Tag 126: Die erste Nacht im Zelt

von Franz Bujor
07.05.2014 22:53 Uhr

Besonders erholsam war unsere erste Nacht im Zelt nicht. Das Zelt selbst war fast wie ein Haus. Mit seinen sechs Metern Länge und einer Höhe in der man bequem darin sitzen konnte, war es ein angenehmer Ort um den Abend darin zu verbringen. Vor allem, da es wieder zu regnen begonnen hatte. Dennoch zeigte sich nach dem Abendessen, dass ein Zelt im Allgemeinen kein besonders bequemer Arbeitsplatz ist. Um einen Bericht zu schreiben oder um Bilder am Computer zu bearbeiten ist ein Platz mit einem Stuhl oder wenigstens einer Wand zum Anlehnen doch von Vorteil. Heiko probierte es im Liegen und bekam dabei lahme Arme und Rückenschmerzen. Ich schrieb im Schneidersitz wobei mir ständig die Beine einschliefen. Außerdem verspannte sich mein Nacken noch mehr, als er es bis dahin eh schon gemacht hatte. Beim Hinlegen bemerkten wir, dass der Untergrund doch noch um einiges schiefer war, als wir geglaubt hatten. Dies war jedoch nur einer der Gründe für unseren unruhigen Schlaf. Wir waren am Vortag wieder einmal um einiges mehr gelaufen, als gut für uns gewesen war. Heikos Füße waren daher so platt, dass er sie kaum auflegen konnte. Vor allem seine Fersen schmerzten, was das Liegen auf dem Rücken fast unmöglich machte.

Bei mir waren es eher die Zehen, die mir Probleme bereiteten. In den letzten Tagen war es immer wieder vorgekommen, dass sie leicht taub wurden, oder mir unterm Wandern einschliefen. In dieser Nacht war es besonders schlimm, so dass ich ununterbrochen meine Zehen bewegen musste, um zu spüren, ob sie noch da waren. In der Früh testeten wir meine Muskeln dann einmal aus, um herauszufinden was die Ursache dieser Taubheit war. Irgendwie drückten die Hüftgurte des Rucksacks und des Wagens auf einen Nerv, der dadurch abgeklemmt wurde. Gleichzeitig war meine Atemtechnik offenbar ziemlich schlecht, so dass ich meinen Körper nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgte. Vor allem bei den anstrengenden Bergen und Temperaturen ist das nicht besonders hilfreich. Und schließlich stehen die Zehen auf mentaler Ebene dafür, dass es an der Zeit ist, den nächsten Schritt zu tun und etwas, das ich lernen soll auch in die Tat umzusetzen. Dass es die Nerven sind, die mir Probleme bereiten, deutet darauf hin, dass es dabei um ein Gefühlsthema geht. Ein Wink mit dem Zaunpfahl, wenn man bedenkt, dass ich mich seit beginn der Reise damit beschäftige, mehr auf meine Gefühle und meine inneren Eingebungen zu achten und ihnen zu vertrauen. Es scheint, als sollte ich damit nun wirklich langsam einmal Fortschritte machen.

Doch auch unsere Füße waren nicht der Hauptgrund dafür, das wir nicht einschlafen konnten. Irgendetwas trieb sich in unseren Köpfen herum und ließ uns nicht zur Ruhe kommen. Immer wieder wachten wir auf und sowohl Heiko als auch ich waren uns zwischenzeitig nicht sicher, ob wir überhaupt einmal eingeschlafen waren. In der Früh fühlten wir uns wie gerädert, doch da wir auch nicht mehr liegen konnten, packten wir unsere sieben Sachen zusammen und zogen los. Der Aufbruch dauerte durch den Zeltabbau noch einmal um einiges länger als sonst, und so stand die Sonne bereits hoch am Himmel als wir loszogen.

Unser erstes Ziel war eine Toilette, denn die gab es in unserem Zelt leider nicht und unser Zeltplatz war etwas zu nah an der Ortschaft gewesen um ihn als Toilette für große Geschäfte zu missbrauchen. Zumindest am Morgen. Aus diesem Grund suchten wir das Rathaus des Ortes auf, doch gegen jede Erwartung wurde uns der Zugang zu ihrem WC verweigert. Es sei nicht öffentlich, sagte uns die Frau am Empfang. Eine wirklich komische Aussage, für ein öffentliches Gebäude wie ein Rathaus.

Der Tag heute wurde sonnig und schön. Er war sogar fast schon ein bisschen zu warm, um entspannt zu wandern und bergauf lief uns der Schweiß in Strömen vom Körper. Dafür entdeckten wir heute die ersten reifen Erdbeeren und die ersten reifen Orangen. Demnächst dürfte sich die wenig kulinarische, spanische Küche also um frisches Saftiges Obst aus eigener Ernte erweitern. Die Landschaft hingegen wirkte eigentlich weniger so als wären wir in Spanien, sondern sah viel eher nach Allgäu aus. Hätte man uns hier ohne eine Information ausgesetzt, hätten wir darauf getippt, dass wir uns in der Schweiz befinden. Zumindest bis zum ersten Orangenbaum oder zur ersten Palme.

Heute begann nun endgültig der Pilgerfasching. Durch unsere Irrwege am Vortag waren wir vom eigentlichen Jakobsweg ein gutes Stück abgekommen, doch bereits auf den ersten hundert Metern, die wir den Muscheln wieder folgten, begegneten wir mehr als zehn anderen Pilgern. Im Laufe des Tages wurden es immer mehr und als wir schließlich Santillana del Mar erreichten, kamen noch einmal mindestens 50 weitere hinzu, die wir in diesem Ort trafen.

Auf einem Bergkamm machten wir eine Pause in der Sonne um etwas Schlaf nachzuholen und um unser Zelt zu trocknen. Dabei wurden wir ebenfalls von einer Reihe von Pilgern überholt. Zwischenzeitig wirkte es eher so, als würden die Wanderer an einer Kasse anstehen, denn sie gingen wirklich im Abstand von wenigen Metern in einer Schlange hintereinander weg. Eine Gruppe älterer Damen grüßte uns freundlich und spazierte langsam und entspannt vor sich hin. Sie begrüßten ein Pferd, dass auf einer nahen Weise stand, kraulten und fütterten es und genossen sichtlich ihren Tag. Kurz darauf kam eine Gruppe Männer vorbei, die einen Stechschritt wie beim Militär innehatten. Sie waren alle um die vierzig und trugen mehr Gepäck auf ihren Rücken als wir in unseren Wagen verstaut hatten. „Tolle Wagen habta da!“ rief einer von ihnen, ohne uns zuvor zu grüßen, „Woll´n wa tauschen?“

Später trafen wir die gleichen Männer in Santillana del Mar wieder. Sie hatten insgesamt eine Woche zeit für den Weg und mussten daher von einem Ort zum nächsten eilen. Was sie mit all dem Gepäck wollten verstanden wir nicht, denn sie schliefen in den Herbergen und brauchten daher eigentlich nichts außer einem dünnen Schlafsack. Als Heiko einen Witz darüber machte, dass sie eine Woche Auslauf von ihren Frauen bekommen hätten, fanden sie das gar nicht zum Lachen. Vor allem einer von ihnen, ein durchtrainierter Mann, der in den letzten Jahren einen ordentlichen Bierbauch bekommen hatte, fand sich in dem lustig gemeinten Kommentar mehr wieder, als ihm lieb war.

Bevor wir die kleine mittelalterliche Stadt erreichten, die unser heutiges Tagesziel wurde, durchquerten wir noch einige andere Ortschaften. Ein Großteil der Strecke führte uns an Hauptstraßen entlang, die meist jedoch mit Bürgersteigen ausgestattet waren. Für unsere Wagen waren diese Gehsteige eine wahre Herausforderung. Abgesenkt waren sie so gut wie nie, und wenn, dann nur bis zur Hälfte. Nicht selten kam es vor, dass der Gehsteig komplett schräg zu einer Seite hin abfiel oder dass man plötzlich vor hohen Kanten oder Treppenstufen stand. Als Rollstuhlfahrer hatte man in dieser Region Spaniens definitiv verloren. Es wurde nicht im Mindesten Rücksicht darauf genommen. Selbst für eine Frau mit Kinderwagen musste es die Hölle sein. Dabei wäre es kein bisschen schwieriger gewesen, den Gehweg so zu bauen, dass man ihn auch mit Rädern verwenden konnte. Warum es nicht gemacht wurde blieb uns ein Rätsel.

Unsere zweite Pause legten wir in einer Bar ein, in der wir neues Wasser und je ein Sandwich bekamen. Inzwischen haben wir das Gefühl, dass sich die Spanier fast ausschließlich von sogenannten Bocadillos ernähren. Das sind Sandwiches mit Käse, Schinken und Rührei in der Mitte. Vor allem Eier stehen hier hoch im Kurs. Es gab wahrscheinlich keine einzige Mahlzeit, die wir seit der Grenzüberschreitung eingenommen haben, zu der kein Ei gehörte. Unsere Verdauung ist damit langsam etwas überfordert.

Doch das Essen war nicht das eigentlich bemerkenswerte an dieser Bar. Es waren viel mehr die Menschen selbst, die uns wieder aufs Neue verblüfften. Außer uns und der Bedienung waren noch vier weitere Männer anwesend. Trotzdem herrschte in dem kleinen Raum ein Lautstärkepegel, der den der Hauptstraßen bei weitem übertraf. Ein älterer Herr kam zur Tür herein und schrie etwas zur Barfrau herüber, so als sei er stock sauer auf sie. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelte es sich dabei um eine Bestellung. Kurz darauf begann ein anderer Mann, der an der Bar lehnte ebenfalls zu plärren. Er sprach so laut, dass er den anderen Mann übertönte, woraufhin die Barfrau ebenfalls einstimmte und noch lauter schrie. Das konnte sich der Mann, der am anderen Ende des Raumes stand natürlich nicht bieten lassen und so mischte er sich mit noch lauterer Stimme in das Gespräch ein. Nur der vierte Mann, der sagte nichts. Dafür aber lief der Fernseher im Hintergrund auf voller Lautstärke. Wir hätten uns am liebsten unter dem Tisch versteckt, aus Angst, dass sie als nächstes mit Tassen werfen würden. Doch es war und blieb eine ganz normale Unterhaltung.

Als wir wieder im Freien waren dröhnte uns noch immer der Kopf, wie nach einem Diskobesuch. Von hier aus führte uns unser Weg weiter an einer großen Straße entlang, die uns nun gar nicht mehr so laut vorkam wie zuvor. An ihrem Ende stand eine riesige Fabrik mit der Aufschrift Solvay. Das Fabrikgelände war weitgehend hinter Mauern und Bahngleisen verborgen, doch die gewaltigen Schornsteine aus denen Dampf und Rauch quoll, waren nicht zu übersehen. Zur Fabrikanlage gehörten außerdem ein eigenes Umspannwerk, ein eigenes Wasserkraftwerk und ein eigenes Klärwerk. Wobei wir unsicher waren, ob das Klärwerk funktionierte, in Anbetracht der schaumigen Flüssigkeit die in den naheliegenden Fluss eingeleitet wurde. Solvay ist, wie wir später herausfanden, eines der zehn größten Chemieunternehmen der Welt und beschäftigt rund 30.000 Mitarbeiter in 40 verschiedenen Ländern. Darunter ist auch eine Tochterfirma mit Sitz in Hannover.

Santillana del Mar war die erste wirklich schöne Stadt, die wir in Spanien erreichten. Er war ein kleines Mittelalterstädtchen mit einer schönen Kirche, einer Stadtmauer, alten Steinhäusern und Kopfsteinpflasterstraßen. Das hatte natürlich auch zur Folge, dass es der wahrscheinlich touristischste Ort der ganzen Region war. Es wimmelte vor Menschen und vor Souvenirläden.

Da unsere letzte Nacht wie erwähnt nicht besonders erholsam war, wollten wir hier nun einen Platz finden, an dem wir uns wirklich entspannen konnten. Dass gelang uns sogar besser als gedacht. Bereits beim zweiten Versuch bekam ich eine Zusage. Noch dazu an einem Platz, der alles erfüllte, was wir uns gewünscht hatten: Eine Dusche, einen Internetzugang, genügend Platz für unsere Wagen, Raum für uns alleine, Ruhe und ein warmes Abendessen. All das fanden wir diesmal in einem Altenheim.

Den ersten Versuch, einen Schlafplatz zu ergattern, hatte ich eigentlich nur aus Interesse unternommen und nicht weil ich geglaubt hatte, das er wirklich erfolgreich sein konnte. Ich hatte dazu bei einem Kloster des Nonnenordens angefragt, mit dem wir inzwischen bereits ein paar mal Kontakt hatten. Wobei Kontakt nicht ganz das richtige Wort ist, denn es handelte sich um die Nonnen, die niemals ihr Haus verließen und niemals jemand anderen zu Gesicht bekamen, als ihre Schwestern. Wieder musste ich durch ein Rondell sprechen, doch diesmal hatte es sogar ein kleines Sichtfenster, durch das ich einen Teil des Gesichtes einer jungen Nonne sehen konnte. Sie war sehr lieb und freundlich, aber man merkte ihr an, dass sie wirklich noch nie die Welt außerhalb ihrer Klostermauern gesehen hatte. Auf meine Frage hin hielt sie Rücksprache mit der Mutter Oberin und kam dann mit einem Zettel zurück. Darauf stand die Nummer der Pilgerherberge. Die müsse hier irgendwo sein, auch wenn sie nicht wisse wo. Ich sagte ihr, dass ich die Herberge kenne, dass sie aber nicht umsonst sei, doch die junge Nonne sah mich verständnislos an. „Es ist eine Pilgerherberge!“ sagte sie dann, „Die muss doch umsonst sein, oder nicht?“

Sie glaubte es wirklich und wollte auch keine andere Meinung dazu hören. Skurriler Weise stand neben dem Sprechrondell eine große Vitrine mit teuren Plätzchen, Pralinen und Kuchen, die die Nonnen an Touristen verkauften. Um eine zu erwerben musste man ebenfalls durch das Rondell mit einer Schwester sprechen, die dann das Geld entgegen nahm und die entsprechenden Süßwahren durch das Drehrondell zum Kunden beförderte. Wir fragten uns, was eine junge Frau wohl dazu bewog, sich für ein Leben innerhalb eines solchen Gefängnisses zu entscheiden, in dem sie niemals das Sonnenlicht sehen durfte. Was musste im Leben eines Menschen vorgefallen sein, dass ihm dieser Weg als der bestmögliche vorkam? Ob sich die Nonnen überhaupt freiwillig dazu entschieden? Oder wurden sie vielleicht als Kinder dort hingegeben und hatten nie ein anderes Leben kennengelernt? Bei der jungen Nonne, mit der ich zuvor gesprochen habe, hatte es zumindest so gewirkt.

Bei unserem Rundgang durch die Stadt trafen wir vor der Kirche auf einen jungen Mann, der auf einem Musikinstrument spielte, dass ähnlich klang wie eine Hang. Es war ebenfalls eine Art Stealdrum, die sehr melodische und gefühlvolle Klänge erzeugte. Wir hörten ihm eine Weile zu und fragten ihn dann, ob wir ein Video von ihm machen dürften. Wir durften und sobald es fertig ist, stellen wir es hier natürlich wieder ein.

Wir kamen weiter ins Gespräch und erfuhren dabei, dass der junge Musiker ebenfalls ein Reisender war, der mit einem Bully durch die Lande zog und überall dort spielte, wo es ihm gefiel. Außer der Stealdrum spielte er noch fünf weitere Instrumente und hatte auch die Glaskugeljonglage einmal geübt. Das Spiel mit der Hang trainierte er seit seinem 13. Lebensjahr acht Stunden täglich. Das waren nun zehn Jahre. Als wir das erfuhren waren wir sofort wieder ernüchtert. Vor etwas mehr als einem Jahr hatten wir uns selbst eine Stealdrum gekauft, in der Hoffnung damit eines Tages Straßenkunst machen zu können. Doch zu hause hatten wir nicht die Zeit gehabt um wirklich zu trainieren. Für eine Weltreise zu Fuß war das Instrument dann zu schwer gewesen, doch hin und wieder trauerten wir ihm hinterher. Als wir den Jungen hatten spielen sehen und vor allem hören, waren wir sofort Feuer und Flamme gewesen und hätten am liebsten sofort nach Hause geschrieben, dass uns Heikos Eltern unsere Hang zuschicken. Doch selbst wenn wir sie irgendwo unterbringen konnten, dann würden wir kaum die Zeit finden, so intensiv zu üben, dass wir damit wirklich gut werden konnten. Auf dem Heimweg träumten wir noch lange von unserem Leben als Profi-Straßenmusiker. Doch uns war klar, dass dies nicht unser Weg war. Jetzt ging es darum, so fit und gesund zu werden, dass wir wirkliche Heiler und Abenteurer werden konnten. Und vielleicht war das Hangspiel ja ein Teil unserer Rente. Vielleicht sitzen wir ja eines Tages oben auf einem Berggipfel in Neuseeland, umgeben von der Harmonie der Natur, während uns der seichte Wind den Duft der wilden Blüten zuträgt und erfüllen die Luft mit den magischen Klängen einer Hang. Wer weiß!

Spruch des Tages: Es gibt unendlich viele wunderschöne Wege, sein Leben zu leben. Doch man kann nicht alle gleichzeitig gehen.

 

Höhenmeter: 360m

Tagesetappe 18 km

Gesamtstrecke: 2565,97 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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