Selbstexperiment: Blind sein auf Zeit
FÜHL DICH EIN!
Heiko Gärtner und Tobias Krüger auf Blindentour
Was bedeutet es, blind zu sein?
Diese irrwitzige Frage stellten wir uns schon als kleine Jungen und sie interessiert uns bis heute. Es ist eine Frage, von der allein in Deutschland circa 1,2 Millionen Menschen direkt betroffen sind, die Sehbehinderten, die ihre Augen nur noch sehr begrenzt nutzen können, nicht einmal mit eingerechnet! Bei einer Bevölkerungszahl von 81,7 Millionen kann hier nicht mehr von einer Randgruppe gesprochen werden. Aber wie stellt sich der Alltag für diese Menschen beim blind sein dar? Wie abenteuerlustig und reisefreudig kann man sein, wenn man seinen Sehsinn nicht oder nur sehr gering nutzen kann?
Für uns stand fest: Wenn wir wirklich eine Antwort haben wollen, müssen wir das blind sein selbst testen! Vierzehn Tage lang wollten wir als Sehbehinderte bzw. Blinde unterwegs sein, denn nur so könnten wir uns in die Menschen einfühlen und am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet, auf sein Augenlicht verzichten zu müssen.
Um den Plan in die Tat umzusetzen, nutzten wir Simulationsbrillen, die verschiedene Augenkrankheiten in unterschiedlichen Stadien nachempfinden. Heiko wählte die Simulation eines grauen Stars und hatte dabei zwar im Endstadium sein gesamtes Sichtfeld zur Verfügung, sah jedoch alles wie durch eine meterdicke Milchglasscheibe. Ich hingegen entschied mich für die Augenkrankheit Retinitis pigmentosa, bei der sich das Sichtfeld auf einen winzigen Punkt verengt, der in meinem Fall auch noch unscharf war. So verringerten wir schrittweise unsere Sehfähigkeit von 20 % am ersten auf 2 % am siebten Tag, der Grenze zur gesetzlichen Blindheit. Wer also nur noch 2 % seiner eigentlichen Sehkraft besitzt, gilt als blind. Als wir diese Phase erreicht hatten, konnten wir die Entscheidung des Gesetzgebers sehr gut nachvollziehen, denn obwohl wir noch Farben, Formen, Licht und Schatten wahrnahmen, konnte das nicht mehr als Sehen bezeichnet werden.
Solange wir einen Funken Sehfähigkeit beim blind sein besaßen, nutzten wir unsere Augen so gut es ging. Zusammen bildeten wir ein recht kurioses Team, konnten aber den Alltag noch einigermaßen bewältigen. Die Vor- und Nachteile beider Sehschwächen zeigten sich vor allem beim Versuch, eine Ampelkreuzung zu überqueren. Während Heiko versucht war, einfach in den Verkehr zu rennen, weil er die Autos nicht als solche wahrnahm, konnte ich sogar noch erkennen, wann die Ampel auf der gegenüberliegenden Seite auf Grün schaltete. Ich schaffte es, uns sicher auf die andere Straßenseite zu bringen! Und rannte dort mit voller Wucht gegen den Ampelpfeiler, denn der war aus meinem Blickfeld verschwunden und hatte damit für mich aufgehört zu existieren … bis die Beule ihn wieder in meine Welt zurückholte.
Nach 7 Tagen kam das blind sein
Nach sieben Tagen mit schwindender Sehfähigkeit klebten wir unsere Augen am achten Tag mit Augenpflastern zu. Jetzt waren wir in der Dunkelkammer der Blindheit angekommen! Plötzlich gab es nichts mehr, mit dem wir uns ablenken konnten. Die Dunkelheit richtete unseren Blick nach innen auf unsere eigene Gefühlswelt - und die sah ohne Tageslicht zunächst nicht rosig aus! Mit ihr zurechtzukommen, war die erste große Herausforderung!
Erstaunlich, über wie viele kleine Pannen wir uns plötzlich tierisch aufregen konnten. Einen Moment lang war alles ruhig, wenige Augenblicke später toste die See der Gefühle und die Wellen der Wut überschlugen sich. Das Gefühlschaos wurde umso intensiver, je mehr die Ohnmacht der Hilflosigkeit über uns kam. Wir wollten einfach nicht wahrhaben, dass wir nicht mehr die gleiche Selbstständigkeit beim blind sein wie zuvor besaßen. Ein junger Mann, der vor einigen Jahren durch einen Unfall erblindete, erzählte uns später, dass die Blindheit für ihn fast wie ein Extremsport war. Man müsse sie trainieren und den Umgang mit ihr stetig weiter verfeinern. Das aber gehe nur, wenn man sie annimmt und als einen Teil des eigenen Lebens akzeptiert, denn ansonsten würde man früher oder später daran zerbrechen! Für uns war diese Phase natürlich nur ein kurzes Reinschnuppern und wir konnten das Gefühl nur erahnen, das in einem aufkommen muss, wenn man weiß, dass der Zustand für immer bleibt, schließlich wussten wir, dass wir die Augenklappen nach sieben Tagen wieder abnehmen konnten.Von den Blinden, die wir auf unserer Tour trafen, lernten wir zudem, wie sehr eine ordentliche Portion Selbstironie und ein großes Päckchen Humor im Herzen zum Blindendasein dazugehört. Und kaum jemand zeigte uns dies deutlicher, als der blinde Barkeeper im Dunkelkaffee: „Wie schaut's aus Jungs, wollt ihr einen roten oder einen grünen Strohhalm?", fragte er und auch wenn wir es nicht sehen konnte, spürten wir das verschmitzte Lächeln auf seinem Gesicht. „Ich hätte gern einen grünen!", antwortete Heiko lachend.
„Sorry!", erwiderte der Barkeeper, „grün ist leider gerade aus! Dann musst du wohl ohne auskommen!"
„Humor heilt fast jede Wunde!" Diesen Satz haben wir von vielen Blinden gehört und selbst viele Male erkannt, wie viel Wahrheit in ihm steckt. Denn schnell wurde klar, dass wir ohne die Fähigkeit, über uns selbst zu lachen, bereits bei den kleinsten alltäglichen Herausforderungen vor Wut beim blind sein explodieren würden.
In der Natur sah es ganz anders aus
Besonders schmerzlich war die Erfahrung, dass wir uns in der Natur, dem Ort unserer Berufung und unserer eigentlichen Heimat, nicht mehr zurechtfanden. Da standen wir, zwei Wildnismentoren und Survivaltrainer, mitten auf einer Wiese voller duftender Wildkräuter und waren vollkommen orientierungslos. Das Gefühl, dass es für Sehbehinderte oder Blinde äußerst wichtig ist, wenigstens einen Helfer um sich zu haben, der auf einen achtet und einen zur Selbstständigkeit anleitet, wurde zur Gewissheit. Allerdings mussten wir, um die Orientierung beim blind sein zu verlieren, noch nicht einmal bis in die Wildnis gehen. Der Besuch einer öffentlichen Toilette reichte dafür vollkommen aus!
Eigentlich sollte die Herausforderung des Tages der Besuch im Hochseilgarten sein, doch sich blind durch den Parcours zu schlängeln, war kein großes Problem, denn die Wege selbst waren vorgegeben und überall gab es Seile, an denen wir uns festhalten konnten.
Kaum waren wir wieder am Boden, fing für Heiko das Desaster an. Mithilfe unserer sehenden Begleiter schaffte er es, die Toilette ausfindig zu machen. Ab hier musste er allerdings alleine beim blind sein zurechtkommen. Mit den Händen erfühlte er die Toilettenbrille, klappte sie herunter und erledigte sein Geschäft. Dann fielen ihm die Worte unseres Blindentrainers wieder ein: „Denkt daran, immer erst einen Toilettenpapierkontrollgriff zu machen, bevor ihr auf 's Klo geht!" Verdammt! Den hatte er vergessen! Prompt stellte er natürlich fest, dass es kein Papier gab. Vorsichtig tastete er sich im ganzen Raum herum, bis seine Fingerspitzen endlich auf einen Papierfetzen am Boden stießen. Ob der wohl sauber ist?', fragte er sich. Zumindest fühlte er sich trocken an, doch das war auch alles, was er herausfinden konnte. Also „Augen zu" und durch! Schon aber folgte die nächste Herausforderung. Wo zur Hölle war nur die Klobürste?
Wieso denn gerade im Sommer
Endlich gefunden, klemmte das verdammte Ding in der Halterung. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als den Bürstenhaltertopf zwischen den Füßen einzuklemmen und kräftig am Griff zu ziehen. Flutschhh! Die Bürste klatschte Heiko gegen den Unterschenkel. Mit ekelverzerrtem Gesicht spürte er, wie das abgestandene Klobürstenwasser an seinem Bein herunterlief. Warum mussten wir das Projekt blind sein auch ausgerechnet im Sommer mit kurzen Hosen machen?!
Ebenso fatal wie ein solcher Toilettenbesuch ist ein reich gedeckter Frühstückstisch, an dem man gemeinsam mit anderen Personen sitzt. Kaum hat man sich gemerkt, wo etwas steht, steht es auch schon wieder woanders. Eine Scheibe Käse zu ertasten, ist kein großes Problem, doch wenn man dabei erst einmal in die Butter, dann ins Honigglas und schließlich in die Marmelade greift, wird man unweigerlich zum klebrigsten Frühstücker der Welt.
Neben den Herausforderungen des Alltags wagten wir uns an einige Abenteuer. Eines der größten war wohl, dass wir als erste Menschen blind den Gipfel der Zugspitze bestiegen, zumindest soweit uns bekannt ist.
Durch einen Kiefernwald ging es zunächst im Slalom steil bergauf. Schließlich erreichten wir das erste Geröllfeld und erst hier wurde uns klar, auf was wir uns eingelassen hatten. Losgemacht von unseren Blindenstöcken, polterten faustdicke Felsbrocken in die Tiefe. Einer erwischte Heikos Fuß und brach ihm eine Zehe an. Sie war noch Wochen später blauer als der Nachthimmel. Die Strecke erschien uns endlos und obwohl wir bereits um 6:45 Uhr aufgebrochen waren, spürten wir, wie uns die Zeit davonlief.
Welche Übung beim blind sein war wohl die leichtere?
Nach zwölfeinhalb Stunden anspruchsvoller und harter Kletterei über teilweise ungesicherte Felshänge oder steile Geröllwüsten erreichten wir die Gipfelstation auf 2950 Meter. Wir konnten es selbst kaum fassen, dass wir diese Tour gemeistert hatten. Erschöpft und glücklich fielen wir uns gegenseitig um den Hals und feierten unser Abenteuer. Mit der letzten Zugspitzbahn machten wir uns auf den Heimweg ins Tal. Wenn wir heute von der Tour erzählen, empfinden die meisten Zuhörer die Blindbesteigung der Zugspitze als die unglaublichste und waghalsigste Aktion. Doch wenn wir alle Erfahrungen noch einmal reflektieren, können wir mit Verlaub behaupten, dass sie sogar noch eine der leichteren Übungen war.
Vielmehr waren es die alltäglichen Herausforderungen, die uns an die äußerste Grenze brachten. Beispielsweise das selbstständige Einkaufen stellte sich als unglaubliche Hürde dar. Unsere Aufgabe bestand darin, in der Nürnberger Innenstadt einen Einkaufsbummel anhand eines Einkaufszettels zu machen. Von der Tatsache einmal abgesehen, dass wir diesen Zettel nicht lesen konnten und allein dafür Hilfe brauchten, spürten wir, wie sehr uns die Abhängigkeit von anderen Menschen zur Verzweiflung treiben konnte. Rund 1200 Passanten kreuzten unseren Weg, doch keiner reagierte auf unsere Hilfegesuche.
Es ist mit Worten nicht auszudrücken, welche Ohnmacht wir fühlten. In diesen Augenblicken wären wir lieber noch einmal zwölfeinhalb Stunden die Zugspitze hinaufgekeucht, wenn uns dafür diese Enttäuschung erspart geblieben wäre.
Uns wurde bewusst, dass Scham eine Grenze war, die uns den Erfolg zum selbstständigen Leben verwehrte. Vehemenz und ein sehr selbstbewusstes Auftreten nach außen schien nötig zu sein, um auf Hilfe hoffen zu dürfen. In unserem Fall klappte es nur, weil unsere sehende Begleitung eine Passantin überredete, uns zu helfen.
Nach sieben Tagen rissen wir die Augenpflaster ab und spürten ein unerschöpfliches Gefühl von Dankbarkeit für das Geschenk unseres Augenlichts!
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Frühe Warnzeichen einer Blindheit wahrnehmen. Wie wird man Blind? Blindheit liegt vor, wenn ein oder beide Augen nichts mehr wahrnehmen oder die Fähigkeit zu sehen, stark eingeschränkt ist. Eine Erblindung kann die Folge einer angeborenen, genetisch bedingten oder erworbenen Erkrankung sein – und lässt sich in bestimmten Fällen verhindern. Erblindung, im medizinischen Fachjargon Amaurose oder Amaurosis genannt, ist die fehlende oder stark eingeschränkte Fähigkeit eines oder beider Augen, Licht wahrzunehmen. Farbenblindheit und Nachtblindheit fallen dagegen nicht unter die Amaurose. Grundsätzlich hängen die auftretenden Symptome einer Erblindung von der Ursache ab. Besteht die Amaurose bereits bei Geburt, wie zum Beispiel bei der Leberschen kongenitalen (vererbten) Blindheit, liegen die Augen tief in der Augenhöhle. Die Kinder schielen oftmals. Außerdem führen sie unregelmäßige Augenbewegungen (Nystagmus) durch. andelt es sich um eine erworbene Form von Blindheit, entwickelt diese sich meist über Jahre. Wahrnehmbar ist nur die zunehmende Beeinträchtigung der Sehleistung und beim Glaukom (Grünem Star) inselförmige "blinde Flecken" im Gesichtsfeld. Anders ist die Situation beim akuten Glaukomanfall: Der Abflussbereich des Kammerwassers ist plötzlich komplett verlegt, weil sich die Regenbogenhaut nach vorne wölbt. Es kommt zu einer akuten Erhöhung des Augeninnendrucks und Beschwerden wie starken Schmerzen, Übelkeit, Erbrechen sowie Sehstörungen – beispielsweise in Form einer plötzlichen Sehverschlechterung, die sich darin äußert, dass man seine Umwelt vernebelt sieht und dass sich um Lichtquellen farbige Ringe bilden.