Psychische Grenzen: So erweiterst du deine Komfortzone

von Heiko Gärtner
10.02.2014 19:33 Uhr
 

Die Schwellensysteme außerhalb der Komfortzone

Immer wenn man seine gewohnte Komfortzone verlässt, um sich einem Abenteuer zu stellen, durchläuft man verschiedene psychische Schwellensysteme. Die erste Schwelle der psychischen Grenzen erreicht man meist bereits nach wenigen Stunden. Manchmal sogar bereits nach Minuten. Es ist die Schwelle des Ankommens. Plötzlich und ungefragter weise tauchen lauter Gedankenstimmen auf, die so Dinge sagen wie: „Verdammt! Du könntest zu Hause auf dem bequemen Sofa liegen, dir einen Film anschauen, eine heiße Schokolade trinken und dich in eine Decke kuscheln. Stattdessen läufst du jetzt seit rund 40 km an einer Autobahn entlang, es ist schweinekalt, du hast platte Füße, deine Schultern tun dir weh und du hast keine Ahnung, wann diese Strapazen jemals enden! Bis nach Nürnberg schaffst du es doch eh nicht mehr! Du wirst dich heute Nacht irgendwo unter einen Baum legen müssen und stundenlang jämmerlich frieren! Warum machst du das? War es nicht zu Hause viel schöner?“

Haben wir außerhalb der Komfortzone bereits gewonnen?

Haben wir außerhalb der Komfortzone bereits gewonnen?

Das Dumme an dieser Schwelle ist, dass einem meist in dem Moment keine wirklich guten Gegenargumente einfallen. Doch in der Regel dauert es nicht lange bis sich die Komfortzone ändert. Meist wird man einige Zeit später mit irgendeiner positiven Erfahrung oder einer besonderen Begegnung belohnt. Oder aber, man freut sich später über die Lernerfahrung oder über die Geschichte, die man erzählen kann.

Kälte, Hitze, Nässe, Durst und Mücken gehören zu den härtesten Herausforderungen denen man sich in der Natur stellen muss.

Kälte, Hitze, Nässe, Durst und Mücken gehören zu den härtesten Herausforderungen, denen man sich in der Natur stellen muss.

 

Was vermisst man schnell in der Komfortschwelle?

Die zweite Schwelle ist die sogenannte Komfortschwelle und man kann bereits hier seine gekannte Komfortzone erweitern. Sie ist der ersten recht ähnlich, kommt aber später und ist meist auch hartnäckiger. In dieser Phase beginnt man in der Regel alles zu vermissen, was einem vor dem Aufbruch ins Abenteuer nicht einmal aufgefallen ist. Eine warme Dusche, etwas Leckeres zu essen, eine Lieblingsdecke, die Möglichkeit sich vor Regen zu schützen, wenn einem gerade danach ist. Diese Schwelle war vor allen bei unseren Survival Touren, um psychische Grenzen zu testen, immer ein stetiger Begleiter. Auf unserer jetzigen Reise, sind die beiden ersten Schwellen hingegen nicht allzu schlimm, da wir ja immer wieder in die schönsten Komfortbereiche eintauchen durften, die man sich vorstellen kann. Mit der dritten und der vierten sieht es dagegen anders aus.

Sobald man seinen gewohnten Alltag verlässt, fallen viele Dinge weg, die einem sonst ein Gefühl der Sicherheit vermitteln. Gewohnte Strategien funktionieren plötzlich nicht mehr. Dinge, die zuvor ein Problem waren, spielen nun überhaupt keine Rolle mehr, dafür werden andere Dinge, die man zuvor als selbstverständlich betrachtet hat nun zu einem Problem. Dies führt dazu, dass man sich selbst und seine Komfortzone sehr, sehr gut kennenlernt. Das kann zum Teil sehr erfreulich sein, zum Teil aber auch sehr erschreckend. Schlechte Angewohnheiten, die einen bisher nicht gestört haben, werden nun gefährlich und lauter Gefühle, die man im Alltag so schön verdrängt hatte, kommen plötzlich an die Oberfläche.

Der Jakobsweg verlangt ordentlich Power von uns

Der Jakobsweg verlangt ordentlich Power von uns

Kommen wir nun zur unerwarteten Gefühlsschwelle

Ich für meinen Teil hatte schon immer, oder zumindest schon seit geraumer Zeit, einen gewissen Hang zur Verplantheit. Ich lege Dinge gerne an Stellen, an denen ich sie nicht wiederfinde. Oder ich versuche mehrere Sachen gleichzeitig zu machen und vergesse dabei komplett was ich überhaupt tun wollte. Es sind oft nur Kleinigkeiten, aber sie führen dazu, dass ich für vieles deutlich länger brauche, als unbedingt nötig wäre. Bei meiner Arbeit in der Wildnisschule oder im Büro hat mich das zwar oft genervt, aber irgendwie bin ich damit zurechtgekommen. Hier, außerhalb der gekannten Komfortzone, ist es jetzt plötzlich etwas ganz anderes. Einen Gegenstand irgendwo zu verlegen bedeutet diesen für immer zu verlieren! Einen Zettel mit einer wichtigen Wegbeschreibung im  passenden Moment nicht zu finden, bedeutet sich zu verlaufen. Beim Arbeiten oder Einpacken in Verzug zu geraten, bedeutet weniger Schlaf abzubekommen und damit weniger Energie zum Laufen zu haben. Hinzu kommen die Gefühle.

Wer jeden Tag über mehrere Stunden hinweg wandert, hat viel Zeit um in sich hineinzuspüren und  um über sich selbst nachzudenken. Das führt dann nach kurzer Zeit dazu, dass man sich in jedes unverarbeitete Gefühl hineinsteigert, dass man irgendwo finden kann. Es ist ein bisschen so, als würde man eine Vollversammlung mit sich selbst einberufen, bei der alle inneren Stimmen durcheinander reden, als gäbe es keinen Morgen mehr. Der Verstand übernimmt dabei zunächst einmal die Rolle des Miesepeters, der alles schlecht macht, was er finden kann. Wenn es dann noch ein regnerischer Tag ist, an dem einem der kalte Wind in den Kragen weht, dann passiert es leicht, dass man sich fühlt, als wäre man der kleinste und ärmste Wurm auf Erden, der durch ein Tal ewiger Leiden kriecht. Selbst dann, wenn faktisch alles perfekt läuft und man von überall Geschenke und Angebote bekommt. Dies ist die Gefühlsschwelle.

Die Natur heilt automatisch

Es ist ein bisschen so, als würde man mit einem dicken Flutscheinwerfer in den eigenen psychischen Keller leuchten und dabei jede Leiche, die dort begraben ist, bis aufs Nasenhaar untersuchen. Und da denken und fühlen alleine langweilig ist, hilft der Körper beim Auflösen der alten Muster fleißig mit, indem er einem genau die Blessuren schickt, die zu den seelischen Themen passen. Eine Magenverstimmung zum Beispiel, wenn es gerade darum geht, Gefühle zu verdauen. Oder Halsschmerzen, wenn man sich nicht traut, das auszusprechen, was man wirklich denkt und fühlt. Oder eben einen entzündeten Schienbeinmuskel, wenn man versucht, vor eben diesen Themen davonzulaufen. Und um dem ganzen Prozess noch eine Krone aufzusetzen, passt sich auch noch das Wetter dem inneren Prozess an und spiegelt einem die eigene Stimmung eins zu eins wider. Die Natur heilt automatisch außerhalb der Komfortzone. Man kann nichts dagegen machen. Nur sie heilt mit ihren eigenen Methoden und die können manchmal ziemlich ungemütlich sein.

Die vierte Schwelle ist eine direkte Folge der dritten. Es ist die mit Abstand nervigste, wenngleich sie im Nachhinein betrachtet oft viel Stoff zum Lachen produziert. Es ist die „Alle anderen sind doof“- Schwelle. Sie entsteht aus einem natürlichen Schutzreflex unseres Egos und fühlt sich im ersten Moment absolut logisch als psychische Grenze an. „Wenn ich mich gerade nicht wohlfühle, weil ich zu sehr an meine eigenen Schattenseiten herankomme, dann muss jemand anderes daran schuld sein! Denn dies hat alles nichts mit mir zu tun, ist ja klar!“

Zu Besuch in Jeanne de Arc

Zu Besuch in Jeanne de Arc

Fragt ihr euch nicht auch manchmal, wie man durch Sport seine eigene Komfortzone verlassen kann? Warum ist es denn so wichtig, seine Komfortzone hin und wieder zu verlassen? Das Leben außerhalb der Komfortzone kann super bereichernd sein, vorausgesetzt, ihr wollt es auch! Es ist ziemlich cool, da ihr über euch hinaus wachsen werdet, ähnlich wie bei einer Challenge. Durch kontinuierliche Gewohnheiten ist man gefangen in der Komfortzone, das müsst ihr euch bewusst machen, dann ist das erste Ziel bereits geschafft. Man kann im Internet die witzige Karriere Bibel lesen, um auch Mitarbeiter zu motivieren, die eigene Komfortzone zu verlassen. Die bekannten Abläufe und Routinen, Themen, die man im Schlaf bearbeiten kann und ein berechenbarer Tagesablauf ohne Überraschungen – so sieht die klassische Komfortzone aus. Die gute Nachricht ist, alles lässt sich ändern.

Was tut man für die Gruppenstimmung?

Wenn man wie wir, nur zu zweit unterwegs ist, bleiben unter „Alle anderen“ meist nicht allzu viele Personen übrig. Und wenn dann auch noch beide in ihren Schwellen sind, ist das für die Gruppenstimmung außerhalb der Komfortzone nicht unbedingt positiv. Vor allem in den letzten Tagen haben wir uns daher oft über lange Strecken gegenseitig angenervt. Ich habe Heiko mit meiner Tendenz wichtige Dinge irgendwo zu verstreuen in den Wahnsinn getrieben. Dafür habe ich mir dann als Gegenleistung jede Menge Sticheleien und Anrüffler eingehandelt, die mich wiederum dazu veranlasst haben, brummelig und miesepetrig zu werden, was unter anderem zu noch mehr Unaufmerksamkeit führte. Ich glaube, dass dies genau die Phase ist, in der es bei ähnlichen Unternehmungen oft zu großen Krisen oder sogar zu Trennungen kommt. Unser Vorteil ist, dass wir uns bereits aus vielen ähnlichen Situationen kennen und das jeder irgendwo immer weiß, dass es nicht um etwas Persönliches geht, sondern nur um das Ausbaden der bekannten Schwelle. Und wichtig ist dabei, dass die Themen die da sind, so schnell wie möglich auf den Tisch kommen. In unserem Fall war dieser Zeitpunkt gestern Abend. Die Nacht wurde dadurch sehr kurz. Der Tag dafür heute aber umso fröhlicher.

Zum ersten Mal, seit wir in diese Regenphase geraten sind, konnten wir wieder ausgefallen scherzen und lachen, auch wenn uns das Wetter dafür keinerlei Anlass bot. Es gilt also immer die bekannte Komfortzone erweitern zu können bzw. zu wollen. Auch mein Fuß war heute wieder so, dass ich wieder ganz normal auftreten konnte. Ob das am Gespräch lag oder daran, dass er sich nun endlich einigermaßen auskuriert hat, weiß ich nicht. Auf jeden Fall schaffte er es fast ohne Schmerzen, eine der größten Herausforderungen in Sachen Bergbesteigung auf unserer Reise zu meistern.

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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