‚Pilger ärgern’ für Anfänger

von Franz Bujor
27.03.2014 20:41 Uhr

Kurz nachdem wir das gemeinsame Schokoladen-Trinken mit unserer Gastgeberin beendet hatten, erzählte sie uns, dass sie für zwei Stunden wegmüsse, um ihren Mann abzuholen. Wir könnten aber einfach im Wohnzimmer sitzen bleiben und an unseren Berichten arbeiten. Falls wir das Telefon benutzen wollten, wäre auch das kein Problem und wenn wir Hunger hätten, stünde in der Küche etwas für uns bereit. Es war einfach nicht fassbar, wie unterschiedlich die Menschen sind. An einem Tag bittet man vierzig Leute um einen Platz in der Garage und wird behandelt wie ein aussätziger Massenmörder mit einer hoch ansteckenden, tödlichen Krankheit und am nächsten Tag wird man eingeladen wie ein Ehrengast und bekommt sofort das ganze Haus anvertraut.

„Für den Fall, dass ein Einbrecher kommt, lasse ich euch unseren Wachhund als Schutz da!“ scherzte sie zum Abschied. Der „Wachhund“ war ein kleines, niedliches Wesen, das permanent um uns herumwuselte und nicht mal ganz die Größe der Katze hatte.

Dass sie uns das Telefon angeboten hatte, war wieder einmal eine der besonderen Fügungen, die genau dann kamen, wenn wir sie brauchten. Denn genau an diesem Tag hatten wir eine Nachricht von einem Radiosender aus Halle bekommen. Sie fragten, ob wir zufällig ein Festnetztelefon in greifbarer Nähe hätten und ihnen für ein Interview zur Verfügung stünden. Beides war nun der Fall und so gaben wir unser zweites Weltreiseinterview in dieser Woche. Wenn wir den Bericht bekommen, stellen wir ihn natürlich ebenfalls ein.

 
Unsere Gastgeber

Unsere Gastgeber.

 

Der Abend entwickelte sich zu einer regelrechten Party. Unsere Gastgeberin wurde gerade zur stellvertretenden Bürgermeisterin gewählt und zu diesem Anlass kamen der Bürgermeister und seine Frau zu besuchen. Wir aßen alle gemeinsam und es gab selten Situationen, in denen wir so viel Spaß hatten, ohne eine gemeinsame Sprache zu sprechen. Alles, was wir sagen konnten, waren einzelne Worte, die lediglich durch Gesten und Pantomime in einen Zusammenhang gebracht wurden und trotzdem herrschte eine ausgelassene, lockere und fröhliche Stimmung. Sogar der Hund und die Katze waren begeistert und der kleine Wirbelwind nutzte die eine oder andere Gelegenheit, um vom Schoß aus einige Leckereien vom Teller zu schlecken. Verköstigt wurden wir mit Avocado, gebratener Ente, Bratkartoffeln, Salat aus dem eigenen Garten und einem selbstgebackenen Apfelkuchen von der Frau des Bürgermeisters. Allerdings mussten wir beim Essen eine unserer Grundprinzipien brechen, da wir genötigt wurden Alkohol zu trinken. Als Apparativ gab es einen Apfel-Cidre mit 2 %, der hier einfach nicht als alkoholisches Getränk angesehen werden wollte.

 
Kirche von La Coquille

Blick durch die Kirche.

 

Heute führte uns der Jakobsweg wieder einmal ordentlich an der Nase herum. Nach rund zehn Kilometern Wanderung durch Bachläufe, über Geröllhalden mit kindskopfgroßen Steinen, durch Schlammwüsten und durch anderes unwegsames Gelände kamen wir am Ende wieder auf eine große Hauptstraße. Der Wegweiser nach hinten zeigte an, dass wir auf gerader Strecke gerade einmal vier Kilometer zurückgelegt hatten. Ob man hier wohl einen Grundkurs mit dem Thema „Pilger ärgern für Anfänger“ besuchen musste, bevor man dazu befugt war, die Muschelwegweiser aufzustellen? Als wir so durch den Schlamm stapften, stellten wir einige Regeln auf, die ein solcher Kurs seinen Schülern beibringen würde:

 
Wandern auf dem Jakobsweg

Der Jakobsweg hällt immer wieder Herausforderungen für uns parat.

 

Regel Nr. 1: Wenn du die Wahl zwischen einem Fluss und einem Weg hast, entscheide dich grundsätzlich für den Fluss.

Regel Nr. 2: Vermeide jeden ausgebauten Wanderweg und jede Straße, es sei denn, es handelt sich bei dieser Straße um eine Hauptverkehrsroute mit einer Frequentierung von mindestens 30 Fahrzeugen pro Minute.

Regel Nr. 3: Leite den Weg über jeden Hügel, über jeden Berg und jede Anhöhe, die du finden kannst. Nimm dafür notfalls auch einen Umweg in Kauf.

Regel Nr. 4: Wähle niemals die direkte Verbindung, zwischen zwei Punkten, wenn es auch einen Umweg gibt.

Regel Nr. 5: Bringe so viele Muschelwegweiser wie möglich an Wegstrecken an, die absolut eindeutig sind. Vermeide sie hingegen an Kreuzungen oder schwierigen Wegstellen.

Wenn es wirklich einen solchen Kurs gab, dann hat der Mensch, der diesen Streckenabschnitt geplant hat, auf jeden Fall mit Bravour bestanden.

„Verdammt noch mal!“, rief Heiko, als er gerade wieder mit einem Fuß in ein Wasserloch getreten war. „Ich weiß, wir haben gesagt, dass wir auf unserer Reise wieder in den Fluss kommen wollen, aber so war das eigentlich nicht gemeint!“

In Saint Astier machten wir dann eine längere Mittagspause auf dem Marktplatz. Es war noch immer nicht besonders gemütlich, aber zumindest schon mal trocken und etwas wärmer. An einem Käsestand fragte ich nach etwas Nahrung, doch der Mann wimmelte mich mit der Begründung ab, dass ich ihn bereits in Périgueux gefragt hatte und er mir schon dort nichts hatte geben wollen. Offensichtlich war er also noch immer der gleichen Meinung. Der Olivenverkäufer war hingegen großzügiger aufgelegt.

Die Kirche von Saint Astier

Die Kirche von Saint Astier

Wir setzten uns auf eine Bank und aßen etwas von den Vorräten, die wir noch von gestern hatten. Ein junger Mann und eine junge Frau kamen auf uns zu und leisteten uns Gesellschaft. Wir boten ihnen an mitzuessen, aber außer zwei Radieschen wollten sie nichts. Dafür schenkten sie uns noch einen Salat und zwei Äpfel, sowie etwas Kleingeld. Wieder waren es Leute, die selbst eigentlich fast nichts hatten.

Die Gegend, die wir im Moment durchwandern, ist berühmt für ihre vielen prähistorischen Funde. Es gibt eine Vielzahl an Höhlen mit Wandmalereien und viele steinzeitliche Ausgrabungen. Die einzigen Höhlen, die auf unserem Weg lagen, waren jedoch anderen Ursprungs. Sie wurden in den Kalksteinfelsen gegraben, um Kalk für die Felder zu gewinnen. Heute dienen Sie dem Militär als Waffenlager und sind mit dicken Betonwänden und Stacheldraht versiegelt.

Wie Maulwürfe haben sich die Menschen in die Felsen gegraben, um einen Rohstoff zu gewinnen, der die Übersäuerung auf den riesigen Monokultur-Feldern neutralisiert. Es war beeindruckend zu sehen, dass hier im außen nichts anderes passiert, als auch in unserem Inneren. Durch die vielen Giftstoffe in unserer Nahrung übersäuert unser Körper. Um das auszugleichen, entzieht er die Kalkbestandteile aus unseren Knochen, Zähnen und Gelenken. So kann der Körper länger am Leben gehalten werden, doch gleichzeitig schwächt er ständig seine Grundstruktur. Wir bekommen Gelenkprobleme, Rheuma, Karies, Bandscheibenvorfälle und ähnliche Verschleißerscheinungen. Der Erde geht es hier nicht anders. Je mehr Gifte wir auf den Feldern verteilen, desto mehr müssen wir ihre Grundstrukturen aushöhlen, um den Schaden wieder auszugleichen. Das gute alte Gesetz: Wie im Innen, so im Außen.

Saint Astier Innenstadt

Saint Astier Innenstadt

Wir beschlossen für den Rest des Tages den Jakobsweg, Jakobsweg sein zu lassen und uns unseren eigenen Weg zu suchen. Mit dieser Taktik kamen wir bedeutend besser voran. Doch nach einigen Kilometern stießen wir wieder auf die ersten Muschelwegweiser. „Wie kommt der denn hier her?“, fragte ich erstaunt, „Ich hätte gedacht, der verläuft ganz woanders?“

„Also entweder“, setzte Heiko zu einer Vermutung an, „er ist sogar noch verwirrender als wir bislang glaubten oder aber es gibt hier mehr als nur einen Weg. Dieser Verdacht begleitet mich schon seit ein paar Tagen. Anders kann ich es mir nicht erklären, dass wir immer wieder auf den Weg stoßen, egal, mit was für einer Ignoranz wir ihm auch begegnen. Vielleicht haben sie hier einfach überall Schilder angebracht!“

In  Neuvic machten wir uns dann wieder auf die Schlafplatzsuche. Eigentlich hatten wir gehofft, heute etwas früher anzukommen, um wieder einmal etwas Zeit für uns zu haben, doch daraus wurde nichts. Keine Ahnung, wo die vergangenen Stunden hin sind, aber plötzlich war es bereits wieder 18:00. Die Touristeninformation und das Rathaus brachten uns auch hier nicht weiter. Doch wie bereits zuvor hatten wir im Altenheim Glück. Nicht das man uns dort aufgenommen hätte, aber eine Mitarbeiterin beschloss nach kurzer erfolgloser Gruppendiskussion, uns einen Schlafplatz in ihrem Wohnzimmer anzubieten. Später erfuhren wir, dass sie bereits eine Gastschülerin aus der Schweiz bei sich aufgenommen hatte, die für ein Jahr bei ihr und ihren beiden Kindern lebte.

Spruch des Tages: Nichts, was man jemals hingebungsvoll leistet, ist vergebens getan. (Stefan Zweig)

Tagesetappe: 16 km

Gesamtstrecke: 1774,97 km

Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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