Blinde Bergsteiger erklimmen die Zugspitze

von Shania Tolinka
31.08.2012 12:37 Uhr

Stürmischer Gipfelsturm ohne jede Fernsicht

 

Die Extremwanderer Heiko Gärtner und Tobias Krüger erklimmen auf ihrer „Blindentour" als blinde Bergsteiger sogar die Zugspitze

Heiko Gärtner und Tobias  Krüger sind wohlbehalten von ihrer zweiwöchigen „Blindentour" zurück und haben - was wenig überrascht - allerhand zu erzählen. Die Neumarkter Abenteurer können von Erlebnissen berichten, die ein Sehender niemals machen wird - und zumeist auch  gar nicht machen will.

NEUMARKT - Die erste Woche mit Spezialbrillen, die  diverse Sehbehinderungen simulieren, die  zweite mit komplett zugeklebten Augen: „Es  gab Situationen, in  denen ich  kurz davor war, mir das Teil von den Augen zu reißen", gibt Heiko Gärtner zu. Zum Beispiel als  beim Aufstieg zur  Zugspitze ein  Gewittersturm losbrach und ein Blitz nahe der  Klettergruppe ein- schlug. Doch dann habe er  sich gedacht,  ein Blinder kann ja auch nicht einfach aussteigen. „Wir wollten  ja diese Ohnmacht und diese Hilflosigkeit spüren."

 
Heiko Gärtner ist vermutlich der erste blinde Bergsteiger

Heiko Gärtner ist vermutlich der erste blinde Bergsteiger

 

Und beides bekommen die Neumarkter in den zwei Wochen zur Genüge. Zum Beispiel als sie mitten in der Nürnberger Fußgängerzone um Hilfe rufen, auf  der  Suche nach dem Weg  zu  einem Laden. Hunderte Passanten passieren die beiden, nur hilft keiner. „Die Menschen sind der  Meinung", hat Tobias Krüger gelernt, „in der  Gegenwart von Blinden  müsse man sich  immer ganz leise  verhalten, nur nicht stören."

Dabei sei, wenn man von  seiner Umwelt visuell nichts  mitbekommt, gerade das  Gegenteil der  Fall. So war das auch bei den  beiden Begleitpersonen, die  nur im  Notfall und bei  Zeitnot eingreifen sollten. „Sonst stört es dich, wenn einer neben dir alles kommentiert, was  er macht. Für Blinde ist das  aber total wichtig, dauernd fragst du: Was machst du denn?

 
Blind im Freizeitpark Geiselwind

Blind im Freizeitpark Geiselwind

 

Gaudi in Geiselwind

Die  Stationen der  skurrilen Tour waren Neumarkt, der  Hochseilgarten bei  Velburg, Nürnberg, Erlangen, Fürth, Augsburg, der  Bodensee, Garmisch,  München,  wieder  Erlangen und der  Vergnügungspark Geiselwind. Dann zurück in die  Heimat, wo das  Duo an der Quelle des  Lengenbachs bei St.  Helena wieder das  Licht der Welt erblickte.

Auf  dem Weg besuchten  Krüger und Gärtner „echte" Blinde und auch ein  Fernsehstudio. Viele  Strecken wanderten sie  zu  Fuß, auch  mit U-Bahn, Bus,  Zug  und mit  Trampen kamen sie weiter. Und das anfangs völlig mittellos, unterwegs wurden sie dann von Banken, der Bahn und anderen Dienstleistern großzügig unterstützt. „Und auch das Wetter war zum Glück super, so konnten wir uns  ganz auf das konzentrieren, was wir uns vorgenommen haben." Übernachtet haben die Outdoor-Spezialisten bei Freunden oder unter freiem Himmel, eine Nacht aus Versehen inmitten eines beliebten Schwulentreffs.

Der Gipfel der Verrücktheit war der zwölfstündige Aufstieg als blinde Bergsteiger auf  Deutschlands höchsten Berg, die  Zugspitze - möchte man meinen. „Da geht es  ja wenigstens immer bergauf", klärt uns Heiko Gärtner auf. „Das war nichts gegen die Tücken des  Alltags." Der Gang auf  ein  öffentliches WC (besonders wenn man sich  nicht vorher vergewissert hat, dass Klopapier da  ist), das  Einkaufen, das  Überqueren einer belebten Kreuzung, all  die Geh- und Bahnsteigkanten.

 
Die Zugspitze wurde erfolgreich blind bestiegen

Die Zugspitze wurde erfolgreich blind bestiegen

 

Auch die Mahlzeiten stellten sich als schwierig raus: „Das Frühstück ist die Hölle. Wie fühlt man nach der Butter?" Kaum habe man sich  alles zurechtgelegt, setzt sich ein Sehender dazu und verstellt blauäugig  wieder alles. Und, besonders hinterhältig, dreht den Salzstreuer um. „Ich hab zehn Minuten mit  dem  Ding herumhantiert, weil  nichts raus kam." Spätestens da konnte die beiden ermessen, mit  welchen immensen Problemen Blinde in einer Zivilisation zu kämpfen haben, die von und für Sehende gemacht ist.

 

Inspiration durch Andy Holzer

Beide waren auf den Spuren von Andreas „Andy“ Josef Holzer unterwegs. Andy hat beide persönlich beraten, damit alle Tipps und Ratschläge für einen guten blinden Bergsteiger beherzigt werden können. Andy der bekannte Blind Climber ist ein österreichischer Bergsteiger, Extremsportler und Vortragsreisender und hat als erster Blinder alle 8000er bestiegen. Er versucht bei seinen Vorträgen den Menschen etwas von seinen gelebten Visionen und grenzwertigen Erfahrungen, die er als „blind climber“ in den Bergen dieser Welt erleben darf, weiter zu geben. Andy Holzer ist von Geburt an blind und lebt in Tristach/Osttirol. Über 200 Tage im Jahr verbringt der Osttiroler im Gebirge – beim Bergsteigen, Klettern und Skitouren gehen. Mehr unter Andy Holzer's Website.  
Shania Tolinka
Shania Tolinka ist Reflexzonentherapeutin, Altenpflegerin und Blog-Autorin. Das Erwecken und Annehmen der eigenen Weiblichkeit, der Umgang mit traumatischen Erlebnissen, sowie die Frage, wie man bereichernde, erfüllende Beziehungen zu sich, seinem Partner und der Natur aufbauen kann, sind Themen, die ihr besonders am Herzen liegen. Aber auch im Bereich von gesunder Ernährung, Heilmassagen und Heilkräutern ist sie Expertin. Seit 2020 ist sie als Vollzeitmitglied der Lebensabenteurer-Herde dabei.

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