Selbstversuch: Obdachlos auf Zeit

von Shania Tolinka
23.02.2012 15:39 Uhr

Obdachlos auf Zeit - Pädagogen lebten zwei Wochen auf der Straße

Die Pädagogen Heiko Gärtner und Tobias Krüger lebten zwei Wochen auf der Straße und haben dort Härte, aber auch Hilfe erfahren.

Über sie existieren keine verlässlichen Zahlen. Hier, am äußersten Rand der Gesellschaft muss sogar die Statistik passen. Wie viele es von ihnen gibt, lässt sich nur schätzen. Drei- bis viertausend Menschen sollen es in Bayern sein. Vermutlich sind es deutlich mehr, die auf der Straße leben, obdachlos sind.

Platte machen Obdachloser auf der Straße im Winter

Platte machen: Obdachlos auf Zeit auf der Straße im Winter

 

Doch wie leben sie? Wo finden sie Schlafplätze, wie schaffen sie es, sich im Winter warmzuhalten? Wie finden sie etwas zu essen? Und: Was hat sie zu ihrem Leben auf der Straße geführt?

Diese Fragen haben sich der 32-jährige Wildnispädagoge Heiko Gärtner und der 26-jährige Kulturpädagoge Tobias Krüger gestellt. Antworten finden wollten die zwei während eines ungewöhnlichen Selbstversuchs: Für 14 Tage lebten die beiden von Ende Januar an auf der Straße. Ohne Geld, ohne Schlafsack. Ihre Tour führte sie quer durch Deutschland, nach Nürnberg, Stuttgart, Frankfurt oder Köln - und auch in Memmingen, Lindau und Friedrichshafen lebten die beiden als obdachlos auf Zeit.

Was hat sie dazu gebracht, dieses Experiment zu wagen? „Hauptsächlich Neugier", sagt Tobias Krüger. Der 26 Jahre alte Kulturpädagoge hat bereits zahlreiche Nächte in der freien Wildbahn verbracht.

Wie leben Obdachlose?

Wie leben Obdachlose?

Auch Heiko Gärtner ist ein Abenteurer: Vor anderthalb Jahren pilgerte der aus Neumarkt (Oberpfalz) stammende Naturliebhaber mehr als 3000 Kilometer zu Fuß auf dem Jakobsweg und ernährte sich dabei von dem, was er in der Natur fand. In ihrem Experiment tauschten beide die Wildnis gegen die Großstadt ein, um von Obdachlosen zu lernen, wie man in der Stadt überleben kann.

Gärtner und Krüger merkten schnell: Das Leben auf der Straße ist hart, auch wenn man nur obdachlos auf Zeit ist. Zum Beispiel wenn man bei Minus 22 Grad im Freien übernachten muss. Wie etwa in Memmingen. Die beiden Männer suchten Unterschlupf im Vorraum einer Bank.

„Nach kaum einer Stunde kam die Polizei und hat uns dort wieder hinausgeworfen, ohne uns eine wirkliche Alternative anzubieten, in der wir als Obdachlose Schutz vor dem Erfrieren suchen konnten", sagt Gärtner. Und auch aus dem Eingangsbereich eines Wohn- und Geschäftshauses wurden sie bald von einem Wachmann vertrieben. „Man war also bereit, uns bei dieser Kälte erfrieren zu lassen. Das war so ziemlich das Härteste, was wir in unserer Zeit auf der Straße erlebten", sagt Gärtner.

Nachtlager für Obdachlose unter einer Brücke

Nachtlager für Obdachlose unter einer Brücke

Auch viel Positives erfahren

Aber auch sehr viel Positives erfuhren die beiden Männer. Obdachlose, die ihr weniges Geld mit ihnen teilten. Menschen, die ihnen etwas zu essen schenkten. „Wir haben mehr zu essen gehabt als wir essen konnten, mehr Hilfe als wir benötigten und mehr Übernachtungsmöglichkeiten als wir Schlaf brauchten", erinnert sich Gärtner. Doch unterscheiden sich große Städte deutlich von kleineren Kommunen. „In Großstädten ist das soziale Netz auf Obdachlose ausgelegt. In ländlichen Regionen ist man darauf nicht so eingestellt."

Gärtners Fazit bei obdachlos auf Zeit: Obdachlosen fehle es in unserer Gesellschaft häufig nicht an Hilfe, sondern an Verständnis. „Das Hauptproblem ist nicht, dass wir sie verhungern oder erfrieren lassen, sondern, dass wir ihnen niemals zuhören, sie ignorieren oder verurteilen ohne überhaupt irgendetwas über sie zu wissen", sagt der 32-Jährige. Ihre Erlebnisse auf der Straße wollen die beiden in einem Buch veröffentlichen.

Talentierter obdachloser Straßenkünstler

Talentierter obdachloser Straßenkünstler

Mehr Fakten über Obdachlose:

Wo leben die meisten Obdachlosen in Deutschland? Die meisten Wohnungslosen sind nicht obdachlos – und damit auch kaum sichtbar. Viele Menschen leben seit Jahren in betreuten Wohnheimen und finden nicht mehr in ein geregeltes Leben zurück. Vermieter wollen oft nicht an wohnungslose vermieten, doch ohne Wohnung bekommen die meisten keinen Job – und ohne Job keine eigene Wohnung. Auch die ausladende Bürokratie und die oft engen Notunterkünfte machen vielen zu schaffen. Sogar Familien werden immer häufiger wohnungslos, mehr als jede vierte Betroffene ist weiblich, schätzt die BAGW. Obdachlose sind nun von der Corona-Krise besonders betroffen. Die meisten müssen sich den ganzen Tag draußen aufhalten und schwächen damit ihre Immunsystem. Kaum einer kann sich Desinfektionsmittel leisten. Außerdem sind sie jetzt nahezu unsichtbar. Deswegen haben einige Sozialsenatoren nun Maßnahmen ergriffen. Und auch in der Bevölkerung regt sich Solidarität mit den Menschen am Rande der Gesellschaft. Neue Statistiken zu Obdachlosen Zahlen in Deutschland oder Europa werden wohl bald veröffentlicht werden.  
Shania Tolinka
Shania Tolinka ist Reflexzonentherapeutin, Altenpflegerin und Blog-Autorin. Das Erwecken und Annehmen der eigenen Weiblichkeit, der Umgang mit traumatischen Erlebnissen, sowie die Frage, wie man bereichernde, erfüllende Beziehungen zu sich, seinem Partner und der Natur aufbauen kann, sind Themen, die ihr besonders am Herzen liegen. Aber auch im Bereich von gesunder Ernährung, Heilmassagen und Heilkräutern ist sie Expertin. Seit 2020 ist sie als Vollzeitmitglied der Lebensabenteurer-Herde dabei.

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