Nahrungsreserven

von Franz Bujor
15.03.2014 03:10 Uhr

Unsere Pension bestand aus einem kleinen, gemütlichen Holzhäuschen im Garten des Hotels. Ein Abendessen war in der Unterbringung nicht enthalten und da wir auch sonst relativ abgebrannt waren, was die Nahrung betraf, machten wir uns auf zu einem kleinen Beutezug. Bäckereien, Supermärkte, Schlachter oder Tante-Emma-Läden gab es in diesem Ort genauso wenig wie Strände, Flughäfen oder Eiskunsthallen. Also mussten wir uns an die Privathaushalte wenden und das war äußerst lehrreich. Die ersten Menschen bei denen wir klingelten, behaupteten kein einziges Wort von dem zu verstehen was wir sagten. Hätte mich überhaupt niemand verstanden, dann hätte ich daraus geschlossen, dass ich dringend an meinem Französisch feilen muss. Das ist auch richtig, mein Französisch ist noch immer unter aller Sau, aber diesen einen Satz habe ich auswendig gelernt und bereits mehr als hundert Menschen haben ihn ohne Probleme verstanden. Da ist es doch eher unwahrscheinlich, dass er bei den anderen plötzlich so unverständlich ist. Auch von der Körpersprache her, zeigten uns die Menschen deutlich, dass sie uns gegenüber ablehnend eingestellt waren. Warum aber trauten sie sich nicht, offen zu sagen, dass sie uns nichts geben wollten? Andere Hausbewohner erfanden andere Geschichten um uns abzulehnen, ohne uns eine direkte Absage zu erteilen. Ein Mann beispielsweise erzählte uns, dass er aufgrund einer Krebserkrankung weder Brot noch Obst essen könne und daher nichts davon im Haus habe. Die Sache mit der Krebserkrankung stimmte höchstwahrscheinlich, aber warum sollte er deswegen keine Grundnahrungsmittel mehr zu sich nehmen können? Nachdem wir uns von ihm verabschiedet hatten, dachten wir noch eine Weile über diese Begegnung nach. Auf der psychischen Ebene entsteht Krebs durch eine innere Zerfressenheit, also daraus, dass das Herz etwas ganz anderes will, als das, was der Mensch in seinem Leben umsetzt. Er ist das letzte große Hinweisschild, dass einem mitteilt, dass man sich auf dem Holzweg befindet und dass es Zeit ist, seinem wahren Lebensweg zu folgen. So wie der Mann auf uns gewirkt hat, war er nicht nur uns, sondern auch dem Leben an sich gegenüber ablehnend und wahrscheinlich gab es viele harte Kämpfe, die er in seinem Inneren mit sich selbst ausfechten musste. Man konnte sich also recht gut vorstellen, warum gerade er den Krebs bekommen hatte. Wir wünschten ihm in seiner Abwesenheit alles gute und dass er seinen Weg und seine Heilung finden würde.

Die Hauskatze unseres Hotels.

Die Hauskatze unseres Hotels.

Bei unserer Tour durch das kleine Dorf gab es insgesamt nur drei Häuser, bei denen wir etwas bekamen. Im ersten wohnte ein altes Pärchen, das gerade selbst dabei war, ein Abendessen zuzubereiten. Von ihnen bekamen wir zwei Apfelsinen. Die zweite war eine junge Frau mit einem riesigen, kläffenden Hund und zwei Katzen, die in einem heruntergekommenen kleinen Haus lebte. Sie wirkte, als habe sie selbst gerade genug zum Leben, schenkte aber aus vollem Herzen und gab uns sogar noch zwei Messer und zwei Löffel dazu. Als wir das Besteck in der Tüte bemerkten, legten wir es ihr wieder vor die Tür, da wir es ja nicht benötigten.

Bei der dritten Tür sprang uns als aller erstes ein kleiner Hund entgegen, der wild um unsere Füße herumtollte. Dann kamen zwei kleine Mädchen, die neugierig um die Ecke schauten und uns freudig zuwinkten. Schließlich kam die Mutter und nachdem wir ihren Hund beruhigt hatten, gab auch sie uns eine kleine Tüte mit zutaten für ein Abendessen. Damit waren wir für Heikos Geburtstagsessen gut ausgestattet.

Auffällig an unserer Bettelaktion war vor allem aber eines: Je lebendiger die Haushalte und die Menschen waren, desto großzügiger waren sie auch. Dabei spielte es keine Rolle, ob sie viel hatten oder nicht. Wenn die Menschen jedoch frustriert oder unzufrieden mit sich selbst oder ihrem Leben waren, wenn sie innerlich resigniert hatten, dann gaben sie nichts. In fast allen Fällen konnte man bereits im ersten Moment sagen, ob der Gegenüber etwas geben würde oder nicht. Natürlich hat jeder das Recht „Nein“ zu sagen und wenn es ihm schwer fällt ist es auch vollkommen ok, wenn er eine Ausrede erfindet. Aber es ist beeindruckend zu sehen, wie stark die Unterschiede bei den Menschen sind. Wieder einmal zeigt sich, wie viel Wahrheit in dem Satz „Geben ist bekommen steht“ Die Menschen, die uns beschenkten, sahen sich selbst als reich an, während die anderen das Gefühl hatten, selbst nicht genug zu haben, um uns etwas geben zu können. Dabei war es bei beiden egal, ob sie objektiv betrachtet viel oder wenig besaßen. Denn so etwas wie einen Apfel, eine Orange oder ein halbes Baguette für 50 Cent, war rein praktisch gesehen für niemanden ein großer Verlust.

Sie sieht wild aus, ist aber eine ganz Liebe.

Sie sieht wild aus, ist aber eine ganz Liebe.

Nach unserem Geburtstagsessen im Hotel ließen wir den Tag mit einem Kinoabend ausklingen. Auf dem Laptop schauten wir uns erst Free Birds und dann einen uralten James Bond film an. Der erste, war ein Animationsfilm über sprechende Truthähne, die versuchen Thanksgiving zu verhindern. Er war lustig und nicht besonders gehaltvoll. Spannend war jedoch, dass es dabei um einen wilden Truthahnstamm und Truthähne auf einer Farm ging. Während die wilden, geniale Köpfe waren, die den Jägern immer wieder ein Schnippchen schlugen, waren die Vögel in Gefangenschaft träge und faul geworden. Sie konzentrierten sich nur noch auf ihr Fressen und liefen alle in die gleiche Richtung, die ihnen vorgegeben wurde. Der Bauer, der ihnen Mais gab, wurde zu ihrem Gott, den sie anbeteten und von dem sie sich ohne zu zögern töten ließen. Ganz schön viel Symbolik für einen lustigen, animierten Kinderfilm...

Heute wanderten wir auf Crozant zu, ein kleiner Ort am Rande eines Canyons, der wieder direkt auf dem Jakobsweg liegt. Nachdem wir die letzten vier Tage neben dem Weg gewandert waren, fühlte sich die Rückkehr auf den guten alten Pilgerpfad fast wie ein nachhause kommen an. Es war schon komisch, da lief man nun durch schöne Orte und schöne Gegenden und war nur 20km vom Jakobsweg entfernt und doch kam man sich irgendwie verloren vor. Egal zu was für einem Hype das Pilgern vielleicht auch verkommen sein mag, die vielen Wanderer, die sich mit einer positiven Absicht auf den Weg machten, hatten etwas verändert. Man kann es nicht beschreiben, es ist mehr ein Gefühl. So als ob es eine Art Energie gibt, die die Wanderer mitgebracht und weitergetragen haben, die dazu führt, dass man sich aufgehoben fühlt. Wenn doch auch der Lebensweg immer so einfach zu spüren wäre, wie dieser Wanderweg!

Das Zentrum von Crozant.

Das Zentrum von Crozant.

Als wir Crozant dann jedoch schließlich erreichten, war unsere Sehnsucht nach dem Jakobsweg sofort wieder vergessen. Der Ort war zwar nicht hässlich, aber bei weitem auch nicht so schön, wie wir ihn uns vorgestellt hatten. Dafür aber war er unglaublich touristisch und bereits beim Passieren des Ortsschildes war eigentlich klar, dass wir hier auf keinen Fall einen Schlafplatz finden würden. Wir versuchten es trotzdem und unser Gefühl wurde nach nur wenigen Minuten zur Gewissheit. Die Frau in der Touristeninformation war so abweisend wie man nur sein konnte. „Nein! Hier gibt es nichts! Auch keine Säle oder Veranstaltungsräume und schon gar nicht für umsonst!“ Das Schild mit Multifunktionshalle direkt vor ihrer Tür war ihr offenbar entgangen und anders als all ihre Kollegen in anderen Städten machte sie sich auch nicht die Mühe irgendwo nachzufragen. Immerhin war die Antwort klar und deutlich gewesen und hatte nicht unnötig Zeit gekostet. Anders war es mit einer Oma in einem Gemischtwarenladen, die ich um etwas zu Essen bitten wollte. Sie trieb mich fast in den Wahnsinn.

Die Kirche von Crozant.

Die Kirche von Crozant.

„Entschuldigung, ich habe eine Frage“, begann ich das Gespräch. „Wir sind Pilger, die...“

„Pilger!“ rief sie, „dann suchen sie einen Schlafplatz! Da fragen sie am besten im Rathaus bei der Touristeninformation! Das ist einfach hier die Straße hinunter!“

„Ja!“ sagte ich, „Ich weiß, da war ich schon, aber die konnten mir nicht helfen! Ich wollte eigentlich auch etwas anderes fragen. Wir sind nämlich auf dem Weg nach Santiago um...“

„Santiago!“ unterbrach sie mich sofort, als sie ihr Stichwort hörte, „der Weg nach Santiago führt hier entlang, einfach die Straße herunter!“

„Ja!“ sagte ich, „Ich weiß, aber das wollte ich eigentlich auch nicht fragen! Es geht darum, dass wir wie Bettelmönche reisen und...“

„Mönche!“ fuhr sie dazwischen, „nein Mönche gibt es hier nicht! Auch keine Pfarrer oder sonst jemanden. Nur die Kirche, aber die ist nicht offen!“

Blick über die Felder.

Blick über die Felder.

Langsam machte sie mich kirre, mit ihrem dazwischengefunkte. Wenn sie mich nur für 30 Sekunden ausreden ließ, wäre ich bereits die mal fertig und hätte auch längst eine Antwort haben können, die mir half. Es war wieder einmal das alte Thema mit freundlich aber nicht hilfreich sein. Um meine Situation komplett zu verstehen, müsst ihr wissen, dass ich das Gespräch für den Blog deutlich gekürzt habe. Zu jeder Antwort kamen noch zirka 5 Minuten an weiteren Erklärungen auf Französisch hinzu, die ich nicht verstand und die ich irgendwann auch nicht mehr verstehen wollte. Als ich es schließlich doch schaffte, bis zu dem Teil mit der Bitte um Nahrung zu kommen, antwortete sie hingegen ungewöhnlich knapp: „Nein, da kann ich dir nicht helfen! Aber wenn du Informationen über den Weg brauchst, dann....“

Diesmal war ich es, der sie unterbrach: „Vielen Dank, aber ich komme zurecht! Auf Wiedersehen!“

Damit verließ ich den Laden und war froh, wieder auf der Straße zu stehen.

Weiter geht es am Fluss entlang.

Weiter geht es am Fluss entlang.

Da Crozant nicht unser Ort für die Nacht werden wollte, zogen wir weiter am Fluss entlang nach Süden. Es dauerte noch etwa sieben Kilometer, bis wir den nächsten Ort erreichten. Kurz zuvor, kamen wir an einem Fischteich und einer Wiese mit wunderschön blühenden Obstbäumen vorbei. Ja, es stand ein Schild daran, dass man sie nicht betreten dürfe, weil es sich um Privateigentum handelte, aber Heikos Fotografenherz konnte dem Anblick einfach nicht widerstehen. Außerdem war es eine einfache Wiese und es gab nicht einmal einen Zaun. Wir sattelten ab und Heiko machte sich mit der Kamera bewaffnet auf den Weg zu den Bäumen. Wenig später kamen wir an einem Bauern und einer Bäuerin vorbei, bei denen es sich offensichtlich um die Besitzer des Grundstückes handelte. Wir grüßten freundlich und die Frau grüßte ebenso freundlich zurück. Der Mann jedoch sah uns an, als wollte er uns mit seinem Blick vergiften und fing wild zu Schimpfen und zu Fluchen an. Dabei machte er immer wieder Gesten, als würde er etwas Fotografieren. Einmal kam er sogar mit seiner Unkrauthacke auf uns zu, besann sich dann aber wieder eines Besseren. Wir erklärten ihm, dass wir kein Französisch sprachen und verabschiedeten uns. Es war eigentlich eine unbedeutende Situation aber sie beschäftigte uns noch eine ganze Weile. Der Mann hatte sich über uns aufgeregt, weil wir seinen Besitz betreten hatten. Wir hatten weiter nichts getan. Wir haben weder etwas beschädigt, noch etwas mitgenommen oder etwas verbraucht. Wir waren über eine Wiese gegangen und hatten ein Foto von einem schönen Baum gemacht. Genauso gut hätte der Mann sich ebenso über den Baum freuen können. Er hätte sich auch darüber freuen können, dass er bewundert wird. Doch stattdessen hat er nun wahrscheinlich den ganzen Abend ein schlechtes Gefühl und Wut im Bauch. Wieso machten wir Menschen uns das Leben so schwer. Es ist ja nicht so, als hätten wir in unserem Leben nicht schon oft genug das Selbe getan. Doch wem half diese Wut? Sie führte nur zur  Unzufriedenheit und schließlich zur Krankheit. Und warum? Weil er das Gefühl hatte, Herr über eine Wiese zu sein und damit das Recht zu haben, sie als einziger genießen zu dürfen. Von Milliarden von Insekten, hunderten von Vögeln und dutzenden von Säugetieren einmal abgesehen. Hätte er nicht viel mehr davon, wenn er das Leben und damit auch andere Menschen in sein kleines Paradies einladen würde, anstatt zu versuchen, jeden auszusperren und dann alleine darin zu verbittern?

Schöne Forsythie

Fotos von diesem schönen Platz zu machen, war nicht so leicht.

In Chapelle-Baloue sah es zunächst auch nicht besser aus, was den Schlafplatz anbelangt. Es gab nur ein einziges Café mit Gästezimmern und die Besitzerin wies uns mit der Ausrede ab, die Zimmer seien bereits durch andere Pilger belegt. Dreister und unnötiger hätte sie kaum lügen können. Ein einfaches „Sorry, aber ich muss Geld verdienen!“ hätte es auch getan. Ansonsten war das Dorf relativ unbewohnt und damit gab es auch nur wenige Möglichkeiten um zu fragen. Schließlich entdeckten wir zwei junge Menschen, die in einem Garten arbeiteten. Der Mann war Holländer und sprach sogar fließend Deutsch. Nach einiger Überlegung boten sie uns an, in dem Haus zu schlafen, dass sie gerade renovierten. Es gab noch keine sanitären Einrichtungen und auch keine Küche, aber wir hatten ein Dach über dem Kopf und einen Kamin um zu heizen. Das klang nach einer guten Alternative zu weiteren 7 Kilometern Fußmarsch in ein Dorf, in dem eine Übernachtungsmöglichkeit genauso ungewiss war wie überall sonst.

Spruch des Tages: Gut gemeint ist das Gegenteil von Gut

Tagesetappe: 25 km

Gesamtstrecke: 1480,97 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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