Tag 173: Die Flucht aus dem Paradies

von Franz Bujor
24.06.2014 00:01 Uhr

Auch in der Nacht kam das Surfercamp kaum zur Ruhe. Zwei der Gäste wechselten sich damit ab, zum Klo zu rennen und zu kotzen. Ich vermutete zunächst, dass sie am Abend etwas zu viel getrunken hatten, doch am Morgen erzählte eine von ihnen, dass sie sich wohl irgendeine Art von Darminfektion zugezogen hatten. Auch das kleine Kind von Alex und seiner Freundin Hanna schrie und weinte die ganze Nacht durch, weil es Bauchschmerzen und Durchfall hatte. Irgendetwas schlug den Menschen hier also wirklich ordentlich auf den Magen.

In der Früh sah ich das Surfercamp dann zum ersten Mal bei Tageslicht. Mir war am Abend nicht aufgefallen, wie ungemütlich es hier war. Der Aufenthaltsraum war kalt und lieblos eingerichtet und erinnerte dabei eher an die Gemeinschaftsräume der Obdachlosenunterkünfte die wir besucht hatten, als an ein Surferparadies. Der Garten war mit unterschiedlichem Gerümpel und einigen alten Autos zugestellt. Zum Wohlfühlen blieb also nur wenig Raum. Als wir später am Nachmittag noch einmal über die ganze Angelegenheit reflektierten, wurde uns bewusst, wie Kraftraubend dieser Ort gewesen war. Wir hatten im Laufe unserer Reise viele unterschiedliche Plätze kennengelernt. Einige davon waren wahre Kraftorte gewesen, an denen man sich bereits wohl und gestärkt fühlte, wenn man sie nur betrat. Auch, wenn man noch mit keinem einzigen Menschen gesprochen hatte. Dies war beispielsweise im Sandkloster von Bayonne der Fall gewesen. Andere Orte, wie dieser hier machten einen sofort müde und kraftlos, noch bevor man wirklich wusste warum.

Ebenso war es mit den Menschen. Dass es unter der spiegelglatten Oberfläche des traumhaften Surferparadieses hier mächtig brodelte, hatten wir bereits gespürt, bevor wir wirklich angekommen waren. Sandra hatte es gewusst, als sie das Zimmer im Internet gebucht hatte. Sie hatte beiläufig ein kleines Kommentar darüber in einer SMS geschrieben, das uns eigentlich nicht einmal groß hätte auffallen dürfen. Doch auch wir waren sofort stutzig geworden und hatten ein ungutes Gefühl im Bauch gehabt.

Die Begegnungen mit dem Platz und mit den darin lebenden Menschen waren für uns sehr wichtig gewesen. Vielleicht war es die wichtigste Begegnung in der letzten Zeit gewesen. Nichts hätte uns besser zeigen können, wie stark unsere Intuition bereits geworden war und wie wenig wir ihr noch immer vertrauten. Bereits die Schnellstraße gestern Vormittag hatte sich schon nicht gut angefühlt. Dann das Chaos mit der falschen Adresse, der Impuls, den alten Mann zu besuchen, das aufkommende Unwetter und so weiter. Alles, aber auch wirklich alles hatte uns gesagt, dass es nicht gut für uns war, in dieses Camp zu gehen und wir hatten jeden einzelnen Hinweis darauf ignoriert.

Was die sonderbare Situation mit dem Zelt sollte, verstanden wir noch immer nicht. Wegen ein paar Regentropfen und einer großen, grauen Wolke waren wir vollkommen in Panik geraten und hatten versucht, unser Zelt auf einem Parkplatz aufzubauen. Wie viele Parkplätze hatten wir in unserem Leben bereits gesehen? Sollte man nicht meinen, dass wir hätten wissen müssen, dass sie immer aus Kies oder einem anderen festen Boden bestehen? Vor allem, wenn es sich dabei um die Parkplätze zu einem Veranstaltungsort handelte? Trotzdem liefen wir wie aufgescheuchte Hennen, die zum ersten Mal ihre Legebatterie hatten verlassen dürfen, auf dem Parkplatz umher und suchten nach einer Stelle, die weich genug für einen Hering war. Währenddessen durchweichte der Regen unser Zelt und die darunter liegende Plane und wir schnauzten uns gegenseitig an. Wo waren die Gelassenheit, die Überlegtheit, die innere Ruhe und das Vertrauen, dass wir in den letzten 6 Monaten permanent trainiert hatten? Wir hatten uns angestellt wie zwei Stümper, die keine Ahnung vom Draußen Leben hatten und die sich vor ein paar Regentropfen fürchteten. Was war da mit uns los?

Auf dem Weg zurück zur Straße waren wir dann auch gleich noch ins nächste Fettnäpfchen getreten. Ein Auto parkte am Wegesrand mitten im Wald und wie sich herausstellte parkte es nicht ohne Grund so versteckt. Als wir daran vorbeikamen grüßten wir freundlich und winkten der Dame, die gerade dabei war auszusteigen. Erst jetzt sahen wir, dass die Frau vollkommen nackt war und leicht erschöpft wirkte. Statt uns zurück zu grüßen verschwand sie hektisch wieder im Auto. So etwas unhöfliches!

Doch zurück zum Surfercamp. Es gab noch einen anderen Grund, aus dem das Camp für uns wichtig war. Es war ein Ort voller Spiegel unserer selbst. Heiko meinte später, dass am Frühstückstisch jede unserer möglichen Seelen vereint gesessen hatten. Jeder dieser Menschen hatte einen Weg gewählt, den auch wir hätten gehen können oder den wir sogar ein Stück gegangen waren.

Da war zunächst René, ein Kinderarzt, der eine Zeitlang in Deutschland praktiziert hatte und nun ausgewandert war, um hier als Surflehrer zu arbeiten. Er vertrat die Meinung, dass das Gesellschaftssystem in Deutschland, das beste war, das man sich vorstellen konnte. „Uns geht es doch gut!“ hatte er gesagt, „Als Arzt verdient man seine drei bis fünf tausend Euro, was will man mehr? Klar gibt es andere Länder, die besser bezahlt sind, aber ab einer gewissen Summe macht mehr Geld einfach keinen Sinn mehr!“ Er hatte nichts gegen das Medizinsystem einzuwenden und fand auch, dass die Nahrung aus unseren Supermärkten eine gute Sache waren. Bis zu einem gewissen Punkt wirkte es sogar glaubhaft, was er sagte. Doch seine Stellungnahme hatte einen Haken. Warum lebte er in diesem Camp als unbezahlter Surflehrer, wenn es in Deutschland doch so viel besser war? Er glaubte sich selbst nicht und dies war auch einer der Gründe, warum er sich so dagegen sträubte, das Thema Medizin anzuschneiden. Am Vorabend hatte er sogar behauptet, Fliesenleger zu sein, um einem Gespräch über seinen Beruf aus dem Weg zu gehen. Als Hanna mit ihrem Sohn auf dem Arm an den Tisch trat, entstand eine weitere komische Situation. Hanna erzählte, dass der kleine die ganze Nacht durchfall gehabt hatte und dass sie deswegen einen Arzt angerufen hatte. Der Arzt am Tisch machte dazu nur ein lustiges Kommentar, gab aber nicht die geringste Hilfestellung. Wollte er nicht oder konnte er nicht?

Mit Hanna sprachen wir erst einige Zeit später, als wir uns von ihr verabschiedeten. Sie fragte uns zu unseren Wagen und ließ durchblicken, dass sie das Gepäck für übertrieben hielt. Eine Erklärung dazu wollte sie jedoch nicht. Zuhören lag ihr genauso fern wie ihrem Freund. Dafür erzählte sie uns, dass man die Welt auch mit einem 10kg-Rucksack bereisen konnte und dass sie dies eine lange Zeit gemacht hatte. Ich kann nicht sagen, was es war, aber irgendetwas an ihr war komisch, als sie davon erzählte. Vielleicht der belehrende Tonfall, vielleicht aber auch etwas anderes.

Ansonsten saßen am Tisch noch Sandra, Linda, Marina, Olivier und Jasmin. Jasmin sagte nichts. Olivier war ein Mann aus Paris, der die letzten Jahre in London gelebt hatte und demnächst für die gleiche Bank arbeiten würde wie Sandra. Dass sich die beiden zukünftigen Kollegen ausgerechnet in diesem Camp in Portugal trafen, wo sie viele Jahre lang beinahe Nachbarn gewesen waren, zeigte auch wieder einmal, wie klein die Welt war.

Linda hingegen war ein Fall für sich. Sie war gerade mit dem Abi fertig und wollte nun als Psychologin ganz groß durchstarten. Für ein Medizinstudium hatte ihr NC nicht gereicht und so konnte sie diesen Traum nicht verwirklichen. Schuld daran waren vor allem die ganzen versnobten und sozial unterbemittelten Einserschüler, die das Ärztestudium nur aufgrund von Prestigewahn und Geldgier absolvierten. Dass Linda selbst sehr ähnliche Motivationsgründe hatte, sagte sie zwar nicht direkt, doch sie verheimlichte es auch nicht wirklich. Es ist schwer zu beschreiben ohne ausfallend zu werden, aber sie war der Typ Mensch, der erklärte, warum die Pharmaindustrie so ein leichtes Spiel hatte. Es war diese eigensinnige Mischung aus Hochnäsigkeit und Naivität, die dazu führte, dass man ihr nicht lange zuhören konnte. Wenn ihr ein Professor eine Packung giftiger Tabletten in die Hand drückte und ihr sagte, dass sie diese an ihre Patienten verteilen sollte, dass würde sie dies mit Stolz und mit Nachdruck machen, ohne es zu hinterfragen.

Marina war beim Frühstück auch eher schweigsam. In ihr brodelte noch die Unterhaltung von gestern Abend und außerdem war es zu früh für lange Gespräche. Wirklich wohl schien sie sich nicht zu fühlen. Am Abend war ihr Knackpunkt immer der gewesen, dass sie eine sofortige Lösung für alle Probleme brauchte. Wenn ich eine Frage nicht beantworten kann, dann sollte ich sie lieber nicht stellen. Heiko erkannte dabei außerdem einen alten Glaubenssatz, der auch in uns noch gut verankert ist: „Ich bin nur dann etwas wert, wenn ich etwas leiste!“

„Wenn ihr fünf Jahre um die Welt reist und am Ende immer noch nicht wisst, wie man mit der momentanen gesellschaftlichen Situation umgehen kann, dann hat die Reise ja eigentlich nichts gebracht, oder?“ war eine ihrer Fragen gewesen.

Und schließlich war da noch Sandra. Sie wusste, dass sie im Herzen eine Heilerin war, dass sie als Nomadin leben wollte und dass Freiheit für sie eines der wichtigsten Themen in ihrem Leben war. Doch sie konnte und wollte es sich nicht eingestehen. Sie wandte stattdessen eine Strategie an, die ich nur allzu gut kannte. Wann immer eine unangenehme Situation auftauchte, igelte sie sich ein, versuchte das negative von sich fernzuhalten und sich dabei im inneren eine eigene schöne Welt aufzubauen. Das Leitmotto lautete: Es wird sich schon wieder richten. Ich muss nur lange genug durchhalten. Als wir später noch ein Stück gemeinsam vom Camp in Richtung Süden wanderten, war es genau dieses Thema, dass sie beschäftigte. Sie wusste, dass auch sie sich im Surfercamp nicht wohlfühlte und dass sie es eigentlich verlassen sollte. Doch wollte sie wirklich gehen, oder sollte sie sich nicht doch lieber einigeln und versuchen, das Beste aus der Situation zu machen? Sie könnte ein Buch lesen, den Kontakt zu den anderen vermeiden, sich mit Olivier unterhalten, spazieren gehen und Kiten lernen. Mache ich mir das Beste aus der Situation oder suche ich mir eine bessere Situation? Das war die Kernfrage. Bis zu unserem Abschied hatte sie darauf keine Antwort. Doch es war die gleiche Frage, die sie auch im Leben beschäftigte. Sollte sie das Beste aus der Situation als Bankkauffrau machen? Sich tolle Sachen kaufen, spannende Urlaube buchen und sich viele schöne Highlights erschaffen? Oder sollte sie sich vielleicht doch eine bessere Situation schaffen, in der sie die Highlights nicht brauchte, weil sie sich vom Herzen her ausgefüllt fühlte?

Nach dem Frühstück wurden wir Zeuge eines heftigen Streits zwischen Hanna und einem anderen Campmitarbeiter. Es ging darum, dass der andere Mann nicht genug arbeitete und seine Pflichten vernachlässigte. Während sie stritten saßen die beiden dabei an der Bar, so dass es jeder Gast hautnah mitbekommen konnte. Sandra erzählte uns, dass es gestern bereits eine ähnliche Situation gegeben hatte. Es war also genau wie vermutet. Zwischen den einzelnen Teammitgliedern herrschte mehr Krieg als im mittleren Osten in den letzten hundert Jahren. Es war also kein wunder, dass hier eine schlechte Stimmung herrschte. Es gab nur eine einzige Pause, die die beiden Streithammel an diesem Morgen machten und diese wurde von unserem Versuch ausgelöst, sich von ihnen zu verabschieden. Nachdem wir uns wieder abgewandt hatten, ging es sofort wieder los, sie warteten nicht einmal, bis wir den Tresen verlassen hatten.

Auf dem Weg ließen wir die vergangenen Stunden gemeinsam mit Sandra noch einmal Revue passieren. Vor allem von Alex und Hanna hatten wir noch einige Aussagen und Handlungen im Kopf, die uns beschäftigten. Zunächst einmal war da der Umgang mit ihrem Kind. Die beiden hatten sich am Morgen fast in die Haare gekriegt, als sie ausdiskutierten, wessen Aufgabe es war, den kleinen in den Kindergarten zu bringen. Beide meinten keine Zeit zu haben und warfen dem anderen Faulheit vor. Auch sonst schien es nicht so, als würde der Junge besonders viel Liebe abbekommen. Er hatte jede Menge Spielzeug im Garten, doch abgesehen davon schien er im Business seiner Eltern noch mehr unterzugehen, als die Tochter von Fernanda. Vor allem Alex zeigte keinerlei Freude im Spiel mit seinem Sohn. Er wirkte eher so, als gab er dem Kind die Schuld dafür, dass er hier festsaß. Und bei seiner Freundin war es nicht viel anders.

Als wir Apúlia erreichten fingen Heikos Ohren plötzlich laut zu pfeifen an. Wir verabschiedeten uns von Sandra, die sich auf den Rückweg zum Camp machte.

Wenig später suchten wir uns einen ruhigen Platz in den Dünen, um für Heikos Ohren eine Heilsession machen zu können. Da es bereits wieder zu Regnen begann, bauten wir das Zelt auf. Diesmal in Ruhe und mit einem leichten Boden.

Heiko legte sich auf die Luftmatratze und ich setzte mich hinter ihn, so dass ich meine Hände auf seine Ohren legen konnte. In den letzten zwei Jahren durften wir von Darrel und einigen anderen Medizinleuten einiges über die alten, indianischen Energieheilungsmethoden erfahren. Wir hatten bereits einige Male damit gearbeitet, wenngleich ich mir nie ganz sicher war, ob ich damit irgendetwas bewegte oder nicht. Heute jedoch spürte ich, wie meine Hände bei der Meditation richtig heiß wurden und zu kribbeln begannen. Auch Heiko erzählte mir später, dass er die Hitze gespürt hatte. Langsam bekam ich also vielleicht wirklich eine Verbindung zu den geistigen Helfern. Natürlich konnte auch die große Hitze, die eh in unserem Zelt herrschte seinen Teil dazu beigetragen haben, doch dies allein war es nicht. Das zweite spannende an der Sache war, dass ich irgendwann den Impuls hatte, dass es jetzt stimmig war und ich die Meditation beenden sollte. In genau diesem Moment öffnete auch Heiko seine Augen. Zeitgleich ließ der Regen nach und die Vögel begannen zu zwitschern.

Den Nachmittag verbrachten wir damit, im Zelt ein Nickerchen zu machen und die verlorenen Stunden Schlaf nachzuholen. Als der Regen ganz aufgehört hatte zogen wir weiter. Im Zelt zu übernachten kam nicht in Frage, denn es war trotz der Wolkendecke nun bereits so heiß, dass wir es kaum mehr aushielten. Morgen würde uns die Sonne also bereits um 6:00 in der Früh durchbraten wie zwei Dönerspieße.

Doch ein Alternativschlafplatz ließ nicht lange auf sich warten. An der Hauptstraße stießen wir auf das Hotel Contriz, dass uns bereits von weitem anlächelte. Hier hatten wir ein vollkommen anderes Bauchgefühl als am Vortag. Irgendwie war uns klar, dass dies unser Schlafplatz werden würde, noch ehe wir gefragt hatten. An der Rezeption stieß ich auf einen freundlichen, alten Herren, der sogar Englisch sprach. Er übermittelte meine Bitte an seinen Cheff, der daraufhin zu mir kam und mir einige Fragen zu unserer Reise stellte. Ehe ich jedoch antworten konnte, entdeckte er den Lederhut in meiner Hand.

„Oh!“ sagte er, „darf ich mal?“ dann nahm er den Hut, setzte ihn sich auf und präsentierte sich damit vor seinen Mitarbeitern als der neue Indianer Jones. Alle Anwesenden, mich eingeschlossen mussten lachen. Als er zurückkam reichte er mir einen Zimmerschlüssel und die Fernbedienung für den Fernseher. Dann wünschte er uns einen guten Aufenthalt.

Es gibt eben solche und solche Plätze. Die einen rauben Kraft und die anderen geben Kraft. Dieser Ort hier gehörte zur zweiten Sorte.

Spruch des Tages: Achte stets auf dein Bauchgefühl!

Höhenmeter: 20 m

Tagesetappe 9 km

Gesamtstrecke: 3429,47 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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