Auf der Straße - Obdachlosigkeit in Deutschland

von Shania Tolinka
25.02.2012 15:24 Uhr

Auf der Straße

 

zwei Survivallehrer wollten von Deutschlands Obdachlosen lernen

 

Neumarkt in der Oberpfalz, 23. Januar 2012, 9 Uhr. Hinter uns fällt die Tür unserer Wohnung ins Schloss. Von nun an  leben wir  auf  der  Straße. Vor der  Idee  für unser neuestes Projekt, hatten wir  von  Anfang an ebenso viel Respekt, wie es uns fasziniert hat. Wir wollen für  vierzehn  Tage als  Landstreicher  auf den   Straßen  Deutschlands leben, ausgerüstet mit zwei  Kameras, der Kleidung, die  wir  am  Leibe  tragen und  je einem zweiten Paar Socken.

Sonst nichts. Kein Geld,  kein Schlafsack, keine Isomatte auf der Straße. Die Wettervorhersage für die nächsten Tage verspricht bis zu minus 22 °C.  Als  Wildnislehrer und  Survival Experten   haben  wir  schon viele Nächte unter  freiem Himmel verbracht.  Bislang waren  wir   aber immer in der  Natur unterwegs gewesen, und  dort kannten wir uns inzwischen aus.  Wie aber  kann man mitten in  der  Zivilisation leben, wenn man weder Geld  noch ein  Zuhause hat? Das wollen wir von Obdachlosen und  Landstreichern lernen, jenen Menschen, für die  das  Leben auf  Deutschlands Straßen der  Alltag ist.

 
Heiko Gärtner und Tobias Krüger sind als Obdachlose auf der Straße unterwegs

Heiko Gärtner und Tobias Krüger sind als Obdachlose auf der Straße unterwegs

Schnee fiel bereits in der ersten Nacht

Bereits die  erste Nacht ist  frappierend. Wir  sind  nach Nürnberg getrampt, um  unser Landstreicherglück in  der   großen Stadt zu probieren. Jetzt ist  es  dunkel geworden,  und  wir  schlagen unter der  Überdachung eines Einkaufszentrums  unser  Lager auf.  Plastikmülltüten dienen uns  als  Matratzen,  und unsere  Jacken sind der   einzige Schutz vor der Kälte. Schnee fällt  in  dichten  Schleiern aus  dem  kalten Nachthimmel und fällt langsam auf die Straße. In den knapp sechs Stunden, die  wir  zwischen Wärmemeditation und Halbschlaf ausharren,  kommen etwa  40   Passanten  und   mindestens vier Polizeistreifen vorbei. Keiner schaut  nach,  wie es uns geht. Keiner spricht uns  an.  Von ein  paar abfälligen Kommentaren einmal abgesehen.

Um fünf Uhr morgens sind  wir  frustriert, müde und  stark ausgekühlt. Unsere Körpertemperatur  beträgt noch 33°C, eine  Temperatur, die für einen Ungeübten bereits lebensgefährlich wäre. Enttäuscht über die fehlende Hilfsbereitschaft unserer Freunde und  Helfer  wollen wir  eine Stellungnahme der  Polizei. Man versichert uns, dass auf  jeden Fall sofort alles  an  Hilfsmaßnamen unternommen würde, von  der  sofortigen  Überprüfung des Gesundheitszustandes bis  hin   zur   Überführung der  Betroffenen in ein Krankenhaus oder eine  Notunterkunft. Schade, wenn derart  gute Vorsätze auf  dem  Weg  in  die  Praxis verloren gehen.

Ist es in Frankfurt ähnlich wie in Nürnberg?

In  Frankfurt jedenfalls kommen wir  zu  einem ähnlichen Ergebnis auf der Straße. Hier  schlafen wir zwar nicht selbst im  Freien und   suchen uns   stattdessen Unterschlupf in nicht überwachten Automatenvorräumen von  Bankfilialen oder Parkhäusern. Auf dem  Weg  dorthin finden wir aber mehrfach Obdachlose, die wir  wecken und  in  ihre Schlafsä- cke  legen, weil   sie  selbst zu  betrunken dazu waren. Andere Passanten gingen zuvor tatenlos vorbei. Vielleicht aus Angst  vor  einer   aggressiven  Reaktion,  vielleicht  weil  das  Bild  hier  inzwischen zu normal geworden ist. Die Angst  können wir  ihnen jedenfalls nehmen, denn bei der  Kälte  schaffen   Obdachlose es  nicht  einmal mehr, den   Klettverschluss ihrer Schlafsäcke zu  öffnen, geschweige denn, aggressiv zu werden.

 
Alkoholisierte Obdachlose können den eigenen Schlafsack nicht mehr schließen

Alkoholisierte Obdachlose können den eigenen Schlafsack nicht mehr schließen

 

Wir  machen  allerdings auch gänzlich andere  Erfahrungen in Sachen Hilfsbereitschaft und Mitgefühl. Bereits  am   ersten  Tag sind  all unsere Ängste in Bezug  auf unseren täglichen Nahrungsbedarf auf der Straße verflogen. Die Fülle  an Möglichkeiten, an Essen zu  kommen, ist schier unermesslich. Prall  gefüllte Supermarktcontainer bieten uns Lebensmittel in bester Qualität, die nur knapp über das   Mindesthaltbarkeitsdatum  hinaus  sind. Mehr als  zweimal nutzen wir  diese Nahrungsquelle allerdings nicht. Nicht, weil  wir  uns  davor ekeln würden, sondern weil   es  noch wesentlich bequemere Möglichkeiten gibt.

»Wir  reisen ohne Geld durch Deutschland und  leben wie Obdachlose. Haben Sie  vielleicht Lebensmittel, die Sie nicht mehr verkaufen und  die Sie uns  geben können?« Diese  Frage, zusammen mit einem freundlichen Lächeln beim Asia-Imbiss, Bäcker, Gemüsehändler oder in  einer Dönerbude reichen aus, um  mit einem erstklassigen Menü  versorgt zu  werden.  Soziale und  kirchliche  Einrichtungen verteilen umsonst oder für wenige Cent ein tägliches Frühstück, Mittag-  oder Abendessen.  Mit  solch einem  Festmahl kann zum Teil kein Hotel mithalten. All-You-Can-Eat, Thai-Curry-Suppe, Hähnchenschenkel mit Kartoffelbrei, frische, warme Brötchen und  vieles mehr.  Kaum ist man satt, kommt eine  freundliche  Dame und   bietet einem eine Tüte  an,  damit man noch ordentlich  mitnehmen kann. »Nehmt lieber  etwas mehr, es  ist  so  schade, wenn wir  es  wegschmeißen müssen!«

Damit  haben wir  nicht gerechnet.  Wo ist unser Kampf  ums Überleben, unser  Street-Survival, auf  das  wir  uns auf der Straße eingestellt haben? Die Enttäuschung weicht bald  der Begeisterung. Wir  spüren das  erste Mal in unserem Leben die Freiheit,  die  ein  Landstreicher fest  im Herzen   verankert   trägt.   Schon lange haben wir uns  nicht mehr so frei, leicht und zufrieden gefühlt.

 
Durch das Containern kommt man leicht an Nahrung

Durch das Containern kommt man leicht an Nahrung

 

Zwei Seiten hat das Leben auf der Straße

Doch das Leben auf der Straße hat zwei Seiten, die wir bei unserer Reise  überdeutlich  kennenlernen dürfen. So frei wie das Leben für  diejenigen ist,  die  sich freiwillig entschieden haben,  ihr trautes Heim  hinter sich  zu lassen. So  schmerzhaft ist  es  für  die,  die gegen ihren  Willen  zu  Obdachlosen wurden. Systemversagen, Schicksalsschläge, Depressionen, Alkoholismus, Drogenabhängigkeit,  Spielsucht oder Gefängnisaufenthalte führen dazu, dass die Menschen langsam oder schlagartig aus  der  Gesellschaft herausfallen.  Auch   für   sie   ist   es   nicht schwer, ihre körperlichen Grundbedürfnisse zu  erfüllen. Denn unser  Gesellschaftssystem ist so ausgelegt, dass man selbst dann noch in  ihm  überlebt, wenn man pausenlos unter Alkohol-  und  Drogeneinfluss steht.

Doch  auf  der psychischen und  seelischen Ebene sind  sie  zumeist so  stark verletzt dass sie außer der  Trauer, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und Sinnleere, die in ihnen stecken, fast nichts mehr wahrnehmen können. Scham und Angst halten sie davon ab, Hilfe anzunehmen. Verzweiflung,  angestaute Wut und  tiefer seelischer Schmerz führen zur Flucht in die  Parallelwelt der  Drogen und des  permanenten Rauschs. Im Laufe unserer Reise unterhalten wir  uns  sehr intensiv mit den unterschiedlichsten Menschen, die auf der Straße leben. Darunter sind viele,  die  sich  selbst verletzen, ihre Arme  mit  Messern aufritzen oder mit  Zigaretten verbrennen.

Bei  den  Gesprächen stellen wir fest,  dass es  sich  dabei immer um sehr  sensible Menschen handelt. Mehrfach  erzählen sie uns,  wie sehr sie  unter dem  Schmerz  leiden, den die Menschheit unserer Erde zufügt. »Wir  sind  das einzige Tier  auf  diesem Planeten, das durch seine Rücksichtslosigkeit alles kaputt macht!«  Wenn der Schmerz im geritzten Arm  zu groß wird, blendet der  Körper ihn  aus und nimmt dabei den seelischen Schmerz mit.

Welche Unterschiede fielen extrem auf?

Das Aufeinanderprallen von Extremen zieht sich wie ein roter Faden durch unsere gesamte Tour. Besonders auffällig ist es bei den  Notunterkünften für  Obdachlose,  die  wir  immer wieder besuchen. In Nürnberg verbringen wir eine  Nacht in  der Unterkunft der Heilsarmee. Als wir  unser Zimmer betreten, glauben wir unseren Augen nicht. Wir hatten  einen verdreckten  Schlafsaal erwartet,  mit klapprigen Betten und stickiger, von Alkohol-  und  Schweiß geschwängerter Luft. Stattdessen stehen wir  jetzt  in  einem Doppelzimmer mit eigenem Bad,  einer Badewanne, einladend gemachten Betten  und  sogar einem Fernseher. Solch  einen Standard kennen wir weder aus  Jugendherbergen, noch aus  vielen  Hotels, die wir  auf unseren Reisen in  aller Welt kennengelernt haben.

 
Heiko Gärtner bei seiner Notunterkunft

Heiko Gärtner bei seiner Notunterkunft

 

Drei  Tage  später stoßen wir  auf der Straße in Frankfurt auf einen krassen Gegenpol. Wir fragen nach einem Schlafplatz im Containerlager am Ostpark. Über  diese Unterkunft haben wir  bereits  einiges gehört und  sind  neugierig darauf, uns selbst ein  Bild zu machen. Leider werden  wir   zunächst enttäuscht. Alle  Zimmer sind bereits  belegt. Als wir  gerade unverrichteter Dinge abziehen wollen, treffen wir  auf einen Dauerbewohner, der  uns  auf ein  Gespräch in seinen Container einlädt. Zusammen mit seiner Frau hatte er  versucht, nach Australien auszuwandern, war dort aber gescheitert und  musste ohne finanzielle Mittel zurückkehren. Die einzige Möglichkeit, ein Dach über dem  Kopf zu  bekommen, war dieser Container gewesen, in dem  wir jetzt sitzen. Sechs Quadratmeter ist er groß. Die Einrichtung besteht lediglich aus  einem  kleinen Schrank und  einem 90  Zentimeter breiten Bett,  das  sich  beide teilen müssen.

Die Frau erzählt uns, dass sie an Multipler Sklerose leidet und kaum in der Lage  ist,  die  zwei Stufen zu bewältigen, um  in den Container zu  gelangen. Die  Toilette befindet sich  am  anderen Ende des  Hofes. Da MS immer auch mit  einer akuten Blasenschwäche einhergeht, muss sie nachts Windeln tragen, weil sie es niemals rechtzeitig über den Hof schaffen würde. Am schlimmsten aber sei das  Zusammenleben innerhalb des  Containerparks.  »Diebstähle unter den Bewohnern  sind  hier ebenso an der  Tagesordnung wie Schlägereien und  Messerstechereien! Ich traue mich nicht mehr auf den  Hof, wenn ich  kein Messer dabei habe«,  erzählt uns der Mann.  »Die Polizei  kommt nur noch mit  einem Großaufgebot oder gar nicht.  Anders ist es zu gefährlich!«

Nach Frankfurt führt uns unsere Reise auf der Straße weiter nach Köln, dann nach Stuttgart und schließlich zum Bodensee. Wir lernen Straßenkinder, Drogendealer, Prostituierte, Totalaussteiger, Hausbesetzer, Flaschensammler, Straßenmusiker und   sogar  einige der   wenigen obdachlosen Frauen kennen. Von  allen hören wir  faszinierende und  bewegende Geschichten, wie ein Lied der Straße. Viele sind  tragisch, einige auch  hoffnungsvoll. Oftmals haben wir auch  viel gemeinsam gelacht. Auch wenn es nicht so viel an Survivalskills zu lernen gab  wie wir erst dachten,  so haben wir doch  eine  Menge  für  unser Leben gelernt. Auch  die Angst  vor dem beruflichen Scheitern ist dem Mut gewichen, unserer  wahren  Berufung  zu folgen. Denn wir  wissen jetzt,  dass das  Leben auf  der  Straße ein echtes Abenteuer sein  kann, wenn man sich darauf einlässt. Wenn alle  Stricke reißen und wir mittellos sind, warten  auf  uns  in jeder Stadt freundliche, hilfsbereite  Menschen, die  einem jederzeit einen Schlafplatz und  ein  gutes Gespräch anbieten. Sei es nun unter  der  Brücke, in der Wärmestube oder in der Parkgarage.

 

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Dieser Film ist wirklich sehenswert und öffnet vielen die Augen, was den Menschen wirklich passiert ist und wie sie sich dabei fühlen. In fast jeder Mediathek wird der gewünschte Film auf der Straße, auch als ganzer Film gezeigt. Auf der Straße ist ein Drama aus dem Jahr 2015 von Florian Baxmeyer mit der Besetzung von Christian Hörbiger, Margarita Broich und Nadine Boske. Auf der Straße landet Christiane Hörbiger als Witwe in dem gleichnamigen TV-Drama, nachdem ihr Mann einen großen Kredit aufgenommen hatte, den sie nach seinem Tod nicht zurückzahlen kann.
Shania Tolinka
Shania Tolinka ist Reflexzonentherapeutin, Altenpflegerin und Blog-Autorin. Das Erwecken und Annehmen der eigenen Weiblichkeit, der Umgang mit traumatischen Erlebnissen, sowie die Frage, wie man bereichernde, erfüllende Beziehungen zu sich, seinem Partner und der Natur aufbauen kann, sind Themen, die ihr besonders am Herzen liegen. Aber auch im Bereich von gesunder Ernährung, Heilmassagen und Heilkräutern ist sie Expertin. Seit 2020 ist sie als Vollzeitmitglied der Lebensabenteurer-Herde dabei.

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