Kaufmann auf Abwegen: Ausstieg aus dem Berufsalltag

von Shania Tolinka
19.07.2010 19:00 Uhr

Ausstieg aus dem Berufsalltag - so leicht geht's!

Bad Wörishofen, Käfer zum Mittagessen! Ekelhaft? Moos statt Klopapier! Undenkbar? Für Heiko  nicht. Seit 7. Juli ist er mit seinem „Aufpasser" Josef Bogner auf dem Jakobsweg. Das Besondere an dem Ausstieg aus dem Berufsalltag ist: Sie wollen den Weg nach Santiago de Compostela nicht nur komplett zu Fuß zurücklegen, sondern die geplanten 100 Tage der Reise wie Pilger im Mittelalter verbringen. Seine Kleidung besteht aus einer einmaligen Garnitur aus Lederhose und -hemd, ein origineller Hut krönt sein bärtiges Haupt und an seiner Kette hängt eine weiße Muschel.

Die Tour bringt die beiden an ihre physischen Grenzen. Der Großesel Alfredo, welcher sie eigentlich begleiten sollte, musste schon am ersten Tag zurückgelassen werden, nachdem er sich vor Erschöpfung auf die Straße gelegt und tot gestellt hatte. Dabei ist der 30-jährige Gärtner, der unter anderem schon im Nationalpark und als Tänzer auf Ibiza gearbeitet hat, so irgendwie in keine Schublade zu stecken, schon gar nicht in die des verbissenen Ökofreaks oder des religiösen Wallfahrers.

Survivalstar Heiko Gärtner am Lagerfeuer

Das Lagerfeuer wärmt und bereitet das Essen zu

 

Er ist ein äußerst charismatischer Aussteiger, der in einem Satz davon berichtet, wie wichtig die Erfahrungswerte bei der Nahrungssuche im Jäger- und Sammler-Stil sind (Frösche kann man mit Haut essen, Kröten und Unken muss man häuten) und im anderen von sich selber sagt: „Ich bin ein recht großes Weichei!" Er ist nicht der besessene Abenteurer, der sein Leben für den Selbstbeweis geben würde. Heiko Gärtner hat einfach nur irgendwann bemerkt, wie viel glücklicher dieses Augenblick behaftete, native Leben und der Ausstieg aus dem Berufsalltag machen kann. Kurz bevor sein Anspruch auf Rente gültig geworden wäre, also knapp zehn Jahre lang, hatte er zuvor die Versicherungs-Agentur seines Vaters geleitet. Heute arbeitet er als Erlebnispädagoge, was ihm besonders am Herzen liegt, ist das Weitergeben an „wildem Wissen" an jüngere Generationen.

Heiko Gärtner berichtete, dass er bereits seit vielen Jahren unzufrieden im Job war, aber lange Zeit keine Alternative gesehen hat um den Ausstieg aus dem Berufsalltag zu schaffen. Erst mit der Zeit wurde ihm bewusst, dass es nicht nur darum ging, etwas zu tun, was ihm keinen Spaß machte, sondern dass Unzufriedenheit im Job erwiesenermaßen Krank macht. Da wurde ihm endgültig klar, dass es an der Zeit für eine Neuorientierung war. Denn wenn er so weiter machte, dessen war er sich sicher, dann würde ein Berufsausstieg mit 55 für ihn bestenfalls noch bedeuten, dass er eine Erwerbsunfähigkeitsrente beantragen konnte.

Wie sich herausstellte war Heiko Gärtner mit diesem Gefühl nicht alleine. Schaut man sich die Statistiken über Unzufriedenheit im Job an, so schwanken die Ergebnisse je nach Region zwischen 66 % und über 80 % der befragten Berufstätigen. Dennoch wagen nur die wenigsten, wirklich einen Ausstieg aus dem Berufsalltag. Und Heiko war einer von ihnen.

Auch die Zubereitung von Wildnahrung erlernt man nach dem Try-and-Error-Prinzip.

Auch die Zubereitung von Wildnahrung erlernt man nach dem Try-and-Error-Prinzip.

 

Um sich Gehör zu verschaffen spielt er mit der Provokation

So verschlingt er beispielsweise genüsslichst Krabbeltiere in Videos auf seiner Homepage. „Unsere Gesellschaft ist zerfressen von Glaubensmustern", findet Gärtner. „Wir haben das eine, dass ein Käfer eklig ist, aber fliegst du 3000 Kilometer weiter, ist es eine Delikatesse."

Gärtner hat viel mitgenommen in seinem bisherigen Leben und war nach eigenen Worten einer der „härtesten Partygänger" überhaupt. „Wenn ich unzufrieden war, habe ich mir ein Highlight kreiert. Ein Kinobesuch oder eine Party und mich damit davon abgelenkt, was meine echte Aufgabe ist. Aber der Rausch war so laut, dass ich meine eigene Stimme nicht mehr hören konnte."

Beeindruckende, weil wahre Worte. Er bringt die Mentalität einer Gesellschaft auf den Punkt, die den Großteil ihrer Lebenszeit mit Warten verschwendet, weil der Ausstieg aus dem Berufsalltag einfach zu schwer erscheint.

Ein Mann hat den beiden vor einigen Tagen fünf Euro in die Hand gedrückt und darum gebeten, ob er doch eine Kerze für ihn am Ende der Reise anzünden mögen: „Ich komme da nicht mehr hin!"

Tourtagebuch zu verfolgen auf:

www.heiko-gaertner.de

Original Artikel als PDF

Augsburger Allgemeine 2010-07-19
Shania Tolinka
Shania Tolinka ist Reflexzonentherapeutin, Altenpflegerin und Blog-Autorin. Das Erwecken und Annehmen der eigenen Weiblichkeit, der Umgang mit traumatischen Erlebnissen, sowie die Frage, wie man bereichernde, erfüllende Beziehungen zu sich, seinem Partner und der Natur aufbauen kann, sind Themen, die ihr besonders am Herzen liegen. Aber auch im Bereich von gesunder Ernährung, Heilmassagen und Heilkräutern ist sie Expertin. Seit 2020 ist sie als Vollzeitmitglied der Lebensabenteurer-Herde dabei.

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