Linkshänder

von Heiko Gärtner
07.05.2015 20:16 Uhr

Nachdem wir uns von der Feuerwehrgemeinde verabschiedet hatten, wandten wir uns noch für eine Weile unseren Studien und Berichten zu. Plötzlich sagte Heiko in die Stille hinein: „Tobi, klatsch mal in die Hände!“

Etwas verwirrt über diese unerwartete Aufforderung unterbrach ich meinen Text und klatschte zwei Mal.

„Welche Hand lag dabei oben?“ fragte Heiko.

„Die rechte“, antwortete ich und hatte noch immer keine Idee, worum es eigentlich ging.

„Das ist sonderbar!“ meinte Heiko, „hast du nicht gesagt, du bist Linkshänder?“

„Doch, das bin ich ja auch!“ antwortete ich.

„Das denkst du, aber dein Körper sagt etwas anderes. Ich habe gerade gelesen, dass man beim Klatschen automatisch immer die Hand oben hat, die die bevorzugte Hand ist. In deinem Fall wäre es also die rechte. Kann es sein, dass du zum Linkshänder umerzogen wurdest?“

„Nein!“ sagte ich, „nicht, dass ich wüsste. Ich weiß aus Erzählungen, dass ich sogar als Kleinkind schon den Spielzeughammer immer mit der linken Hand gehalten habe. Und sobald ich Malen und Schreiben konnte habe ich es auch immer mit links gemacht. Nur wenn ich mit einer Schere schneide, mache ich es mit Rechts, denn das ist mit einer normalen Schere mit der linken Hand unmöglich.“

„Ist es das?“ fragte Heiko.

Ich war zu 100% davon überzeugt, dass man entweder gar nicht oder zumindest nicht genau schneiden konnte. Doch da Heiko noch immer skeptisch war probierten wir es aus. Zu meinem großen Erstaunen funktionierte es einwandfrei.

„Das kann doch nicht sein!“ rief ich entsetzt, „ich weiß dass es früher unmöglich war.“

Mir fiel ein, dass ich früher nicht nur mit der linken Hand geschrieben hatte, sondern dazu auch noch spiegelverkehrt. Ich machte also exakt das, was ein Rechtshänder tat nur eben umgekehrt. Jetzt wo ich schreibe fallen mir noch weitere Ungereimtheiten ein. So konnte ich beispielsweise immer leichter einhändig Fahrrad fahren, wenn ich die rechte Hand am Lenker hatte, als wenn ich es mit der linken versuchte. Wenn ich auf den Wildniskursen Beeren oder Kräuter sammelte, dann machte ich es ebenfalls mit rechts, während die linke Hand die ehrenvolle Aufgabe hatte, den Sammelbeutel zu halten. War ich am Ende also vielleicht wirklich gar kein richtiger Linkshänder?

„Gehen wir einmal davon aus, dass du intuitiv eigentlich ein Rechtshänder wärst. Dann musst du dich irgendwann einmal dazu entschieden haben, die Hände zu wechseln. Wenn dich niemand bewusst zum Linkshänder erzogen hat, dann muss es dafür einen anderen Auslöser gegeben haben. Wahrscheinlich schon sehr bald nach deiner Geburt.“ Wir überlegten noch eine weile hin und her, wobei ich zugeben muss, dass sich in mir zunächst alles dagegen sträubte, den Gedanken zuzulassen, dass ich vielleicht kein Linkshänder war. Die Theorie zur Ursache und vor allem zu den Folgen, fühlte sich jedoch gleich noch unwohler an. So wie es bei den Muskeltests herauskam, hatte irgendein Ereignis in meiner frühsten Kindheit dazu geführt, dass ich mich dagegen entschieden hatte, auf herkömmliche Art und Weise zu lernen. Normalerweise lernen wir in erster Linie durch Beobachten und Nachahmen. Irgendetwas musste ich jedoch gefühlt, gewusst oder beobachtet haben, dass mich dazu veranlasste, dies nicht mehr zu tun. Ich wollte die Dinge nicht so machen, wie es die anderen um mich herum taten. Ich vertraute ihnen nicht mehr und machte deshalb alles irgendwie entgegengesetzt. Ich weiß von meinen Unterrichtsstunden in der Tanzschule, dass ich intuitiv alle Schritte und Bewegungen andersherum machte, als sie mir vorgeführt wurden. Weitere Überlegungen führten uns dahin, dass es sogar nicht unwahrscheinlich war, dass auch meine Kurzsichtigkeit in einem direkten Zusammenhang mit dieser Lernresistenz stand. Denn durch die Unfähigkeit, Dinge zu sehen, die nicht in meiner unmittelbaren Nähe sind, verweigerte ich unbewusst die Fähigkeit, meine Außenwelt zu beobachten und so von ihr zu lernen.

„Wenn du jemanden beobachten willst, so dass du von ihm lernen kannst, dann muss er so nahe bei dir stehen, oder?“

Ich nahm die Brille ab und Heiko kam soweit auf mich zu, dass ich ihn klar und deutlich sehen konnte. Er stand nun nur noch etwa 20cm von meinem Gesicht entfernt.

„Wie fühlt sich das an?“ fragte er.

„Überhaupt nicht gut!“ antwortete ich. „Eng und beängstigend!“

„Ich denke,“ sagte er, nachdem er wieder einen Schritt zurückgetreten war. „Darin liegt auch ein Schlüssel. Aus irgendeinem Grund verweigerst du das Lernen durch Nachahmung und du willst nicht sehen, was nicht unmittelbar bei dir ist. Das ist auch das Prinzip, dass dich immer wieder in die Bredouille bringt, weil du nicht vorrausschauend Denkst. Du beachtest das, was dich im Moment betrifft, schaust aber nicht, was auf dich zukommen kann.“

Genau dieses Prinzip wurde mir heute dann noch einmal vor Augen geführt. In der Früh wollte der Reißverschluss meines großen Packsackes nicht mehr zugehen. Man konnte ihn hin und herschieben, doch die Tasche blieb offen. Erst nach einigen Versuchen gelang es uns wieder. Doch das konnte auf Dauer keine Lösung sein. Also schauten wir uns das Debakel am Nachmittag noch einmal genauer an und stellten fest, dass sich der Reißverschluss bereits so abgenutzt hatte, dass er nicht mehr richtig griff. Es bestand kein Zweifel, die Tasche musste getauscht werden. Hätte ich früher darauf geachtet und die Abnutzungsspuren gesehen, dann hätten wir uns problemlos von Heikos Eltern einen Ersatzsack mitgeben lassen können. Doch nun, da sie gerade abgereist waren bedeutete ein Tausch wieder eine menge Aufwand und zusätzliche Kosten. Es waren wieder die alten Themen: Geld, Voraussicht, Aufmerksamkeit. Fürs erste blieb uns nichts anderes übrig, als den Sack mit dem von Heikos zu tauschen und alle Dinge darin aufzubewahren, die wir nur äußerst selten brauchten. Doch es muss nun so schnell wie möglich ein neuer her. Beim Einpacken spürte ich, wie eine Wut in mir aufstieg. Ich konnte gar nicht genau sagen, warum sie da war. Ich war sauer auf mich, sauer auf den Packsack, sauer auf Heiko, weil er mich darauf hingewiesen hatte, dass es mit ein bisschen Vorausschauen möglich gewesen wäre, das Problem zu verhindern und sauer auf den Rest der Welt. Ich kann wohl ehrlich sagen, dass es mir in diesem Moment nicht besonders gut gelang, das Positive in der Situation zu sehen.

Es dauerte eine Weile, bis ich mich wieder beruhigt hatte und auch die Dinge wieder etwas distanzierte sehen konnte. Im schlimmsten Fall konnte man erst einmal alles mit einer Tüte und Panzertape regulieren. Es war also alles kein Weltuntergang. Wenn man sich hier umsah, dann stellte man fest, dass die meisten Häuser hier noch weitaus improvisierter waren. Kaputte Fenster wurden mit Klebeband und Pappkarton repariert oder einfach mit losen Ziegelsteinen zugestellt. Und die Menschen hier kamen damit auch zurecht. Solange der Wagen lief, würden also auch wir eine Lösung finden.

Kurze Zeit später war es mit dem Grübeln dann eh vorbei. Die Straße wurde zu einem Feldweg, der durch die schweren Landmaschinen vollkommen zerstört worden war. Wir kamen also in die Gelegenheit zum ersten mal die Autdoortauglichkeit unserer neuen Wagenkonstruktion zu testen. Und man muss sagen, wir waren sehr zufrieden. So viel Kontrolle hatten wir nie zuvor über unsere Pilgeranhänger gehabt.

Das Land war nun deutlich offener und flacher als zuvor und damit waren auch die Felder wieder größer geworden. Die kleinen Hausbetriebe waren hier durch große Industrieflächen abgelöst worden. Langsam schien es uns, als würde es auf unserer Welt ein Gesetz geben, das besagte, dass es auf einer flachen Ebene niemals einen Wald geben durfte. Sobald etwas flach wurde, war es eine landwirtschaftliche Fläche. Wälder gab es nur in Regionen, in denen es auch Hügel gab.

In einem kleinen Ort namens Lupoglav kamen wir an eine Kirche. Auf dem Dach des Nebengebäudes brütete gerade eine Storchenfamilie. Der Pfarrer kam genau in dem Moment nach Hause, in dem wir bei ihm vor der Tür standen. Er bot uns zunächst ein verlassenes Caritas-Haus an, das jedoch so verfallen war, dass wir Angst hatten durch den Boden zu fallen. Da es außerdem keinen Strom hatte, baten wir ihn um eine Alternative. Die fanden wir dann in Form eines Kommunions-Unterricht-Raumes. Wir waren also wieder beim alten Prinzip und irgendwie war uns das deutlich lieber, als das Geisterhaus der Caritas.

Spruch des Tages: Zum Reisen gehört Geduld, Mut, Humor und dass man sich durch kleine widrige Zufälle nicht niederschlagen lasse. (Adolph von Knigge)

Höhenmeter: 20

Tagesetappe: 12 km

Gesamtstrecke: 8863,77 km

Wetter: sonnig, leicht bewölkt und schwülwarm

Etappenziel: Pfarrhaus, 10370 Lupoglav, Kroatien

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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