Tag 588: Mücken als Mentoren

von Heiko Gärtner
12.08.2015 19:25 Uhr

Am nächsten Morgen wurden wir von unseren Gastgebern noch auf einen Tee eingeladen. Da wir nun langsam am Ende unserer Streckenplanung angelangt waren und nicht so recht wussten, wie es weiter gehen sollte, versuchte der Vater uns eine neue App auf unser Handy zu spielen, ein Navigationssystem, mit allen Karten des Balkans. Leider funktionierte das Programm nicht so richtig und wir brachten nur eine Version zum Laufen, die etwa ein viertel des Bildschirmes ausfüllte. Mit einer Lupe können wir nun aber im Notfall auch dann noch navigieren, wenn wir keine anderen Kartenmaterialien mehr haben.

Fast pünktlich nach unserem neuen Zeitplan brachen wir auf. Vom Haus unserer Gastgeber aus waren es nur wenige Kilometer bis nach Ljubovija, der nächst größeren Stadt in der Gegend. Sie war für das, was wir in der letzten Zeit gewöhnt waren erstaunlich angenehm und wirkte bei weitem freundlicher als die meisten bosnischen Städte. Es machte sogar wieder einmal Spaß in den Straßen herumzuschlendern. Dabei entdeckten wir einen kleinen Spielplatz auf dem es auch einen Trimm-Dich-Parcours gab. Gestern erst hatten wir den Punkt „Power-Work-Out“ in unseren Tagesplan mit aufgenommen und nun bot sich gleich so eine Chance dafür. Das mussten wir natürlich nutzen. Erschöpft aber glücklich wanderten wir weiter und kamen an einen Stand mit Melonen, an denen Paulina nicht einfach so vorüber gehen konnte. Mit Hilfe ihres Zettels fragte sie den Besitzer nach einer Wassermelone und wurde daraufhin gute zehn Minuten fest gequatscht. Verstehen konnte sie natürlich nichts, nur so viel, dass der Mann sie auf einen Kollegen vertröstete, der bestimmt bald kam und ihr etwas schenken würde. Doch niemand kam und so zogen wir schließlich mit leeren Händen weiter, als plötzlich ein Auto neben uns hielt. Ein Junge stieg aus, dicht gefolgt von seinem Vater. Der Junge sprach Englisch und konnte und war derjenige, auf den Paulina warten sollte. Er übersetzte die Frage für seinen Vater und dieser brachte uns ein besonders großes und schönes Exemplar einer Wassermelone, die Heiko nun erst einmal schleppen durfte. In den dreißig Jahren, in denen sein Vater nun Melonen verkaufte, erklärte uns der Junge, war es ein einziges Mal vorgekommen, dass Reisende vorbeikamen, die ebenfalls um ein Obstgeschenk gebeten hatten. Eine erstaunliche Quote.

Wir folgten auch heute weiter dem Grenzfluss und suchten uns schließlich wieder einen Platz in der Nähe des Ufers. Diesmal allerdings ohne ein Grundstück in der Nähe. Im Schatten der Bäume machten wir uns dann erst einmal über unsere Melone her und ich muss zugeben, dass ich gerade, wo ich darüber schreibe, schon wieder Lust darauf bekomme. Anschließend nahmen wir noch einmal ein Bad im Fluss, der an dieser Stelle etwas tiefer aber kein bisschen weniger strömungsintensiv war.

Anschließend legten wir uns auf die Wiese um mit dem zweiten Teil unseres Tagesprogramms weiter zu machen. Heute Stand Needling auf dem Plan, wobei es gut war, dass wir den Platz für uns alleine hatte. Sonst hätte es sicher komisch gewirkt, wenn immer zwei Menschen einen dritten festhielten und mit einer Nadelrolle traktierten, während sich dieser vor Schmerzen wand und dabei laut wimmerte. Vor allem, wo nun auch eine Frau dabei war, konnte das recht zweideutig aussehen. Allerdings muss man sagen, dass die zugegebener Maßen etwas raue Therapiemethode tatsächlich schon eine erstaunliche Wirkung zeigt. Die Narben vor allem an den Fingern werden deutlich besser, die Besenreißer werden weniger und sogar die großen Poren auf meiner Nase gehen zurück. Heiko bekommt wieder ein paar Haare an seinen Geheimratsecken und auch die Falten werden etwas schwächer. Der Schmerz lohnt sich also wirklich.

Nach dem Abendessen hatten wir dann noch eine weitere Übung für Paulina. Sie hatte nach dem gestrigen Abend beschlossen, dass sie weiter an ihren Themen dranbleiben und nach und nach versuchen wollte, ihre Blocken aufzulösen. Dazu gehörte auch, dass sie sich ihre Gefühle genauer anschaute und was wäre dafür besser geeignet als ein Song of Mosquito.

Ich habe ja bereits einige Male etwas über diese Übung geschrieben und wenn ihr möchtet könnt ihr ja noch einmal zu Tag 278 zurück blättern um noch mehr Informationen darüber nachzulesen. Die Idee ist es, sich der Natur im allgemeinen und den Mücken im Besonderen ohne einen Schutz gegenüberzustellen und in sich hineinzuspüren, was es mit einem macht. Dieser Ort, direkt neben dem Fluss war prädestiniert dafür, denn Mücken gab es hier wie Sand am Meer. Nach dem Essen setzte sich Paulina daher in Unterwäsche in ein ufernahes Gebüsch und bot ihr Blut den kleinen Saugeinsekten an. Eine halbe Stunde lang sollte sie dabei mit geschlossenen Augen meditieren. Dann sollte sie zehn Minuten lang den Mücken dabei zuschauen, wie sie ihre Arbeit verrichteten. Zum Abschluss durfte sie dann fünf Minuten lang auf der Stelle springen, damit sie richtig ins Schwitzen geriet um sich dann noch einmal eine Viertelstunde ruhig hinzusetzen. Durch diesen intensiven Kontakt mit den Mücken wurden eine ganze Menge Gefühle wachgerufen. Jeder Mensch, der vollkommen mit sich im Gleichgewicht ist, kann diese Übung ohne jedes Problem machen und wird dabei nicht einmal besonders stark gestochen werden. Alle anderen bekommen in den Mücken hunderte kleine Mentoren gestellt, die all die heruntergeschluckten Gefühle wieder an die Oberfläche bringen. In Paulinas Fall waren das vor allem Wut, Ärger und Zorn. Zunächst war sie wütend auf die Mücken, die sie hier piesackten. Dann übertrug sich die Wut auf andere Dinge, die sie in letzter Zeit geärgert hatten.

Vor allem aber auf Heiko, der ihr kurz zuvor beim Needlen so starke schmerzen zugefügt hatte. Je länger sie jedoch in die Wut hineinspürte, desto kleiner wurde sie und schließlich wurde ihr bewusst, dass sie eigentlich auf etwas wütend war, dass für sie positiv und heilsam war. Warum ärgerte sie sich über etwas, das ihr half gesund zu werden? Als sie das begriffen hatte, konnte sie auch die Mücken besser annehmen, da sie auch in ihnen nun einen Wachstumsboten sehen konnte. Dummerweise hatten wir vergessen, ihr vor dem Aufbruch zu sagen, dass sie auf keinen Fall kratzen darf, wenn sie mit der Übung durch ist. Denn wenn sie es schaffte, in den ersten zehn Minuten nicht zu kratzen, dann verschwanden die meisten Mückenstiche bereits nach kürzester Zeit wieder. Kratzte sie jedoch, dann blieben sie für eine längere Zeit und das war echt unangenehm, wenn man den ganzen Körper voll damit hatte. Als sie jedoch zum Zelt zurückgekehrt war, war es bereits zu spät. Es gab kaum noch einen Stich, an dem sie nicht gekratzt hatte. Deshalb beschloss sie, noch einmal ein nächtliches Bad zu nehmen und ihren Körper etwas runter zu kühlen. Gemeinsam mit Heiko verschwand sie Richtung Fluss. Später berichteten mir die beiden, dass sie völlig überrascht festgestellt hatten, dass die Strömung nachts bei weitem nicht so stark war, wie am Tag. Zunächst vermuteten wir, dass es vielleicht mit dem Mond zusammenhing, der genau entgegen der Fließrichtung des Wassers stand. Immerhin konnte er das Wasser im Meer so verschieben, dass sich der Spiegel um mehrere Meter hob oder senkte. Warum sollte er also nicht in der Lage sein, einen Fluss zu beschleunigen oder zu verlangsamen? Später erfuhren wir jedoch, dass es eine einfachere und weitaus weniger spektakuläre Lösung gab. Einige Kilometer flussaufwärts befand sich ein Staudamm, der die Gegend mit Strom versorgte. Nachts wurde einfach weniger Strom benötigt, daher wurde auch weniger Wasser abgelassen und somit gab es nicht so viel Strömung. Schade eigentlich, mit hat die andere Theorie besser gefallen.

Während Paulina ihre Begegnung mit den Mücken hatte, fragte ich in der Nachbarschaft noch einmal nach Wasser und etwas zum Essen. Dabei lernte ich eine Familie mit einem Jungen Mann namens Njemac, seinen Eltern und seiner Großmutter kennten. Die Mutter konnte kaum aufhören, mit Tüten mit Lebensmitteln hinzustellen und machte uns gleich noch ein paar gekochte Eier. Solange sie kochten saß ich im Garten und unterhielt mich mit dem Sohn. Dabei erfuhr ich, dass sich die Serben nach dem Krieg ähnlich schuldig fühlten, wie die Deutschen nach der Hitlerzeit. Jeder wusste, dass er damit eigentlich nichts zu tun gehabt hatte und doch lag eine Art kollektives Schuldbewusstsein auf dem Land. Es war das Gefühl, von aller Welt für die Bösen gehalten zu werden. Dementsprechend empfanden Nejmac und seine Familie es als eine Ehre, dass wir trotzdem nach Serbien gereist waren. Ich erinnerte mich vage daran, dass ich auch bei meinem ersten Besuch in diesem Land vor zehn Jahren schon einige Male auf dieses Thema gestoßen war. Viele Menschen, denen ich damals begegnet bin, konnten es kaum glauben, dass ich hier war. „Wer will denn nach Serbien?“ hatten sie mich gefragt, „Wir wollen alle hier weg, warum kommst du denn hier her?“

Der Ursprung dieses Gefühl war natürlich nicht besonders positiv, doch die Einstellung, dass ein Gast einen mit seinem Besuch ehrte, allein deshalb weil er hier durch das Land wanderte, veränderte einiges. Das merkten wir auch in den folgenden Tagen. Zuvor hatten wir oft das Gefühl gehabt, dass man uns zunächst einmal mit Argwohn begegnete, den man erst durchbrechen musste, bevor man Freundlichkeit empfing. Hier war es anders. Hier war man als Gast erst einmal willkommen und das blieb so, solange man sich anständig verhielt.

Spruch des Tages: Es gibt kaum einen größeren Mentor als das Volk der Mücken!

 

Höhenmeter: 320 m

Tagesetappe: 9 km

Gesamtstrecke: 10.346,27 km

Wetter: sonnig und heiß

Etappenziel: Zeltplatz hinter einem Sportplatz, Jasenovo, Serbien

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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