Tag 1034: Sesshaft oder Nomadisch?

von Heiko Gärtner
05.11.2016 19:46 Uhr

16.10.2016

Zu den Tagesrutinen unserer Gastgeberin gehörte auch, dass sie schon früh auf den Beinen war und dies bedeutete auch für uns, dass wir uns früher aus den Federn wuchten mussten, als wir es gewohnt waren. Dafür wurden wir allerdings mit einem gemeinsamen Frühstück belohnt, bevor wir uns auf die Weiterreise machten. Heidi betrat die Küche zunächst barfuß, womit die Gräfin jedoch ganz und gar nicht einverstanden war.

"Kind, du bekommst ja ganz kalte Füße!" rief sie und ließ kein Argument gelten. Die beiden Frauen einigten sich also darauf, dass Heidi noch einmal hinauf ging und sich Hausschuhe holte, nicht weil sie sie brauchte, sondern damit Anna-Bertha sich besser fühlte.

Wenig später verabschiedeten wir uns erst von Anna-Bertha und dann von Heidi, die mit ihrem kleinen Wohnbulli wieder zurück nach Neumarkt fuhr, wo wir uns in einigen Tagen wieder sehen würden.

Seit wir Deutschland erreicht hatten, hatten wir nur wenige Tage erlebt, an denen es so schön war wie heute. Die Straßen rückten immer weiter von uns weg, so dass wir echte Ruhe und Harmonie um uns herum hatten, die Sonne schien und der Weg führte uns mitten durch ausgedehnte Wälder. Diese Waldwege waren es gewesen, die uns früher immer Lust aufs Wandern gemacht hatten und die auch einen wichtigen Impuls zu unserem Beschluss für das Nomadenleben geliefert hatten. Niemals hätten wir früher gedacht, dass es davon in Europa nur so wenige gab. Jetzt genossen wir es aus vollem Herzen, im Schatten der Bäume zu wandern, die Sonne durch das Laubdach blitzen zu sehen, den Vögeln zuzuhören, die hier noch sangen und nicht schrien und im Unterholz immer wieder neue Pilze zu entdecken. Außer uns waren um diese Zeit lediglich ein paar Reiterinnen im Wald unterwegs, die eine Art Pferderalley machten. An einer Kreuzung kamen wir an einer Zwischenstation vorbei, an der die Reiter mit belegten Brötchen und Getränken versorgt wurden.

"Oh, bekommt man hier auch etwas, wenn man selbst das Pferd ist?" fragte ich scherzhaft in Anspielung auf unsere Anhänger. Einige Reiterinnen mussten schmunzeln, aber die meisten fanden es offenbar nicht so witzig.

Rund zwei Stunden später trafen wir das zweite Mal ein altbekanntes Gesicht wieder. Wir hatten uns mit Benjamin, einem Freund aus unseren Zeiten als Wildnislehrer verabredet, um uns irgendwo entlang des Weges zu treffen und ein Picknick zu machen und auch dafür fanden wir einen schönen ruhigen Platz an einem Waldrand.

Benjamins eigener Lebensweg war spannenderweise gleichzeitig unserem sehr ähnlich und trotzdem etwas komplett anderes. So wie in uns die Herzen eines Nomaden schlagen, ist Benjamin durch und durch ein Platzhüter. Es heißt, dass es zwei Wege gibt, um die Geheimnisse des Lebens zu entdecken und zu verstehen. Der eine ist es, die ganze Welt zu bereisen, überall neue Eindrücke aufzunehmen und diese miteinander zu vernetzen, so dass sich ein Gesamtbild ergibt. Die andere besteht darin, an einem einzigen Platz zu bleiben und diesen so intensiv kennenzulernen, dass man in ihm die ganze Welt wiederfindet. Heikos und mein Weg, war zweifelsfrei der erste und Benjamins definitiv der zweite. Das Ziel, auf das wir dabei zugingen und die Art, wie wir das Leben betrateten, waren jedoch in allen drei Fällen die gleichen.

Nach rund vier Jahren, in denen wir uns nicht gesehen und gesprochen haben, gab es einiges zu bereden. Auch Benjamin stand gerade an einem wichtigen Punkt in seinem Leben, an denen er die Weichen für die Zukunft stellte. Sein großes Projekt war es, einen Platz zu finden, an dem er als Heiler und Selbstversorger leben konnte und auch sein Weg war es, sein Leben ohne Geld zu gestalten.

Wie gestern zeigte sich auch heute bei der Schlafplatzsuche wieder einmal, dass wir das bekamen was wir brauchten und nicht das, was wir wollten. Gewünscht hatte ich mir, dass wir nach dem gemeinsamen Eintreffen im Ort möglichst schnell und unkompliziert einen Platz in einem Gemeinderaum bekommen würden. Doch wie sich herausstellte, war die gesamte Kirchengemeinde mit Vorstand, Pfarrer, Köster und allen anderen Konsorten kurzerhand nach Rom ausgewandert und diese Woche daher nicht zu erreichen. Bei der evangelischen Gemeinde sah es nicht besser aus und das Rathaus hatte geschlossen. Ich brauchte daher fast eine Stunde um schließlich ein Hotel zu finden, in dem wir aufgenommen wurden. Dies war jedoch genau die Zeit, die Benjamin brauchte, um ganz in Ruhe mit Heiko über seine Erfahrungen mit dem Tinnitus zu sprechen, der bei ihm vor einigen Monaten wieder nachgelassen hatte. Als wir dann gemeinsam am Hotel Café Rathaus ankamen und dort unser Zimmer bezogen, wurde Benjamin zum ersten Mal so richtig bewusst, wie wir unterwegs waren und er fasste Vertrauen, dass auch für ihn ein Leben ohne Geld nicht bedeuten musste, dass er ein entbehrungsreiches Leben führen musste. Für uns hätte ein Raum im Pfarrhaus an diesem Abend vollkommen ausgereicht, aber es war ein Geschenk, durch das auch Benjamin erleben konnte, was alles möglich war.

Bad Abbach ist ein Kurort, der vor allem für seine Therme und sein Saunaland bekannt ist. Wo wir schon einmal hier waren, wollten wir dies nutzen und seit langem mal wieder in die Sauna gehen. Zuvor aber bekamen wir noch eine Kostprobe von Benjamins Fähigkeiten als Platzhüter. Bereits am Nachmittag hatte er ein besonderes Picknick mitgebracht, durch das unser Platz am Waldrand noch einmal auf eine ganz andere Art zu einem Zuhause wurde. Nun verwandelte er einen Parkplatz mitten in der Stadt in einen heimeligen und gemütlichen Rastplatz. Rechts von uns befand sich die Hauptstraße hinter einer Schallschutzwand und links waren mehrere große Wohnblocks, in denen zum Teil die Sozialwohnungen der Stadt untergebracht waren. Dazwischen lag ein staubiger Parkplatz, den man alles andere als schön nennen konnte. Und doch schaffte es Benjamin mit nur wenigen Handgriffen, diesen Platz in ein Zuhause mit einer wunderbaren Stimmung zu verwandeln. Er hatte seinen kleinen Bulli hier geparkt, aus dem er nun alles zauberte, was man für einen stimmungsvollen Abend brauchte. Erst kamen zwei Campingstühle, dann zwei Decken, dann ein kleiner Gaskocher mit einer selbst gemachten Kürbissuppe darauf. Hinter den Häusern ging langsam die Sonne unter und ihr Licht tauchte die Stadt in ein geheimnisvolles Orange. Ich weiß nicht warum, aber hier in der Kälte auf dem Parkplatz zu sitzen, eingehüllt in eine warme Decke mit einer heißen Kürbissuppe auf dem Schoß, verursachte noch einmal ein völlig neues Gefühl von Freiheit und Gelassenheit. Ich spürte eine tiefe Stille und Ausgeglichenheit in mir, die ich schon lange nicht mehr gespürt hatte und den beiden anderen ging es sehr ähnlich. Wir saßen hier, bis der letzte Sonnenstrahl verschwunden war. Dann brachen wir auf, um in die Therme zu gehen.

Zu unserer Überraschung schloss diese jedoch bereits um 20:00 Uhr. Für ein international bekanntes Thermalbad war dies unerwartet früh und da es bereits 19:00 Uhr war, lohnte sich der Besuch nicht mehr wirklich. Ein klein wenig enttäuscht drehten wir noch einmal eine Runde durch die Stadt. Dabei bekamen wir von einem italienischen Restaurant ein Abendessen geschenkt, fast so als wäre dies eine Wiedergutmachung für unsere verpasste Sauna. Die Restaurantbesitzerin stammte aus Venedig und war so begeistert davon, dass jemand in der heutigen Zeit noch eine Glaubens- und Selbstfindungsreise machte, dass sie uns wie Staatsgäste empfing. Mit dem guten Essen kehrten wir dann in unser Hotelzimmer zurück und ließen den Abend hier ganz in Ruhe ausklingen, bis es für Benjamin schließlich an der Zeit war, wieder nach Hause zu fahren.

Spruch des Tages: Es gibt zwei Wege um das Universum verstehen zu lernen. Der eine führt einmal um die Welt, der andere besteht darin, sich einen einzigen Platz bis ins letzte Detail anzuschauen. Leider kann man nicht beides machen.

Höhenmeter: 360 m

Tagesetappe: 21 km

Gesamtstrecke: 18.888,27 km

Wetter: Überwiegend sonnig, nachts Temperaturen von etwas unter 0°C.

Etappenziel: Versammlungszimmer im Pfarramt, 91728 Gnotzheim, Deutschland

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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