit in unseren Gedanken. Was also, wenn es uns nur ein einziges Mal gelingt, unsere Form zu verändern, danach aber nie wieder? Wir wären dann auf ewig verdammt, die neue Form beizubehalten.

Die größte Angst, die uns vom Formwandeln abhält ist also die, dass wir anschließend immer so bleiben müssen. Wenn ich meine Ohren nun auf stumm stelle und danach kann ich sie nicht wieder eröffnen, dann bleibe ich taub. Davor habe ich so eine Angst, dass ich glaube, dass der Kanal immer offen bleiben muss, um eine Einbuße zu verhindern. Selbst dann, wenn mein Leben aufgrund der äußeren Umstände unerträglich wird. Um also wahrlich flexibel zu werden und uns den Situationen anpassen zu können, so dass wir mit ihnen tanzen können, wie die Blätter eines Baumes mit dem Wind, müssen wir erkennen, dass alles fließt. Alles ist Fantasie, alles ist Liebesenergie. So wie sich die Gedanken in unserem Kopf permanent wandeln, so wandelt sich auch alles andere. Wenn wir begriffen haben, dass es keinen Unterschied zwischen dem Innen und dem außen gibt, können wir unsere physische Form genauso bewusst wandeln, lenken, ändern und steuern, wie unsere Gedanken. Aber genau wie bei unseren Gedanken können wir uns stattdessen auch hier einfach treiben lassen, ohne zum bewussten Erschaffer zu werden. Unsere Gedanken und unser Leben sind dann nicht die Produkte unseres eigenen bewussten Erschaffungsprozesses, sondern etwas, das automatisch geschieht und vor unseren Augen abläuft, ohne dass wir hier etwas tun könnten.

Spruch des Tages: Versuche nicht den Löffel zu verbiegen, denn das ist unmöglich. Erkenne, dass der Löffel nur eine Illusion ist. (aus „The Matrix“)

Höhenmeter: 90 m Tagesetappe: 25 km Gesamtstrecke: 21.036,27 km Wetter: bewölkt, kalt und regnerisch Etappenziel: Pilgerherberge, 33390 Saint-Martin-Lacaussade, Frankreich

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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