Tag 517: Öko-Dorf Grabovica

von Heiko Gärtner
01.06.2015 23:19 Uhr

 Vor zwei Tagen stießen wir bei unserer Wanderung durch das Niemandsland zufällig auf einen Wegweiser, der einen Pilgerweg markierte. Zur Abwechslung hatte dieser einmal nichts mit dem Jakobsweg zu tun, sondern führte nach Sinj, einem Pilgerort in der Nähe der kroatischen Küste, den wir schon einmal als mögliches Ziel angedacht, dann aber wieder verworfen hatten. Zufällig oder auch nicht, führte dieser Pilgerweg nun genau durch die Orte, die wir zuvor auf der Karte bis an die kroatische Grenze geplant hatten. Wir beschlossen also ihm zu folgen und entschieden uns auch dafür, noch einen kurzen Abstecher nach Sinj zu machen, bevor wir dann entlang der Küste nach Split und später wieder landeinwärts nach Medjugorje wandern würden. In Tomislavgrad hatte uns der Weg mit dem schönen Namen „Unsere-Jungfrau-von-Sinj-Pilgerweg“ dann zum Franziskanerkloster geführt. Vielleicht brachte er uns ja Glück und auch in Zukunft sichere Schlafplätze.

Zunächst führte er uns ziemlich steil den Berg hinauf und dann mitten durch einen Wald, bis wir auf der anderen Seite wieder über noch steilere, steinige Pfade ins Tal abstiegen. Er war nicht unbedingt ein Kinderspiel mit unseren Wägen, aber auch nicht die größte Herausforderung, die wir je hatten. Dafür führte er aber durch wirklich schöne Natur und vor allem war er sehr gut ausgeschildert. Besser noch als mancher Jakobsweg, dem wir gefolgt waren. Für alle Pilgerbegeisterten, die Santiago schon in- und auswendig kennen ist dieser Weg also eine wirklich schöne Alternative, die wir bestens empfehlen können.

Nach dem Tal, kam natürlich wieder ein Berg, diesmal einer, der so steil anstieg, dass wir von den Wagen fast nach hinten gezogen wurden. Links von uns weidete ein Kuh-Hirte seine Rinder, die mit der Steigung irgendwie deutlich entspannter zurechtkamen als wir. Fasziniert stellten wir fest, dass wir vor Bosnien noch nie Kuh-Hirten gesehen hatten. Hier war das aber noch ein ganz natürliches und alltägliches Bild. Fleisch von glücklichen Kühen gab es also wirklich, auch wenn man es in Deutschland sicher vergebens suchte.

Hinter der nächsten Bergkuppe erwartete uns dann eine Aussicht, die uns den Atem raubte. Vor uns lag ein riesiger See, dessen strahlend blaues Wasser in der Sonne glänzte. Er war umrandet von rauen, felsigen Berghängen und präsentierte Bosnien schon wieder in einem vollkommen neuen, unerwarteten Licht. Erst später erfuhren wir, dass es sich bei diesem See um den größten, künstlichen See Europas handelte.

Wir schlängelten uns ins Tal hinab und überquerten den See an seiner schmalsten Stelle mit Hilfe einer Brücke. Auf der gegenüberliegenden Seite wurden wir von den Besitzern eines Trucker-Motels auf ein Mittagessen eingeladen. Theoretisch gab es hier auch Zimmer, doch der Verantwortliche für den Hotelbereich war gerade außer Haus. Dafür erzählte uns der Ober von einem Öko-Dorf, dass ganz hier in der Nähe direkt am Jungfrauen-von-Sinj-Weg lag. Dort würden wir sicher einen Platz zum Übernachten finden.

Der Ober hatte nicht übertrieben. Obwohl wir ihn nie persönlich kennenlernten, spendierte uns Jozo Curkovic, der Besitzer des Dorfes nicht nur eine Nacht in einem wunderschönen Apartment, sondern gleich auch noch ein Abendessen und ein Frühstück. Im Restaurant lernten wir dann einen freundlichen Mann kennen, der uns eine Führung durch das Dorf gab und uns dabei gleich noch einige interessante Details über seine Entstehung erzählte.

Vor etwas mehr als 50 Jahren hatte es an dieser Stelle keinen See, sondern nur ein grünes Tal gegeben. Die Jugoslawische Regierung hatte dann aber beschlossen, dass hier eines der größten Wasserkraftwerke der Welt entstehen sollte. Da nach der kommunistischen Idee eh alles allen gehörte, wurde das Tal daher kurzerhand zu Staatseigentum erklärt und alle Einwohner der darin und darum liegenden Dörfer mussten sich eine neue Bleibe suchen. Darunter war auch Jozo Curkovic. Er zog nach Kroatien und wurde dort als Geschäftsmann sehr reich. Jahre später entschied er sich jedoch dafür, seine Karriere aufzugeben und in seine alte Heimat zurückzukehren. Bislang war das komplette Gebiet um den See Sperrgebiet gewesen, in dem niemand leben und in dem auch niemand Tourismus betreiben durfte. Nach der Aufspaltung Jugoslawiens in die Einzelstaaten hatte Bosnien daher keinen allzu großen Nutzen mehr von dem See. Er durfte nun zwar wieder bewohnt werden, doch es gab nur wenige Menschen die zurückkamen. Der Gewinn in Form von Strom, den der See einbrachte, kam nur Kroatien zugute, denn das Wasserkraftwerk lag am Ende eines langen Tunnels, der einmal quer durch den Berg bis auf die kroatische Seite der Grenze führte.

Jozo beschloss daher, das verlassene Land wieder nutzbar zu machen und hier ein Tourismusdorf zu gründen, das Bosnien einen positiven und verträglichen Tourismus einbrachte. Jeder, dem er davon erzählte, hielt ihn für verrückt, denn niemand glaubte daran, dass Bosnien wirklich Urlauber anziehen konnte. Vor allem nicht so nahe an der Küste, wo es bereits einen florierenden Tourismus gab. Wenn er sein Geld schon in etwas investieren wollte, dann doch lieber in ein Hotel am Meer.

Doch Jozo hörte nicht auf das Gerede. Er wollte nicht irgendwo ein Hotel eröffnen, er wollte sein Heimatdorf wieder zum Erblühen bringen.

Das ganze ist nun 15 Jahre her und seitdem ist hier viel passiert. Es entstand ein großes, schönes Restaurant, ein Ponnyhof, ein Streichelzoo und vieles mehr. Vor zwei Jahren fand dann die Eröffnung statt, doch die Arbeiten sind noch lange nicht abgeschlossen. Zwei Hotels, ein Massagebereich, die Parkanlagen, ein Swimming-Pool und eine pompöse Jesusstatue befinden sich noch immer im Bau. Es ist ein Lebensprojekt, in dem viel Liebe zum Detail steckt und das wahrscheinlich niemals wirklich abgeschlossen sein wird.

Unser Führer begleitete uns zunächst zum höchsten Punkt des Dorfes. Hier hatte man einen Friedhof gefunden, der bereits über tausend Jahre alt war. Hier auf dem Gipfel wurde nun das Kreuz mit der Jesusstatue errichtet. Noch hatte sie weder einen Kopf noch Arme und doch wirkte sie schon mächtig und beeindruckend. Unterhalb des Friedhofes kamen wir an zwei Eichen vorbei, die wie Zwillinge direkt nebeneinander standen. Der freundliche Hofmitarbeiter erzählte uns, dass es über diese beiden uralten Bäume eine alte Legende gab, die zum Wahrzeichen des Dorfes wurde. Vor siebenhundert Jahren lebten hier zwei junge Menschen, ein Mann und eine Frau, die unsterblich in einander verliebt waren. Doch der Mann gehörte einem reichen Adelsgeschlecht an, während die Frau nur eine arme Bäuerin war. Ihre Liebe war also verboten. Um dennoch zusammen sein zu können, pflanzten sie die beiden Eicheln in den Boden, jeder eine als Symbol für sich selbst, so dass sie niemals getrennt werden konnten. Wie durch ein Wunder gelang es ihnen dann aber schließlich doch noch, ihre Familien davon zu überzeugen, dass sie für einander bestimmt waren. Sie durften heiraten und lebten glücklich bis an ihr Lebensende. Die beiden Eichen aber wuchsen und gediehen bis zum heutigen Tage. Jedem, der die Legende kennt und der an ihnen vorbeigeht verraten sie, dass die Liebe letztlich immer stärker ist, als alle Widrigkeiten, die ihm im Weg stehen.

„Schaut!“ sagte der Mann, als er die Geschichte beendet hatte, „obwohl beide genau gleich alt sind, ist die eine ein wenig schlanker und die andere ein bisschen kräftiger. Man kann noch immer erkennen, dass es sich um einen Mann und eine Frau handelt.“

Auf unserem Weg durch das Dorf kamen wir dann noch an einem großen Festzelt vorbei, in dem regelmäßig Hochzeiten gefeiert wurden, sowie an einem Obstgarten in dem wir frische Erdbeeren ernten durften. Es gab sogar ein Gehege mit Damwild, das uns neugierig anschaute.

„Für und Kroaten hören sich viele Worte im Deutschen sehr ähnlich oder gleich an,“ erzählte unser Reiseführer, „Erdbeben und Erdbeeren zum Beispiel. Manchmal kann das zu ganz lustigen Verwechslungen führen. Eine Freundin von mir, die viel in Deutschland lebte, wurde nach der Katastrophe in Fukushima von einer deutschen Frau gefragt: ‚Gibt es bei euch in Bosnien eigentlich auch Erdbeben?’ Daraufhin meinte die Freundin: ‚Ja! Viele sogar! Die wachsen an jeder Ecke!’ ‚Oh mein Gott!’ rief die Frau entsetzt, dass ist aber gefährlich!’ Meine Freundin verstand ihr Entsetzen nicht und meinte nur: ‚Warum? Die sind doch lecker!’“

Auf unserem weiteren Rundgang durch das Dorf erzählte er uns noch einiges über die Jugoslawische Geschichte. Zunächst sprachen wir dabei über die Kirche. Er bestätigte unsere Beobachtung, dass sie hier im Land sehr viel Macht, Einfluss und vor allem Geld hatte. Woher das Geld kam wusste er nicht so genau, denn es gab hier keine Kirchensteuer. Dafür waren die Menschen hier sehr gottesfürchtig und auch wenn sie selbst nicht viel hatten, spendeten sie der Kirche bereitwillig, wann immer diese danach verlangte. Er vermutete, dass dies auch mit dem Kommunismus zu tun hatte. Denn da das kommunistische Regime atheistisch war, war die Kirche ein enger Verbündeter all jener Menschen, die darunter litten. Sie setzte sich für die Freiheit ein und gewann auf diese Weise viele Verbündete. In dieser Schuld, stehen die Menschen größtenteils noch heute. Wenn also ein Superior, wie der aus dem Franziskanerkloster von gestern in seiner Messe erzählt, dass er aufgrund der schwierigen Straßenverhältnissen nicht mehr mit seinem alten Auto fahren kann, sondern einen größeren Motor braucht, dann spenden die Menschen sogar für einen 7ner BMW.

Als wir ihn auf den Jugoslawienkrieg ansprachen, bekamen wir auch noch einige sehr spannende Informationen.

Alles begann eigentlich bereits vor rund 500 Jahren, als der Balkan wie viele andere Teile Europas auch unter türkischer Herrschaft standen. Damals wendete der Sultan einen genialen Trick an, um die Menschen zum Konvertieren in den Islam zu überreden. Die katholische Kirche verlangte zu jeder Zeit hohe Steuern, die den Menschen wirklich zu schaffen machten. Der Sultan versprach hingegen, dass es im Islam keine Steuern geben würde und dieses Argument war absolut überzeugend. Da sich niemand so richtig sicher war, wie sich die Lage weiter entwickeln würde, kam es oft vor, dass ein Teil der Familie konvertierte um die Steuern zu sparen und ein anderer Teil beim alten Glauben blieb, nur um sicher zu gehen. So kommt es, dass bis heute ein Teil der Slaven im Balkan muslimisch ist und ein anderer Teil nicht. Viele Muslime haben daher auch Arabische Vor- aber slawische Nachnamen, was sich für die Einheimischen etwa so abstrakt anhören muss wie Mohamed Müller.

Zur Zeit des 1. Weltkrieges war der Balkan dann ein Königreich unter einem serbischen König. Was danach passierte weiß ich nicht genau, aber im 2. Weltkrieg gingen die Kroaten einen Deal mit dem dritten Reich ein, um die Serben aus ihrem Land zu vertreiben. Die Nazis sicherten den Kroaten militärische Unterstützung zu, wenn diese sich dem dritten Reich anschlossen. Dazu gehörte natürlich auch die Verfolgung von Juden und allen anderen „Feinden des Reiches“ und wenn man schon einmal dabei war, konnte man die Serben und alle anderen, die man nicht haben wollte ja gleich mit verfolgen. Der Plan ging zunächst ganz gut auf, bis das dritte Reich fiel und Tito den Kommunismus auf dem Balkan einführte. Hier gibt es sicher auch noch einige spannende Hintergrunddetails, denn sicher war es nicht das Volk selbst, dass die Serben vergasen wollte. Je mehr uns der Mann über die Geschichte erzählte, desto mehr bekamen wir den Eindruck, dass dies alles mit den Kroaten, Serben, Slowenen, Moslem und wem auch immer, fast gar nichts zu tun hatte. Es wirkte viel mehr wie eine überdimensionierte Schachpartie, bei der niemand wusste, wer eigentlich die Figuren setzte und warum.

Nach dem zweiten Weltkrieg hatte der Kommunist Tito nun die Idee, die südslawischen Völker in einem Land zu vereinen. Dieses Land nannte er Jugoslawien, was übersetzt nichts anderes heißt als Südslawen. Die Idee, die verstrittenen Nachbarvölker zu vereinen war prinzipiell nicht verkehrt, nur die Umsetzung war äußerst fragwürdig. Wie bereits einmal beschrieben kamen hier in dieser Zeit mehr Menschen ums Leben als im ganzen zweiten Weltkrieg. Da die Kroaten mit den deutschen Verbündet gewesen waren, versuchten viele nach Kriegsende nach Deutschland zu fliehen. Doch die britischen Besetzer hatten die Grenzen gesperrt und schickten die Flüchtlinge zurück, wo sie als Verräter hingerichtet wurden. Erst später bekamen die Jugoslawen einen Reisepass, der es ihnen als einziges kommunistisches Volk erlaubte, frei in Europa umherzureisen. Viele nutzten diese Gelegenheit um als Gastarbeiter nach Westeuropa zu kommen oder um aus dem Land zu fliehen.

Das Bündnis mit Hitler brachte Kroatien nun im nachhinein einen sehr schlechten Stand ein, denn obwohl der Krieg längst vorüber war, galt man noch immer als Nazi, sobald man sich offen dazu bekannte, Kroate zu sein. Ein bisschen ähnlich wie auch bei den Deutschen.

Nach Titos Tod wird Milosevic der neue Staatschef von Jugoslawien. Er verfolgt im großen und ganzen die gleichen Ziele wie Tito, nur etwas anders interpretiert. Tito war Kroate und hatte versucht, das Land unter seiner Diktatur wirklich zu vereinen. Milosevic hingegen hatte nun die Idee, ganz Jugoslawien Serbisch zu machen. Ob das tatsächlich die Ideen von Tito und Milosevic waren, wage ich zu bezweifeln, aber sie stehen als Staatchefs nunmal im Mittelpunkt der Öffentlichkeit und solange man die wahren Drahtzieher nicht kennt müssen sie wohl erst einmal als Stellvertreter herhalten. Wessen Idee es auch immer war und warum diese Idee auch immer entstand, Jugoslawien sollte jedenfalls serbisch werden. Die Slowenen hielten das für keine gute Idee und machten von dem Gesetz gebrauch, das bereits unter Tito in Kraft getreten war, und das es jedem jugoslawischen Staat erlaubte, aus der Gemeinschaft auszutreten, wenn er es wollte. Somit wurde Slowenien also unabhängig, was endlich auch erklärt, warum sich dieses Land so stark von den anderen unterscheidet. Es war einfach schon früh nicht mehr dabei.

Nachdem Slowenien weg war, bestand die Gefahr, dass auch Kroatien aussteigen würde. Denn wirkliche Vorteile brachte ihnen Jugoslawien nun nicht mehr. Im Gegenteil: Durch den großen Küstenanteil ging es Kroatien wirtschaftlich sehr gut, zumindest theoretisch. Praktisch wanderten jedoch alle Steuern aus dem Tourismus nach Belgrad und mussten dann mühsam wieder erbettelt werden, wenn man in Kroatien damit etwas anstellen sollte. Also beschließt auch Kroatien, dass es von dem Unabhängigkeitsgesetz gebrauch machen will, doch diesmal ist es nicht ganz so einfach. Ein großer Teil Kroatiens wird nur oder fast nur von Serben bewohnt und Milosevic will diesen Teil nicht so einfach abgeben. Er beschließt, dass jeder Teil des Landes, der von Serben bewohnt wird, auch Serbien sein sollte und beginnt damit, diesen Teil mit militärischer Gewalt an sich zu reißen. Belgrad war zuvor die Hauptstadt von ganz Jugoslawien gewesen und somit befanden sich hier auch alle Machtinstrumente, einschließlich der Armee. Jetzt kommt es zum Krieg. Natürlich kann man nun glauben, dass dieser Krieg tatsächlich durch die Machtgeilheit und die Besessenheit eines fanatischen und faschistischen Staatsoberhauptes ausgelöst wurde, doch ich halte das wie gesagt für unwahrscheinlich. Es gibt keine Kriege, die aufgrund eines solchen Fanatismus entstehen. Es sieht vielleicht manchmal so aus, doch es gibt immer rationale und erklärbare Interessen im Hintergrund, die damit überspielt werden. Wenn ein Fanatiker an der Macht ist, dann ist das kein Zufall, sondern das Ergebnis eines strategischen Planes. Er ist an der Macht, weil ihn jemand dort haben will. Und genau hier sind wir wieder an dem Punkt, der noch immer unklar ist: Was sollte mit dem Jugoslawienkrieg erreicht werden?

Zunächst kämpfen nun die Serben gegen die Kroaten, die sich mit den Moslem verbündet haben. Später kämpfen die Moslem dann an der Seite der Serben und noch etwas später kämpft jeder gegen jeden, ohne dass irgendjemand weiß, warum er das eigentlich macht. Das spannende an Bosnien ist, dass es ein bosnisches Volk überhaupt nicht gibt. Bosnien ist einfach das grüne Land in der Mitte, das zu niemandem so richtig dazugehört und das sich gerne jeder unter den Nagel reißen würde. Aus diesem Grund wurde es auch „klein Jugoslawien“ genannt, weil es noch einmal ein Abbild des Balkans in klein war. Der Krieg war nicht hier, weil er etwas mit Bosnien zu tun hatte. Das Land lag nur einfach zur falschen Zeit am falschen Ort und wurde so zum Kriegsschauplatz. Dies ist auch der Grund, warum hier noch immer so viele Mienen liegen: Wenn wir es nicht bekommen, dann sollt ihr es auch nicht haben! Die Grenze zwischen dem Serbischen und dem Kroatischen Territorium verlief ungefähr bei Kupres. Daher sind wir dort auch auf die Mienengürtel gestoßen. Wir haben in den vergangenen Tagen immer mal wieder Leute aus Deutschland gefragt, die während des Krieges hier als Soldat stationiert waren. Keiner von ihnen konnte uns sagen worum es ging, oder was hier eigentlich gemacht wurde. Die meiste Zeit saßen die Soldaten irgendwo herum und haben sich gelangweilt. Wirkliche Kämpfe waren weit seltener als wir es glauben sollten.

Schließlich mischten sich dann auch noch die Europäer und die Amerikaner ein, um das Chaos komplett zu machen. Die Kroaten wollten möglichst viel Land mit Kroaten darin, die Serben möglichst viel Land mit Serben. Gleichzeitig wollte aber keiner die muslimische Bevölkerung haben und auch die EU hatte kein allzu großes Interesse an einem muslimischen Staat mitten in Europa. Dadurch wurde die Sache natürlich irgendwie kompliziert.

Schließlich waren es die Amerikaner, die Bosnien zu einem eigenen Land erklärten, das von Serben, Kroaten und Moslem gleichermaßen bewohnt wird und das aus zwei Teilen bestehen sollte. Der nördliche Teil wurde aus irgendeinem Grund Serbische Republik genannt und der Südliche Föderation Bosnien und Herzegowina. Dass ein bosnisches „Bundesland“ ausgerechnet „Serbische Republik“ heißt, hatte mich zuvor schon beim Raussuchen der Wegstrecke irritiert, aber es wird sicher einen Grund geben.

Als wir unseren Reiseführer noch einmal explizit danach fragten, ob er selbst wusste, warum es zu diesem Krieg gekommen war, also ob er irgendeinen sinnvollen Grund dafür sehen konnte, der nachvollziehbar war, grinste er nur und verneinte ebenso wie alle anderen zuvor.

Wir waren nun wieder beim Restaurant angekommen und inzwischen war es spät genug, um ein Abendessen zu bestellen. Dabei kamen wir jedoch noch einmal auf das Wetter zu sprechen. Nicht wir, sondern unser Gastgeber fing mit dem Thema an, dass das Wetter hier nicht mehr auf natürliche Weise entstand. Er erzählte uns, dass es vor einiger Zeit ein großes Aufrufen in der Bevölkerung gegeben hatte, weil immer mehr Menschen festgestellt hatten, dass etwas mit dem Flugverkehr und der Wolkenbildung nicht stimmte. Es war normal, dass viele Flugzeuge von Ost nach West und zurück über das Land flogen. Doch plötzlich waren es viel mehr als normal und nun kamen sie auch von Norden nach Süden. Außerdem erzeugten sie in großen Mengen jene unnatürlichen Wolken, die wir auch in den letzten Tagen immer wieder gesehen hatten. Es gab einige Fernsehberichte zu dem Thema und eigentlich hätte es auch eine Dokumentation geben sollen, bei der ein Experte live erklärt, wie es zu diesem Phänomen kam. Kurz zuvor jedoch wurde er von seiner Universität entlassen, mit einer hanebüchenen Story angeschwärzt und der Bericht fiel aus. Danach wurde das Thema wieder unter den Teppich gekehrt. Doch die Leute wissen, was sie sehen und selbst wenn die Wolkenbilder noch keine Fragen auslösen, dann aber zumindest die ungewöhnliche Flut im letzten Jahr. Bislang hatten wir geglaubt, dass Slowenien und Kroatien davon betroffen waren, aber es hatte den ganzen Balkan erwischt und Serbien am schlimmsten. Zur gleichen Zeit sind wir damals durch Spanien gewandert und haben uns gefragt, wie es dort zu dieser ungewöhnlichen Trockenheit kommt, bei der es bis zu 2 Jahre nicht mehr geregnet hatte. War das wirklich nur ein Zufall? Eine Laune der Natur? Oder steckt doch mehr dahinter?

Jetzt jedenfalls war es erst einmal Zeit für das Abendessen. Wir bekamen ein saftiges Rindersteak aus ökologischer Haltung mit Pommes und in Kräuterbutter geschmorten Pilzen. Dazu gab es einen frischen Salat. So lecker haben wir bereits seit Wochen nicht mehr gegessen.

Spruch des Tages: Ein Mensch ist erfolgreich, wenn er zwischen Aufstehen und Schlafengehen das tut, was ihm gefällt. (Bob Dylan)

 

Höhenmeter: 350m

Tagesetappe: 22km

Gesamtstrecke: 9359,77 km

Wetter: sonnig und heiß

Etappenziel: Eco Selo Grabovica, 80 245 Prisoje, Bosnien und Herzegowina

Kaum kamen wir wieder zurück in besiedeltes Gebiet, war es mit der Harmonie der Natur auch schon wieder vorbei. Es ist wirklich verrückt, wie wenig Zivilisation notwendig ist, um alles auf den Kopf zu stellen. Bislang ist uns das einfach noch nicht aufgefallen, weil der Kontrast nie so deutlich wurde wie hier. Doch so schön die menschenleere Natur auch war, ganz ohne Zivilisation kamen wir zur Zeit nicht aus. Wir brauchten Wasser, Nahrung und Strom, wenn wir auf die Weise weiterreisen wollten, wie wir es wollten. Und so wie es aussah, brauchten wir nun auch noch dringend Internet, denn wir näherten uns der Kroatischen Grenze und damit auch der Mittelmeerküste. Doch wie es dort weitergehen sollte, das wussten wir noch nicht. Konnten wir dort überhaupt entlangwandern? Oder gab es durch die Steilküste ähnlich wie in Italien nur grässliche Hauptstraßen, die einem jeden Schritt zur Qual machten? Wir wussten es nicht, doch wir sollten es besser herausfinden, bevor wir keine Wahl mehr hatten, welchen Weg wir einschlagen sollten. Abgesehen davon hatten wir bereits seit Tagen nicht mehr geduscht und auch unsere Kleidung brauchte dringend eine Wäsche.

Doch gestern Abend wurde es damit noch nichts. Wir erreichten zwar zwei kleine, aneinandergekettete Dörfer mit den Namen Lug und Kuk, in denen es sogar eine Kirche gab, doch der Pfarrer wollte uns keinen Platz geben. Das heißt, so genau wissen wir das eigentlich gar nicht, denn er wollte uns nicht einmal zuhören. Also zogen wir wieder raus aufs Feld und bauten dort unser Nachlager auf. Anschließend kehrte ich noch einmal ins Dorf zurück um nach Wasser und einem Abendessen zu fragen. Dabei profitierten wir von einem Abschlussgrillen. Ein Mann, der seit vier Jahren in München arbeitete und gerade für eine Woche seine Familie besucht hatte, fuhr nun wieder nach Hause. Heute war der letzte Tag und da hatte seine Familie noch einmal ordentlich aufgetischt. Alles, was dabei übrig geblieben war, bekamen wir nun geschenkt. Später kamen dann noch einmal seine Freunde bei uns am Zelt vorbei und brachten uns Würstchen und Tomaten. Es war wirklich unglaublich, wenn man einmal als guter Mensch eingestuft wurde, dann bekam man hier jede Unterstützung, die man sich vorstellen kann. Sofern sie sich die Einheimischen vorstellen können, versteht sich.

Heute waren es dann nur noch gut 6km bist in die Stadt. Tomislavgrad hatte ebenfalls nur etwa 5000 Einwohner und war für eine Stadt recht angenehm. Gleich beim Betreten kamen wir an ein Franziskanerkloster. Als wir vor der Kirche standen fuhr ein 7ener BMW an uns vorbei. Er hielt an und die Scheibe wurde heruntergekurbelt. Dahinter kam der Superior des Klosters zum Vorschein. Mit dem Armutsgelübde nahm man es hier also offensichtlich nicht so eng. Er fragte, ob er uns helfen könne, hatte es dann aber plötzlich sehr eilig. Schließlich speiste er uns mit einem unverbindlichen: „Wir reden später darüber!“ ab.

Im Klostergarten trafen wir dann jedoch auf einen anderen Mönch, der wesentlich zuvorkommender war. Er durfte zwar nicht entscheiden, ob wir hier bleiben konnten oder nicht, lud uns aber erst einmal auf ein Getränk und später auf eine Mittagessen in einem Restaurant ein. Es gab die bosnische Spezialität, wie wir zuvor schon einmal zum Frühstück bekommen hatten: In Fladenbrot eingepackte Mettröllchen mit Majonäse, Zwiebeln und sehr viel Öl. Wirklich viel Öl. Es schmeckte nicht schlecht, lag jedoch im Bauch wie ein Stein. Gut, das wir heute nicht mehr viel laufen mussten. Der Superior, sagte dann schließlich doch zu und überließ uns einen schmutzigen Bastelraum, der von den Kindern des Kommunionsunterrichtes genutzt wurde. Dem Bruder, der uns zuvor zum Essen eingeladen hatte, war es sichtlich peinlich, dass sein Vorgesetzter uns nicht mehr anbot. Dass es in diesem Kloster jede Menge freie Räume gab, hatte er zuvor bereits angedeutet und er selbst war sicher gewesen, dass wir einen davon beziehen durften. Mit Duschen war es dann also nichts, aber wir konnten uns und unsere Kleider immerhin mit kaltem Wasser waschen. Der Bruder kam an diesem Nachmittag bestimmt noch sieben Mal um nach uns zu schauen und brachte uns Handtücher, Wasser und Essen. Er war ein wirklich lieber Kerl und so besorgt um uns, dass er uns am liebsten adoptiert hätte.

Außerdem hatten wir hier den lang ersehnten Internetzugang. Einen langsamen, aber einen funktionierenden. Es dauerte bis spät in die Nacht hinein, aber wir haben nun wieder einen Plan, wohin die Reise gehen soll.

Spruch des Tages: Seit ich die heilige Armut als meine Gemahlin, meine Freude und als meinen geistigen und körperlichen Schatz gewählt habe, fühle ich die größte Scham, wenn ich jemanden finde, der noch ärmer ist als ich. (Franz von Assisi)

 

Höhenmeter: 40m

Tagesetappe: 6km

Gesamtstrecke: 9337,77 km

Wetter: sonnig und heiß

Etappenziel: Franziskanerkloster, Tomislavgrad, Bosnien und Herzegowina

Auch heute verbrachten wir den ganzen Tag damit, durch die menschenleere Natur im Herzen Bosniens zu wandern. Ein Mal nur kamen wir durch einen kleinen Ort, der fast genauso verlassen war, wie der von gestern Abend. An einer kleinen Kirche machten wir Pause und kaum hatten wir uns hingesetzt, kam auch schon ein Mann, der wissen wollte, was wir hier machten. Es war geradezu beeindruckend und irgendwie auch ein bisschen beängstigend, dass man trotz der Einsamkeit hier nahezu niemals alleine ist. Lustiger Weise kamen die Menschen nie direkt zu uns um uns anzusprechen und so etwas zu sagen wie: „Hey, wer seit ihr denn und was macht ihr so? Ich habe euch mit diesen lustigen Wagen gesehen und es hat mich einfach interessiert.“

Nein, stattdessen fanden sie immer einen guten Grund, warum sie genau jetzt, völlig zufällig hier an diesem Ort auftauchen mussten, wo auch wir uns befanden. Dieser Mann hier beispielsweise kam nur her, um eine alte zerschlissene Fußmatte vor den Eingang der Kirche zu legen, die hier eh schon längst hingesollt hätte. Er sprach uns dann auf Bosnisch an, woraufhin wir ihm mitteilten, dass wir seine Sprache leider nicht besonders gut verstanden. Anschließend versuchte er es mit ein paar Sätzen auf Englisch und Deutsch, doch eine Konversation wurde nicht daraus. Es waren wieder die üblichen Fragen: „Woher?“

„Nürnberg!“

„Wohin?“

„Medjogerje!“

„Aha!“

Dann zündete er sich eine Zigarette an und stand er den Rest unseres Picknicks schweigend neben uns, um uns anzustarren. Ich kann nicht sagen, wer von uns dreister war, der Mann, weil er es fertig brachte, jemanden über mehr als 10 Minuten aus nächster Nähe anzustarren, obwohl er wusste, dass er störte, oder wir, weil wir einfach ruhig sitzen blieben und den Mann ignorierten, ohne uns von ihm aus der Ruhe bringen zu lassen. Er war ja eigentlich auch ganz nett, nur eben vollkommen fehl am Platz.

Nach der Pause ging es dann wieder für zwanzig Kilometer in die Einsamkeit, diesmal durch ein karges Felsenland, das nicht mehr so richtig wie das Auenland wirkte. Eher ein wenig wie Mordor, aber nicht so gruselig und auf seine Art auch voller Schönheit. Der Wind wehte nun so stark, dass wir uns gegenseitig kaum noch verstehen konnten. Das merkwürdigste daran war jedoch, dass er immer von Vorne kam und das obwohl wir ständig in Serpentinen liefen und immer wieder die Richtung änderten. Ebenso auffällig waren die künstlichen Wolken am Himmel. Ich muss zugeben, dass ich bislang immer noch ein bisschen skeptisch war, wenn Heiko meinte, dass das Wetter nicht natürlich sein konnte, sondern definitiv von Menschen manipuliert wurde. Jetzt aber gab es keinen Zweifel mehr daran. In der Früh hatten wir gestern wie heute einen strahlend blauen Himmel, ohne eine einzige Wolke. Dann kamen die ersten Flugzeuge, die ihre „Kondenzstreifen“ hinterließen, die sich nicht auflösten, wie sie es eigentlich hätten tun sollen. Sie bildeten nach und nach ein richtiges Gitternetz, dass sich immer mehr zu einer geschlossenen Wolkenschicht zusammenschloss. Doch die Wolken waren eckig und kantig, eben so, wie es bei einer Fläche der Fall ist, die aus einzelnen geraden Linien entsteht. Am Nachmittag war der Himmel dann weitgehend von dieser Wolkenschicht zugedeckt. Gestern war es bereits das gleiche gewesen, doch über Nacht hatte sich alles wieder verzogen.

Die Frage war nur, warum diese Wettermanipulationen hier vorgenommen wurden. Es lebte ja fast niemand hier, dem man damit schaden konnte. Ging es also vielleicht eher um ein Experiment, das bewusst hier durchgeführt wurde, eben weil hier kaum jemand lebte? Oder ging es darum, die Menschen, die hier lebten und die ihr Leben weitaus autark gestalteten, von den Supermärkten abhängig zu machen? Wir hatten nun bereits ein paar Mal gehört, dass die Ernten in den letzten beiden Jahren sehr schlecht waren und dass davon für die Menschen hier alles abhing. Wenn sie selbst nichts mehr ernten konnten, weil alles im Wasser ertrank und verfaulte, dann kam die Armut in Form der geringen Gehälter wirklich zum tragen. Oder ging es vielleicht gar nicht um dieses Gebiet, sondern viel eher um die Küste, die von den sintflutartigen Regenfällen ja genauso betroffen war? Sollte vielleicht verhindert werden, dass Kroatien wieder ein Urlaubsparadies wurde? Oder ging es vielleicht überhaupt nicht um diese Region? War der Regen hier vollkommen egal und sollte nur nicht dort herunterfallen, wo er eigentlich hinwollte. Wenn es hier unnatürlich viel regnete, dann musste es an anderer Stelle unnatürlich trocken sein. Ging es vielleicht darum?

Wir wissen es nicht, aber irgendetwas an der ganzen Sache ist definitiv faul.

Das gleiche gilt auch für den Krieg. Dieses Land ist so menschenleer, dass man sich fragt, wer hier überhaupt je hatte kämpfen wollen. Die größeren Städte, durch die wir kamen hatten gerade einmal fünf- bis zehntausend Einwohner und waren strategisch betrachtet absolut wertlos. Worum wurde hier also gekämpft? Warum wurden Dörfer in den Bergen zerbombt und vermint, in denen außer ein paar Bauernfamilien niemand lebte? Die Menschen waren für niemanden eine Bedrohung und sie besaßen auch nichts, das man ihnen hätte nehmen können. Außer natürlich ihr Land und den Wald. Aber ließ sich damit ein Krieg rechtfertigen. Irgendwie ergibt das alles noch immer keinen Sinn.

Man spürt jedoch, dass der Krieg und vor allem auch die Zeit davor, ihre Spuren bei den Menschen hinterlassen haben. Das, was sie so suspekt macht, ist nicht Unfreundlichkeit, sondern Angst. Die ständige Überwachung und das Gefühl niemandem trauen zu können, scheint noch immer in den Menschen verhaftet zu sein. So jedenfalls ließe es sich erklären, warum sie plötzlich neben einem stehen und einen Anstarren wie einen Schwerverbrecher, nur weil man sein Picknick auspackt.

 

Spruch des Tages: Das große Karthago führte drei Kriege. Nach dem ersten war es noch mächtig. Nach dem zweiten war es noch bewohnbar. Nach dem dritten war es nicht mehr zu finden. (Bertolt Brecht)

 

Höhenmeter: 290m

Tagesetappe: 31km

Gesamtstrecke: 9331,77 km

Wetter: sonnig und heiß, in der Nacht Temperaturen um 4°C.

Etappenziel: Platz auf einer Wiese am Fluss, Kuk, Bosnien und Herzegowina

Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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