Sonnenschein und Spiegel

von Franz Bujor
23.02.2014 23:29 Uhr

Der Tag begrüßte uns als erstes mit einer Hiobsbotschaft. Das heißt eigentlich begrüßte und nicht der Tag so, sondern unser Blog. Wir hatten bereits gestern Abend versucht den neuen Tagesbericht mit den passenden Fotos einzustellen, aber auf irgendeinem Grund wollte es nicht klappen. Heute morgen funktionierte es noch immer nicht und so gingen wir der Sache einmal genauer auf den Grund. Es stellte sich heraus, dass unser Speicher nahezu erschöpft ist. Nach nur 50 Tagen! Die Dokumentation unserer Reise braucht also doch deutlich mehr Platz, als wir gedacht hatten. Bestürzt schauten wir auf die rot markierte Zahl neben der Angabe „Belegter Speicher“. Das ließ nur zwei Möglichkeiten zu. Entweder, wir können nicht mehr so viele Bilder einstellen und müssen einige von den alten löschen, oder aber wir brauchen neuen Speicher. Der aber ist nicht billig, vor allem nicht für jemanden, der ohne Geld reist. „Verdammt!“ sagte ich, „Ich wusste ja, dass das irgendwann kommen würde, aber ich hatte frühestens in einem halben Jahr damit gerechnet.“

Humbert, unser Gastgeber

Humbert, unser Gastgeber.

 

„Hoffen wir mal, dass es nicht so teuer wird und dass die Spenden und das Geld was wir geschenkt bekommen dafür ausreicht“, sagte Heiko, „sonst müssen wir uns echt was einfallen lassen.“

Fürs erste gelang es uns dann doch noch so viel Platz zu schaffen, dass wir einige Bilder hochladen konnten, doch wir es in den kommenden Tagen aussieht ist mehr als nur ungewiss.

Gestern hatte es noch so ausgesehen, als ob es nie wieder aufhören würde zu regnen. Heute strahlte die Sonne, als hätte sie nie etwas anderes getan. Es war ein richtig schöner Frühlingstag und wir genossen jeden einzelnen Sonnenstrahl. Fast den ganzen Nachmittag konnten wir sogar im T-Shirt wandern und wir bildeten uns ein, sogar schon ein bisschen braun geworden zu sein. Nachdem unser Fokus gestern eigentlich nur auf Ankommen ausgerichtet war, zelebrierten wir heute die Ruhe und die Entspannung. Wir wanderten langsam und machten an fast jedem sonnigen Platz mit einer Bank eine Pause. So konnte man es aushalten! Dies war wohl der größte Reichtum, den uns unser neuer Lebensstil im vergleich zum alten eingebracht hat: Zeit! Zeit um zu genießen und um die Natur mit all ihren Schätzen wahrzunehmen und zu erleben.

Unser Survivalmesser

Unser Survivalmesser

 

Doch noch immer war da diese eine hinterhältige Stimme in uns, die ununterbrochen versuchte, uns ein schlechtes Gewissen einzureden. „Faul seit ihr! Ich wollt nichts arbeiten und jetzt wollt ihr nicht einmal mehr wandern, sondern nur noch in der Sonne liegen und chillen! Das ist doch nicht in Ordnung! Ihr braucht eine richtige Aufgabe! Das Leben ist nun mal Stress! Nur wer sich selbst aufopfert ist auch etwas wert!“ Die und ähnliches warf uns unser Gewissen vor. Warum eigentlich? Warum war es nur so fest in uns verankert, dass das Leben hart sein muss? „Nur wenn du hart arbeitest wirst du Erfolg haben!“ Dieser Glaubenssatz steckt noch immer tief in uns. Und das obwohl uns die Erfahrung der letzten Jahre etwas ganz anderes gelehrt hat. Die Projekte in die wir die meiste Zeit investiert haben, waren nie diejenigen gewesen, die den größten Erfolg eingebracht hatten. Im Gegenteil, oft waren wir hinterher enttäuscht, während andere Projekte, die eigentlich eher aus einem Geistesblitz heraus entstanden waren, überraschend erfolgreich wurden.

Kirche von Accolay

Kirche von Accolay

Wir dachten noch einmal an unsere Gastgeber von letzter Nacht zurück. Sie waren ein glasklarer Spiegel gewesen, von denen wir sehr viel über dieses Thema hatten lernen können. Beide waren beruflich sehr erfolgreich und konnten sich daher alles leisten, was sie wollten. Er reiste von der Arbeit aus um die Welt und konnte viel erleben. Sie hatten eine Wohnung in Paris und eine Wochenendvilla mit eigenem Park und Swimmingpool in einer der schönsten Gegenden Frankreichs. Wenn wir die Firma weitergeführt und mit ihr alles erreicht hätten, was wir wollten, hätte unser Leben vielleicht auch so aussehen können. Träume und Ideen in diese Richtung hatten wir immer mal wieder gehabt. Es wäre also gut möglich gewesen, dass wir diesen Weg eingeschlagen hätten.

Doch obwohl wir von dem Anwesen und dem Leben der beiden Menschen beeindruckt waren, spürten wir doch deutlich, dass es nicht unser Weg gewesen wäre. Es war toll all dies zu besitzen, doch der Preis dafür war sehr hoch. Denn der Preis bestand in der Zeit, die wir hätten aufopfern müssen und die wir nun auf einer Parkbank in der Sonne verbringen konnten. Sich ein großes Anwesen zu leisten bedeutete in den meisten Fällen fünf Tage die Woche hart zu arbeiten und zwei Tage lang genießen zu können. Vorausgesetzt man hatte einen Gärtner, denn andernfalls musste man sich in den zwei verbliebenden Tagen um´s Rasenmähen kümmern. Bevor wir zu unserer Reise aufbrachen, haben wir einen Bericht über eine Familie gelesen, die mit 4 Kindern um die Welt reist. Der Vater wurde gefragt, ob er es denn nicht bedauere mit so wenig Geld und Komfort reisen zu müssen. Daraufhin antwortete er, dass er sehr gerne ab und zu in Luxusunterkünften schlafen würde. Doch wenn das bedeutete, dass er seine Lebenszeit deswegen für eine Arbeit opfern müsste, die ihm keinen Spaß mache, dann könne er gut darauf verzichten.

Auch die Biene freut sich über den Sonnenschein.

Auch die Biene freut sich über den Sonnenschein.

 

Gegen Mittag erreichten wir Arcy-sur-Cure, den Ort, den wir nach Angaben des Apothekers von gestern Nachmittag bereits vor rund 10km hätten erreichen müssen. Gegenüber der Kirche sollte es nach seinen Informationen eine kostenlose Übernachtungsmöglichkeit für Pilger geben. Ich klingelte an einer von fünf Türen, auf die seine Beschreibung zutraf und stand kurz darauf einer Frau gegenüber. Wir führten ein kurzes Gespräch auf Französisch, bei dem ich nicht mehr verstand, als dass es hier keinen Platz für uns gab. Und dann erzählte sie noch irgendetwas von einer Telefonnummer.

Das Tor zur Innenstadt von Cravant.

Das Tor zur Innenstadt von Cravant.

Ich verabschiedete mich und wir versuchten es bei den übrigen vier Häusern, von denen uns aber keiner öffnete. Schließlich kamen zwei Spaziergänger auf uns zu, die wir um Hilfe baten. Sie sprachen Englisch und erzählten uns, dass es hier eine Frau geben würde, die Pilger beherberge, bei der man sich aber hätte anmelden müssen. Er wollte mir das Haus zeigen und führte mich direkt zu der Dame zurück, mit der ich bereits gesprochen hatte. Da wir nun einen Dolmetscher hatten, klingelten wir noch einmal. Das Ergebnis blieb zwar das selbe, diesmal verstanden wir jedoch deutlich mehr. Die Frau nahm zwar für gewöhnlich Pilger auf, aber nur gegen Bezahlung und nur bei telefonischer Voranmeldung. Wir waren also in zweierlei Hinsicht durchgefallen. Kurz vor Vézeley begann ganz offensichtlich eine Hauptpilgerstrecke und mit ihr auch die Kommerzialisierung der Pilgerei. Dass die Frau Geld für die Unterbringung nahm war mehr als nur verständlich, wenn man davon ausging, dass hier im Sommer wahrscheinlich täglich mehrere Übernachtungskandidaten anfragten. Dies war es nicht, was uns an der Situation störte. Wir hatten gefragt, sie hatte „Nein“ gesagt, und damit war eigentlich alles geklärt. Doch nun begann der Dolmetscher damit, uns einen langen, schulmeisterlichen Vortrag darüber zu reisen, dass man heutzutage ohne Geld nicht reisen könne. Dass müssten wir schon einsehen! Als wir ihm erklären wollten, was die Philosophie hinter unserer Reise war und das wir so pilgerten, wie es die Mönche in den vergangenen Jahrhunderten getan hatten, würgte er uns ab. Wir haben das 20. Jahrhundert und nicht mehr das 18. Sagte er belehrend. Heute laufen die Dinge anders. Euer Projekt mag gut gemeint sein, aber es ist gefährlich! Denn ihr könntet die Menschen auf die Idee bringen, dass es möglich ist ohne Geld zu leben und dann machen sie es euch vielleicht nach! Wohin soll das führen? Viele könnten sich so einen kostenlosen Urlaub erschnorren, auch wenn sie keine spirituelle oder heilende Absicht hatten.

Die Kirche von Cravant

Die Kirche von Cravant

Auf der einen Seite hatte der Mann vollkommen Recht. Es war natürlich wichtig, dass die Gastfreundschaft der Menschen nicht ausgenutzt wurde und dass jeder, der etwas gibt, dafür auch etwas zurückbekommt. Auf der anderen Seite sagte er es aber mit einer solchen Verachtung und Herablassung, dass wir es kaum schafften höflich zu bleiben. Er schlug und vor, doch einfach nach Vézeley weiterzuwandern. Dort gäbe es ein Kloster mit Mönchen wo wir sicher unterkommen würden und es sei ja nur noch 20km entfernt. Um das Gespräch zu beenden befanden wir diese Idee als gut und waren froh, dass wir endlich gehen durften. Selbst wenn Vézeley wirklich nur die 20km entfernt gewesen wäre, die er geschätzt hatte, wäre es um diese Urzeit kaum noch zu schaffen gewesen. Zumindest nicht entspannt.

„Ich liebe es, wenn mir Menschen erklären, dass etwas unmöglich funktionieren kann, dass ich bereits seit 50 Tagen tue!“ sagte ich verärgert als der Mann weg war.

„Und ich liebe es, wenn ich von jemandem verurteilt werde, der nicht das geringste über mich weiß!“ ergänzte Heiko nicht minder aufgebracht.

Nach einer Weile fügte ich hinzu: „Weißt du, was mir gerade auffällt? Wir haben vorhin erst darüber gesprochen, dass wir ein schlechtes Gewissen haben, weil wir uns nicht mehr stressen, sondern das Leben genießen. Und schon kommt dieser Mann und wirft uns genau das vor. Er war wie die Personifizierung unserer eigenen Gedankenstimmen. Das ist doch auffällig, oder?“

Gleiche Kirche, andere Seite

Gleiche Kirche, andere Seite

So sehr wir die Sonne auch genossen, hilfreich bei einer Schlafplatzsuche war sie nicht. Egal wen wir fragten, niemand hatte einen Platz für uns und bei dem guten Wetter nahm uns natürlich auch niemand aus Mitleid auf. Warum auch? Auch für uns wirkte die Idee einfach unser Zelt aufzubauen nicht einmal so unattraktiv. Doch die Sonne würde irgendwann untergehen und dann kam eine sternenklare Nacht, für die einige Minusgrade angekündigt waren. Die Gegend in der wir uns befanden war eine der reichsten, durch die wir bislang gewandert waren und auch das war nicht allzu hilfreich. Es gab viele große Anwesen, doch die meisten von ihnen versuchten Fremde bereits durch große, rote Schilder mit der Aufschrift „Betreten Verboten – Privatgrundstück“ zu vertreiben, so dass wir uns meist nicht zu fragen trauten.

Schließlich fanden wir uns damit ab, dass wir zelten würden, doch auch dafür ergaben sich einige Probleme. Denn wir brauchten einen Platz, an dem wir das Zelt aufbauen konnten. Unser Wanderweg führte jedoch die ganze Zeit über an der Cure entlang. Einem Fluss, der durch die Regengüsse der letzten Wochen auf seine dreifache Größe angeschwollen war und fast die kompletten Wiesen in der Umgebung überflutet hatte. Oft fehlte nicht mehr als ein halber Meter, bis auch der Weg unpassierbar war. Hier das Zelt aufzubauen war also ein Spiel mit dem Teufel. Die Chancen standen nicht schlecht, dass es uns in der Nacht bis Nach Auxerre zurückspülte.

Unsere Unterkunft in Cravant

Eine Unterkunft in Cravant.

 

Wir versuchten es daher noch einmal bei den Häusern und baten um ein Zimmer, einen Platz in der Garage oder um einen Gartenplatz für unser Zelt.

„Ich glaube,“ sagte Heiko nach einem weiteren misslungenen Versuch, „du musst deine Taktik was das Ansprechen anbelangt hier ein wenig ändern. Du Fragst immer gleich, ob sie eine andere Sprache sprechen, das kommt glaub ich nicht so gut an. Frag sie doch erst auf Französisch und sag, dass du die Sprache nicht so gut beherrschst. Und dann frag sie, ob sie eine andere Sprache sprechen.“

In Sermizelles probierte ich die neue Taktik bei einem Mann aus, der mir die Tür geöffnet hatte. Ich erzählte alles auf Französisch. Das wir als Wandermönche ohne Geld reisten, das wir einen Schlafplatz suchten und dass wir vor 50 Tagen in Deutschland gestartet sind.

Die Cure in Frankreich

Die Cure in Frankreich.

 

„Du kommst aus Deutschland?“ fragte der Mann als ich geendet hatte. Ich nickte. „Ok, I´m from England!“ Ich musste lachen. Ich hatte mich tatsächlich rund 5 Minuten lang abgebrochen und der Mann hatte nichts davon verstanden, weil er Engländer war. Er bat mich einen Moment zu warten, damit er sich mit seiner Frau absprechen konnte. Dann lud er uns ein, hereinzukommen. Zu dem Haus gehörte eine Ferienwohnung für Gäste, die sie uns zur Verfügung stellten. Es war der absolute Hammer! Zwei Etagen, eine Küche, ein riesiges Badezimmer, ein Schlafzimmer und ein Wohnzimmer mit Sofas und Fernseher. Hierfür konnte man wirklich Geld verlangen, doch das taten die beiden nicht. Wir fragten, was sie nach Frankreich verschlagen hatte und die Antwort erstaunte uns nicht schlecht.  Sie waren Schriftsteller und hatten sich diesen Ort hier ausgesucht, weil er ruhig genug war um gut schreiben zu können. Die nächsten drei Jahre bleiben sie hier, dann ziehen sie dorthin, wo sie ihr Herz hintreibt. „Wir können arbeiten wo wir wollen! Also suchen wir uns immer Plätze aus, die uns gut gefallen,“ sagten sie. Das war ziemlich genau die Art wie auch wir arbeiteten. Nur mit kürzeren Aufenthalten und dafür mit mehr wandern.

Die Dauerpilger auf dem Weg durch Frankreich

Die Dauerpilger auf dem Weg durch Frankreich.

 

Spruch des Tages: Nichts ist so wertvoll wie Zeit.

Tagesetappe: 22 km Gesamtstrecke: 1140,37 km
Franz Bujor
Franz Bujor ist Wandermönch, Web-Nomade und Autor. Nach einem Studium in Kulturwissenschaften, bei dem er unter anderem bei einem Maya-Volk in Guatemala gelebt und in einem Kinderheim in Serbien gearbeitet hat, war er zunächst als Erlebnispädagoge und Wildnismentor tätig. 2014 ließ er sein bürgerliches Leben hinter sich und reist seither zu Fuß und ohne Geld um die Welt. Neben seinem eigenen Entwicklungsweg schreibt Franz besonders gerne über geschichtliche und gesellschaftliche Themen.

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