Die wahren Probleme von Obdachlosen
Zwei Experten machten als Obdachlose die Probe aufs Exempel
Gesammeltes Material reicht für einen ganzen Roman
NÜRNBERG · Wie überlebt man als Obdachloser in Nürnberg? Zwei Outdoor Experten, die in Wald und Feld zu überleben lernten, machten die Probe aufs Exempel. Sie fanden heraus, was die Probleme der Obdachlosen wirklich sind.
Heiko Gärtner weiß, wie man sich in Kanada, Alaska und Island durchschlägt. An die 700 Nächte hat der 32-Jährige in der Wildnis überstanden. Sein Kumpel Tobias Krüger (26) hat bereits 200 Tage und Nächte auf dem Konto. Doch wie überlebt man als Obdachloser in Nürnberg, ohne Schlafsack und winddichte Klamotten?
Was sich wie ein kurioses Experiment für Outdoor-Spezialisten anhört, hat einen tieferen Kern: "Direkt vor unserer Haustür existiert eine Parallelwelt", erklärt Tobias. "Wir wollten herausfinden, welche Fähigkeiten diese Menschen haben, und was wir von ihnen lernen können." Zu diesem Zweck nahmen die beiden Filmkameras mit und befragten die Probleme von Obdachlosen an Ort und Stelle.
Bereits nach drei Tagen haben Heiko und Tobias Material für einen ganzen Roman gesammelt. Wie sieht es mit dem Hunger in Deutschland aus? "In der Stadt kannst du gar nicht verhungern", staunt Heiko. "Im Wald erlegst du von hundert Tieren gerade eines. Aber in der Stadt findest du immer etwas zu essen. Du fragst beim Bäcker und bekommst eine Tüte mit Brötchen geschenkt. Da hieß es sogar: "Tut uns leid, wir haben keine altbackenen Brötchen mehr, dürfen es auch frische sein? Wir waren beinahe enttäuscht, dass es so einfach war."
Das Wichtigste beim Street-Survive und der Armut in Deutschland: Dreistigkeit. "Du musst die Skrupel, Leute zu fragen, ablegen", rät Heiko Gärtner. "Elf Euro bekommt man täglich vom Amt, mit Betteln kommt man auf bis zu 40 Euro, Flaschensammler bekommen ebenfalls einiges zusammen." Auch die Kirchen zahlen an bestimmten Tagen fünf Euro pro Person. Wer das System kennt, an welchem Tag welche Gemeinde einen Obolus gibt, kann so bis zu 15 Euro ergattern.
Freilich halten sich nur die Gewieften relativ bequem über Wasser. Und das ist eindeutig die Minderzahl. "Es gibt zwei Gruppen von Obdachlosen", erklärt Heiko Gärtner. "Die freiwilligen und die unfreiwilligen." Die Freiwilligen sind Menschen, die ihr bürgerliches Leben als Käfig, ihren Beruf als Hamsterrad begreifen, und irgendwann aussteigen. Sie begnügen sich mit dem Wenigen, wissen jede Hilfe zu schätzen und genießen mit Cleverness und Chuzpe ihre Freiheit.
Heiko Gärtner kann es nur zu gut nachfühlen: Der ehemalige Versicherungskaufmann hatte im Arbeitsstress zwei Hörstürze erlitten. Er stellte seine Gesundheit über den Erfolg und begab sich ohne Hilfsmittel auf den Jakobsweg. "Erst in der freien Natur, ganz auf mich allein gestellt, habe ich mein Urvertrauen wiedergefunden." Heute bietet der 32-jährige Natur-erlebnispädagogische Programme an.
Die unfreiwillig Obdachlosen hingegen, verfügen über einen ganz anderen Hintergrund: ehemalige Häftlinge, Menschen, die ihre Familie verloren hatten, und sehr viele Alkoholiker, Schizophrene, Autisten und Borderliner. Diese Personen können und wollen Hilfe gar nicht annehmen, die typischen Probleme der Obdachlosen.
Die Polizei interessierte sich nicht für uns
Warum? "Das haben wir am eigenen Leib erfahren", erklären Heiko und Tobias. Beide verbrachten die Nacht beim City Point, eng zusammengekauert unter Plastikplanen und Kartonagen. Würde sie jemand in der Januarkälte ansprechen? Mehrmals fuhr eine Polizeistreife langsam vorbei, ausgestiegen ist bei ersichtlichen niemand. Die Passanten warfen einen kurzen Blick auf sie und gingen vorbei, einige pöbelten sie an. "Man bekommt zuerst ein sehr trauriges Gefühl", erzählt Tobias, "und dann wird man wütend. Man nimmt am Ende keine Hilfe mehr an, weil einen die Leute bloß noch ankotzen."
Niemand muss im Winter draußen übernachten, es gibt die Heilsarmee, die "Hängematte" und weitere Schlafstellen. "Heilsarmee? Ekelhaft! Fürchterlich!", bekamen Heiko und Tobias zu hören. Dabei stellt die Heilsarmee Zwei-Mann-Zimmer mit Bad und Toilette zur Verfügung, sowie eine Tüte mit Proviant, Seife, Shampoo und Zahnputzzeug. Was ist daran ekelhaft? "Das Reglement stellt für viele eine Barriere dar", erklärt Heiko. "Kein Alkohol, keine Pöbeleien, das Frühstück endet Punkt acht Uhr." Die Hauptbarriere der Probleme von Obdachlosen besteht in der Mithilfe in der Küche, in der Werkstatt oder beim Putzen. Dazu sehen sich viele Obdachlose außerstande.
Verständlicher ist eine andere Schranke: "Viele Personen mit seelischen Schwierigkeiten schrecken davor zurück, ihren Namen anzugeben", erklärt Heiko. "Manche fürchten, ins Gefängnis zu kommen oder in die Psychiatrie oder in den Drogenentzug. Die meisten kreisen in einer Gedankenspirale, die von seelischen Schmerzen dominiert wird. Die Weiche zum Nicht-helfen-lassen-wollen wird in früher Kindheit gestellt. Diese Menschen erfuhren schon früh schlechte Behandlung und lernten, dass sie sich auf niemanden verlassen können.
Das führt zu den Straßenkindern. Offiziell existieren in Nürnberg keine Straßenkinder, erfuhren Heiko und Tobias bei Polizei und Behörden, und wenn, dann handelt es sich nur um Ausreißer. Tatsächlich aber trafen Heiko und Tobias auf Teenager, die seit Jahren ohne festen Wohnsitz leben und bei Freunden und Zufallsbekanntschaften schlafen. Nach vier Tagen in Nürnberg setzen Heiko und Tobias ihre Expedition in Würzburg, Köln und Berlin fort. Auch dort befragen und filmen sie die Probleme und Gefahren von Obdachlosen.
Der Bayerische Rundfunk sendete bereits einen Kurzfilm und einen Radiobeitrag. Beide sind noch eine Woche lang unter www.br.de/franken abrufbar.