Tag 1204: Worthing und Umgebung

von Heiko Gärtner
19.07.2017 07:04 Uhr

17.04.2017

Bis zu unserem Schlafplatz in Goring waren es nun nur noch rund 22km. Worthing lag sogar ein Stück näher, aber dort wollten wir ja erst übermorgen sein. Es ging nun also zum Endspurt und langsam wurde es ernst. Was zuvor nur eine Idee und ein Konzept für die Zukunft war, war nun zu einem konkreten Ereignis in naher Zukunft geworden. Ein Ereignis, auf das ich mit Freude und Angst gleichermaßen hinfieberte. Auf der einen Seite fürchtete ich mich noch immer vor dem Schmerz und davor, dass ich an dem Ritual kaputt gehen würde, wie es mir die Angstfilme in meinem Kopf prophezeiten. Auf der anderen Seite spürte ich aber auch immer deutlicher, dass ich kurz davor war, einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung zu machen. Ich stellte mich dieser Angst und würde schon bald merken, dass sie unbegründet war. Ich würde nicht kaputt gehen, Ich würde am Schmerz nicht sterben. Viel mehr war es ein Weg, um durch den Schmerz zu gehen, und zu erkennen, dass er nicht real war. Es war ein wichtiger Schritt, um aus meiner Angst-Welt zu erwachen und der zu werden, der ich wirklich war. Ein Schritt, um mich von den Marionettenschnüren meiner Mutter zu lösen und frei zu werden. Es ging nicht einfach darum, irgendetwas in meinen Bauch zu brennen, sondern eine neue Verbindung zu mir selbst aufzubauen. Tobias Krüger war zwar nun schon eine ganze Weile tot, aber irgendwo hielt ich noch immer an ihm fest. Ein Teil von mir spürte, dass ich die Narben brauchte, um ihn aus mir herauszureißen und ihn endgültig loslassen zu können.

Das Bild, das ich auf meine Brust und meinen oberen Bauch brennen würde, war eine Kombination aus mehreren indianischen Symbolen und Zeichen, die mich alle auf ihre Weise auf meinem Erwachensweg unterstützen würden. Ein Teil davon diente der Sinnesöffnung, ein anderer Teil dem Schutz, der Wandlung, der Trennung von Energetischen Kordeln und der Stärkung meiner Intuition. Einige Male hatte ich mich im Traum oder kurz vor dem Einschlafen mit dem Branding auf der Brust gesehen, aus dem jedes Mal ein helles weißes Licht nach außen Strahlte. Es waren jedes Mal sehr kraftvolle Bilder gewesen, die mir Mut und Energie gegeben hatten und die mir halfen mich und meine Aufgabe etwas klarer zu sehen. Irgendwo war ich ein Magier oder Mystiker, der zwischen den Welten wandelte um Heilung zu bringen. Nur hatte ich eben noch immer keinerlei Idee von meinen Kräften oder davon, wie ich sie nutzen konnte. Das Branding nun war, ähnlich wie wir es damals in Spanien bereits herausgefunden hatten, ein Türöffner, der den Beginn meines Weges markieren würde. Es war das Zeichen dafür, dass ich es ernst meinte, dass ich lernen und erwachen wollte und dass ich auch bereit war, dafür durch einen Schmerzkörper zu gehen. Nun stand dieser Schritt kurz bevor und ich muss zugeben, dass mir beim Gedanken daran doch ein bisschen mulmig wurde.

Um der Hauptstraße zu entgehen bogen wir in einen Feldweg ein, der sich bereits nach wenigen Metern als Privatbesitz ohne Ausgang entpuppte. Dies war eine Eigenheit, die den Engländern auch nur allzu gut gefiel. Genau wie die Franzosen liebten sie es, alles zu ihrem Eigentum zu erklären und überall Zäune, Tore und Gatter aufzustellen, durch die niemand mehr hindurch kommen konnte. Jedenfalls nicht, wenn er mehr Gepäck als eine Gürteltasche dabei hatte. Zum Glück trafen wir auf einen freundlichen Mann, der gerade mit seinen Hunden spazieren ging und der uns half, unsere Wagen über einen Stacheldrahtzaun zu wuchten.

Er begleitete uns anschließend für einen guten Kilometer und lud uns dann noch auf einen Orangensaft zu sich nach Hause ein, wo wir ein kleines Obst-Picknick in seinem Garten veranstalteten. Er war ebenfalls ein begeisterter Weltreisender und hatte einen Großteil der Welt mit dem Rad oder als Anhalter besucht. Zum Abschluss überreichte er uns noch eine großzügige Spende von 50 Pfund für unser Charity-Projekt. Dann verließen wir den Ort und wanderten auf die großen grünen Dünen zu, die uns noch immer von der Küste trennten. Der nächste Abschnitt wurde einer der anstrengendsten, aber auch einer der schönsten. Es ging mitten über die saftig grünen Hügel bis auf eine Höhe von rund 100 Metern, von wo aus man das Meer sehen konnte. Die Städte davor wirkten nicht besonders einladend, aber das Meer und die Küste waren schön und beeindruckend. Ganz im Osten konnte man sogar noch die White-Cliffs, also die weißen Klippen erkennen, die wir auch in Dover gesehen hatten.

Bis nach Goring waren es nun noch etwa 10km, die wir uns kreuz und quer durch die Städte mogelten, um möglichst jedem Verkehr auszuweichen. Wir durchquerten Ortsteile, wie sie verschiedener kaum hätten sein können. Vom verfallenen Großstadtgetto bis hin zum Luxus-Villenviertel, das man nur als Anwohner oder mit entsprechender Genehmigung betreten durfte war alles dabei. Unsere Kirche lag in einem gehobeneren Viertel, unweit der Hauptstraße, aber doch weit genug entfernt, um den Verkehr nicht zu hören. Der Kirchenverwalter kam kurz nach unserer Ankunft, zeigte uns unseren Schlafplatz und lud uns auf ein Mittagessen irgendwo in der Fastfood-Meile um die Ecke ein. Wir entschieden uns für indisches Essen und bauten anschließend unser Nachtlager auf. Jetzt hieß es: Nur noch einmal schlafen, bevor der Augenblick gekommen war.

Spruch des Tages: Morgen ist es soweit!

Höhenmeter: 50 m

Tagesetappe: 11 km

Gesamtstrecke: 22.120,27 km

Wetter: heiter bis wolkig und windig

Etappenziel: Kirche, BN12 4PA Goring by Sea, England

Hier könnt ihr uns und unser Projekt unterstützen. Vielen Dank an alle Helfer!

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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