Ist Deutschland Barrierefrei? Das Resümee des Blindenexperiments
Ist Deutschland barrierefrei? Tagebuch Tour in das Leben der Blinden
15 Tage lang reisten Heiko Gärtner und Tobias Krüger blind durch Bayern. Ergebnis: Die Probleme liegen im Alltag versteckt.
von Wolfgang EndleinNeumarkt.Vor mehr als zwei Wochen sind Heiko Gärtner und Tobias Krüger zu ihrer neuesten Reise aufgebrochen. Der Clou diesmal: Die ersten Tage reisten sie mit Brillen auf den Augen, die die Sehkraft reduzieren, später setzten sie sich völliger Blindheit aus. Über ihre Erfahrungen ob Deutschland barrierefrei sei, haben die beiden Abenteurer Tagebuch geführt.
1. Tag: Der Tag geht für die beiden verspätet los. Am Vortag haben sie lange in Fürth mit dem dortigen Blindenbeauftragten geübt. Erschöpft und ohne Frühstück geht’s los. Eine Herausforderungen des Tages: Einen Brief aufgeben. 35 Minuten brauchen sie dafür. 2. Tag: Der Hochseilgarten bei Velburg ist die erste Herausforderung für Gärtner und Krüger. Blind begeben sich die beiden in die Höhe. Die Erfahrung: Höhenangst spielt blind keine Rolle mehr, dafür wird Gleichgewicht und Koordination zu einem Problem. Gleiches gilt für Gärtners Besuch auf der Toilette. Wo ist das Toilettenpapier? Warum geht die Klobürste nicht aus der Halterung? 3. Tag: Das Duo besucht in Nürnberg ein Dunkelcafé, kauft im Supermarkt ein und kocht – mit erneut reduzierter Sehkraft. Ergebnis: Das Abenteuer liegt im Alltag versteckt.
4. Tag: Inzwischen ist die Sehkraft fast völlig weg. Da nützt es den beiden wenig, dass der Frühstückstisch gut bestückt ist. Zu mehr als Brot mit Honig reichen ihre Fähigkeiten nicht. Der Besuch im Kino wird zur Herausforderung für die Sinne. Der Action-Film ist mit seiner Lautstärke und den schnellen Bildern der Feind des Sehbehinderten, stellen die Abenteurer fest. 5. Tag: Schnitzeljagd steht auf dem Programm. Was nach Spielerei klingt, bringt Gärtner und Krüger die Alltagsprobleme von Sehbehinderten näher. Wie finde ich den richtigen Bus? Wie komme ich über die Straße ohne Blindenampel? Nur gut, dass die beiden Aufpasser auf ihrer Tour dabei haben. 6. Tag: Als Blinder muss man viel Zeit einplanen. Das muss das Duo auf seiner Bahnreise nach Augsburg erfahren. Nur durch Sprints erreichen sie den Zug. Abends nächtigen sie auf einem Parkplatz, auf dem viel Betrieb herrscht. Krüger packt die Wut. Er springt nur mit Unterhose begleitet vor ein Auto – nichts ahnend, dass der Parkplatz ein Treffpunkt für all jene Männer ist, die auf der Suche nach einem Sexpartner für eine Nacht sind.
7. Tag: Am Bodensee angelangt, suchen die beiden eine Apotheke. Am nächsten Tag wollen sie die Augen mit einem speziellen Pflaster abkleben. Sie fragen eine alte Frau. „Apotheke? Hier? Da sind sie völlig falsch.“ Was das Duo nicht sehen kann. Direkt über ihnen leuchtet ein Apothekenschild.
8. Tag: Der achte Tag beginnt in Garmisch-Partenkirchen. Morgen wollen Gärtner und Krüger die Zugspitze erklimmen. Zuvor werden die Sehbehinderten zu völlig Blinden durch das Aufkleben von Pflastern. 9. Tag: Um fünf Uhr morgens geht es los. Zwölfeinhalb Stunden später sind die Bergsteiger oben – trotz eines Sturms. Völlig erschöpft geht es bergab – jetzt aber mit der Zugspitzbahn.
10. Tag: Kein Wecker kann die Erschöpften nach dem gestrigen Tag aus dem Schlaf reißen. In München angelangt trifft der Kontrast zwischen dem Trubel der Großstadt und der Ruhe am Berg die Abenteurer wie ein Schlag.
11. Tag: Ohne ihre sehenden Begleiter will das Duo in Erlangen einkaufen. Ohne Hilfe von Passanten geht das aber nicht. Doch in der Masse fühlen sie sich schnell allein. Niemand hilft – selbst nach minutenlangen Hilferufen. Niemand aus der Menge fühlt sich angesprochen. Es dauert noch lange, bis alle Einkäufe erledigt sind. 12. Tag: Die beiden wollen testen, wie es sich als Blinder in einem Freizeitpark anfühlt. Dafür sind sie nach Geiselwind gereist. Wilde Maus, Loopingbahn, Freefall Tower: Orientierungslosigkeit plus Geschwindigkeiten machen den Mägen zu schaffen. 13. Tag: Gegen das Frühstück sind Zugspitze und Wilde Maus nichts, stellen die beiden jeden immer wieder fest. Auch nach Tagen Blindheit tappen sie immer noch mit den Fingern in die Marmelade, streuen das Salz auf den Boden oder schmieren den Käse mehr auf den Teller als auf das Brot.
14. Tag: Einmal noch Wildnis: Auf einer Kräuterwiese wollen die beiden einen Kräutersalat sammeln. Die Ausbeute ist jedoch mager. Auch das Feuer machen, bereitet Probleme, die ohne Helfer nicht zu lösen sind. 15. Tag: Der letzte Tag. An einer Quelle nahe Voggenthal wollen Krüger und Gärtner feierlich ihre Blindheit beenden. „Wir verstehen jetzt besser, was es bedeutet, blind zu sein.“
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Mittlerweile werden viele auf behinderte Menschen zugeschnittene Reisen mit entsprechenden behindertengerechten Hotels angeboten. Jedoch stoßen sie auch heute immer noch auf etliche Barrieren, auch wenn der Trend langsam, eindeutig in die positive Richtung schreitet. Die Zahl der Reiseveranstalter, die sich mit den Bedürfnissen behinderter Urlauber auskennen und ihnen entsprechende rollstuhlgerechte Angebote liefern, wächst von Jahr zu Jahr. Es gibt sogar Reisebüros, die sich nur an Menschen mit Behinderung richten.
Zumindest in den Industrienationen hat der Personennahverkehr für einen Ausbau etwa von niedrigschwelligen Zugänge, Bodenrillen für sehbehinderte Menschen und visuell-auditiven Informationstafeln gesorgt. Bei Fernzügen oder -bussen zeichnet sich eine vergleichbare Entwicklung ab. Viele Airlines nehmen mittlerweile auch Betroffene im E-Rollstuhl mit, allerdings wird meistens um Voranmeldung gebeten.
Dennoch ist nach wie vor eine gründliche Vorbereitung das A und O vor einer Reise mit einer Behinderung. Das gilt insbesondere für Rollstuhlnutzer und Betroffene mit erheblichen Einschränkungen wie sehbehinderte oder pflegebedürftige Menschen. Ein behindertengerechtes Hotel will gefunden, barrierefreie Angebote am Urlaubsort recherchiert und - falls notwendig - die Begleitung / Betreuung organisiert werden.