Kühe auf Wanderschaft

von Franz Bujor
17.03.2014 01:24 Uhr

Als wir in die Straße einbogen, in der Caroline wohnte, kam sie uns bereits entgegen. Sie empfing uns freudig und zeigte uns einen Platz, in dem wir unsere Wagen und unsere Schuhe lassen konnten. Denn mit ins Haus nehmen wollten wir beides nicht. Als wir das Haus betraten lernten wir zunächst Carolines jüngere Tochter Aurélie kennen. Wenige Minuten später machten wir dann auch die Bekanntschaft mit Ludivine, der älteren Tochter. Beide waren nur für dieses Wochenende zu besuch bei ihrer Mutter. Die ältere lebte normalerweise mit ihrem Freund in der Schweiz, die jüngere Wohnte in Limoges. Sie hatten das schöne Wetter genutzt um den Garten ihrer Mutter ein wenig aufzupeppen und freuten sich nun auf ein gemeinsames Abendessen. „Wir wollen uns etwas vom Chinesen holen!“ sagte Ludivine, „wenn ihr wollt könnt ihr mitkommen und euch etwas aussuchen.“

Heiko Gärtner und Tobias Krüger: Hungrig nach der langen Wanderung

Heiko Gärtner und Tobias Krüger: Hungrig nach der langen Wanderung.

 

Das klang hervorragend, vor allem, wo wir uns bereits seit über einem Monat regelmäßig chinesisches Essen wünschten. Auch ein Abendessen mit zwei hübschen jungen Französinnen stand schon länger auf unserer Wunschliste und nun erfüllte sich beides an einem Abend. Der Besuch beim Chinesen wurde ein echtes Abendteuer. Wir bekamen eine Art eckigen Plastikteller, mit unterschiedlich großen Fächern darin, die wir uns am Buffet auffüllen durften. Man durfte sie jedoch nur bis zum Rand füllen, und keine Berge darauf schaufeln. Wir waren nach den beiden verhältnismäßig nahrungsarmen letzten Tagen noch immer recht ausgehungert und so nahmen wir die Herausforderung an, jeden Quadratmillimeter des Tellers mit etwas Essbarem zu füllen. Bei einer Auswahl an Frühlingsrollen, Sushi und anderen Dingen mit einer runden Form, die man in den eckigen Fächern unterbringen musste, was das gar nicht so leicht. Heiko wurde ein paar Mal äußerst mürrisch von der Kellnerin angeschaut. Ich möglicherweise auch, aber ich war so in meine Aufgabe vertieft, dass ich es nicht mitbekam. Doch am Ende konnten wir die Mission mit gutem Gewissen als absolut gelungen betrachten. Voller hatte wahrscheinlich noch nie ein Gast seinen Teller gestapelt. Nachdem wir die Beute in unser neues Heim gebracht hatten, ging es zum angenehmen Teil des Abends über. Wir schlemmten bis zum Platzen und sowohl Heiko als auch ich hatten irgendwann einen Punkt erreicht, an dem wir uns beinahe eingestanden hätten, dass wir es vielleicht ein bisschen übertrieben haben. Doch aufgeben kam nicht in Frage. Uns war zwar beiden schlecht, aber wir fühlten uns wohl damit. Es war das wunderbare Gefühl wirklich satt zu sein.

Der Abend wurde einer der lustigsten und fröhlichsten auf unserer Reise und es machte uns einen riesigen Spaß, all die Anekdoten von unseren bisherigen Begegnungen zu erzählen. Vor allem der Pfarrer mit den Satanistenstempeln stellte sich als neues Highlight heraus.

Unsere Gastfamilie war bereits sehr geübt darin, obdachlose Wesen bei sich aufzunehmen. Außer Caroline lebten hier noch drei Katzen, von denen zwei zugelaufen waren und hier ihr neues Zuhause fanden.

Als wir uns schließlich zurückzogen, um uns an die Bilder und den Tagesbericht zu machen, war es bereits wieder deutlich später als gedacht. Dementsprechend kurz wurde die Nacht, da wir durch den Internetmangel auch noch einiges an unbeantworteten Mails aufzuholen hatten.

Der Plan, um 8:30 Frühstücksbereit zu sein, ging dadurch auch nicht ganz auf. Als wir in die Küche kamen, saßen die drei Frauen bereits am Tisch. Caroline hätte eigentlich längst in der Arbeit sein müssen, ließ sich aber nicht stressen und beschloss, den Morgen noch mit uns zu verbringen. Nach einer heißen Schokolade, einem guten Stück Baguette und einer Rosinenschnecke waren unsere Augen langsam wach genug, um unsere Umgebung wahrzunehmen. Entsetzt stellten wir fest, dass sich die Sonne hinter einer dicken Schicht aus Nebel und Wolken versteckt hielt. Das war nicht der Frühlingstag den wir bestellt hatten.

Wandern im Nebel.

Wandern im Nebel.

 

Nachdem wir uns verabschiedet hatten, brachen wir in eine Welt auf, von der wir nicht mehr als dreißig Meter sehen konnten. Wieder einmal fühlten wir uns wie in einem Horrorfilm, in dem jeden Moment ein Geist oder ein Zombie hinter dem nächsten Baum hervorsprang. Das passierte zwar letztlich doch nicht, dafür sahen wir aber einige andere skurrile Dinge. Zum Beispiel einen Hausbesitzer, der die Stromleitung vor seiner Einfahrt mit einem selbstgeschnitzten Holzstecken nach oben hielt, damit er mit seinem LKW darunter hindurchfahren konnte. Wieder einmal ein Zeichen dafür, wie entspannt das Verhältnis der Franzosen zu Starkstromleitungen war. Und außerdem ein Zeichen dafür, dass die mögliche Existenz von Geistern, die hier herumspukten, weil sie auf abstrakte Weise durch den Kontakt mit zu viel Volt gestorben waren, gar nicht so unwahrscheinlich war.

Etwas später tauchte dann eine Kuhherde vor uns auf, die einfach so über die Straße marschierte. Ihr folgte eine Frau auf einem Quad, die versuchte, die Kühe dadurch anzutreiben, dass sie in regelmäßigen Abständen den Motor aufheulen ließ. Die Kühe zeigten sich davon jedoch absolut unbeeindruckt und trotteten im immer gleichen Tempo dahin.

Das war nicht unsere einzige Kuhbegegnung heute.

Das war nicht unsere einzige Kuhbegegnung heute.

 

Die nächste Kuhherde der wir begegneten war nicht minder entspannt. Sie bestand aus rund 40 Kühen, die über eine große Wiese verstreit im Gras lagen und uns interessiert anschauten. Wie auf ein Kommando erhoben sie sich nach eine Weile, wobei sie zuerst ihre Hintern in die Höhe streckten und dann ihren Oberkörper vom Boden abdrückten. Was dann folgte, war die direkteste Demonstration von unerschütterlicher Entspanntheit, die man sich nur vorstellen kann. Die Kuh die uns am Nächsten stand fing an zu kacken und innerhalb von wenigen Sekunden machten es ihr alle anderen nach. Die meisten blieben dazu nicht einmal stehen und sowohl unsere Anwesenheit als die ihrer Familienmitglieder scherte sie im wahrsten Sinne des Wortes einen Scheißdreck. Auffällig war jedoch, dass jede Kuh einen Komplett verschmierten Hintern hatte. Eine ordentliche Portion Klopapier oder wenigstens Klomoos hätte ihnen also nicht geschadet. In der Natur wäre ein derart verklebter Hintern bei einem Tier ein klares Zeichen dafür, dass es krank ist. In der Landwirtschaft scheint es jedoch normal zu sein. Nicht unbedingt ein gutes Zeichen für die Qualität unserer Nahrung. Und bei diesen Kühen handelte es sich noch um die wahrscheinlich gesündesten, die man überhaupt finden kann.

 
Ein Kalb beim Säugen.

Ein Kalb beim Säugen.

 

Der Nebel blieb den ganzen Tag nahezu konstant und klarte erst auf, als wir unser Tagesetappenziel Bénévent-l’Abbaye erreichten. Laut unserem Reiseführer sollte es hier eine Pilgerunterkunft geben, die man umsonst oder gegen eine Spende von drei Euro bewohnen durfte. Der Schlüssel dafür sollte in einer Apotheke oder bei einem Arzt zu finden sein, der sich hier im Ort um die Pilger kümmerte. So vielversprechend das auch klang, so enttäuschend war doch letztlich das Ergebnis. Die Apotheke war geschlossen und der Arzt vor einigen Jahren verstorben. Die Herberge gab es nicht mehr. Eine Frau in der kleinen Bäckerei empfahl mir, mich an eine andere Pilgerherberge zu wenden, die am Ende der Straße zu finden sei.

Die Herberge war leicht zu finden und anders als bei den meisten Häusern gab es sogar eine Klingel. Nachdem ich sie gedrückt hatte, passierte längere Zeit erst einmal gar nichts. Dann gab es ein Knacken in der Leitung und Geräusche waren zu hören. ‚Geräusche’ ist da vielleicht nicht ganz das richtige Wort. Ich hörte ein stöhnen, das eindeutig von einer weiblichen Person verursacht wurde. Es war nicht die Art von Stöhnen, das man von sich gibt, wenn man etwas schweres hebt, oder wenn man einen Berg erklommen hat. Auch kein sorgenvolles Stöhnen oder eines dass man von Menschen hört, die aus irgendeinem Grund sehr enttäuscht sind. Es war vielmehr ein lustvoller Laut den man in Momenten höchster Leidenschaft ausstößt. (Ihr wisst schon was ich meine!) Einige Sekunden später wurde das Stöhnen von einer Männerstimme übertönt, die mich fragte, was ich denn wolle. Ich erklärte mein Anliegen sachgemäß und bekam daraufhin folgende vielsagende Antwort: „Ok, gibt mir eine Minute! Ich komme gleich!“

 
Der Dorfplatz von Bénévent-l’Abbaye

Der Dorfplatz von Bénévent-l’Abbaye

 

‚Kein Thema!’ sagte ich, ‚so viel Zeit muss sein! Ich warte hier solange!’

Es war mit etwas unangenehm, den Mann beim Sex gestört zu haben, aber es hatte ja leider nicht an der Klingel gestanden und niemand hatte einen Hut oder eine Krawatte an die Tür gehängt.

Es dauerte wirklich nur eine Minute, dann öffnete der Mann die Tür. Er bat mich herein und bot mir ein Zimmer an. Als ich jedoch noch einmal wiederholte, dass wir kein Geld hatten, lehnte er mit Bedauern ab.

„Ich muss mit der Herberge mein Geld verdienen, deswegen kann ich das nicht machen!“ sagte er traurig.

 
Kirchenvorplatz von Bénévent-l’Abbaye

Kirchenvorplatz von Bénévent-l’Abbaye

 

„Kein Problem!“ antwortete ich, dass kann ich gut verstehen. Die Idee, ihm anzubieten, dass er uns auch hätte sponsern können, kam mir leider erst viel später. Durch Werbung auf unserem Blog und in späteren Büchern, hätten wir ihm vielleicht sogar mehr geholfen, als mit den 5€, die er als ermäßigte Gebühr für Pilger verlangte. Andererseits hätte ich dann die Geschichte über unsere Begegnung vielleicht nicht so offen schreiben können. Und falls ihr als Pilger oder als Urlauber nach Bénévent-l’Abbaye kommt, dann kann ich die Pilgerherberge dort trotzdem sehr empfehlen. Es gibt nur eine, also könnt ihr nichts falsch machen. Die Zimmer sind schön und sauber und der Besitzer ist sehr freundlich und äußerst potent.

 
Der Altar der Kirche

Der Altar der Kirche.

 

Für uns bedeutete seine Absage jedoch, dass wir unseren Füßen nun noch einmal weitere 5km zumuten mussten. Vor allem für Heikos Füße war das eine wirkliche Zumutung, denn seit einigen Tagen hat er immer stärkere Schmerzen im Fußballen, die durch seinen Hallux-Valgus verursacht werden. Zumindest glauben wir, dass das der Grund ist, obwohl man sagen muss, dass er den Hallux-Valgus schon immer hat und bislang war er ja auch nie ein Problem. Im Moment aber scheint es, als würden unsere Körper wieder einmal aus voller Kraft entgiften und dabei alle alten Schmerzen, Verspannungen und Gifteinlagerungen nach außen pressen. Meinen Muskeln geht es im Moment zwar relativ gut, aber dafür jucken meine Hände, als hätte ich in ein Wespennest gegriffen und zu Applaudieren begonnen. Doch so unangenehm die immer wieder auftauchenden kleinen Blessuren auch sind, es fühlt sich doch stets nach einem Prozess der Heilung an, der sich ganz langsam mit jedem gewanderten Schritt ausdehnt.

 
Die Kirche wird hier gut bewacht.

Die Kirche wird hier gut bewacht.

 

In Mourioux-Vieilleville, sah es zunächst auch nicht viel besser aus. Es war ein kleines Dorf, das nahezu unbewohnt wirkte. Wir trafen zwei ältere Damen, die wir um Hilfe baten und nachdem sie alle Ideen durchgegangen waren, holten sie die Bürgermeisterin hinzu. Diese stellte sich jedoch als nicht besonders Hilfreich heraus und beschränkte ihren Beitrag zur Gesamtsituation darauf, grimmig dreinzuschauen, mit den Schultern zu zucken und den Kopf zu schütteln. Schließlich reichte es der Dame mit dem Hut und dem Wanderstab und sie unterbrach das Gespräch um uns mit zu sich nach hause zu nehmen. Dort bekamen wir ein Gästezimmer, einen Arbeitsplatz vor dem Kamin und ein Abendessen. Zur Feier des Tages lud sie Heiko noch auf ein Kickertournier ein, dass sie knapp gewann.

 
Unsere Gastgeber für diesen Abend.

Unsere Gastgeber für diesen Abend.

 

Spruch des Tages: Schlagfertigkeit ist etwas, worauf man erst 24 Stunden später kommt. (Mark Twain)

Tagesetappe: 26 km

Gesamtstrecke: 1523,97 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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