Tag 1036: Endspurt zur Currywurst

von Heiko Gärtner
06.11.2016 00:27 Uhr

18.10.2016

Bevor wir am Morgen aufbrachen bekamen wir eine Segnung vom Pfarrer. Als er unsere Köpfe berührte, begannen seine Hände zu glühen und man spürte deutlich, wie ein Energiestrom entstand. es war das erste Mal, dass ich so etwas bei einer segnung gespürt hatte und auch Heiko war begeistert von der Kraft, die von der Segnung des Mannes ausging.

"Du hast da wirklich ein Talent!" meinte er, "du solltest das auf jeden Fall ausbauen!"

Heilung durch die Berührung mit den Händen zu schenken, in dem man auf diese Weise den Energiefluss im anderen ins Gleichgewicht bringt, gibt es in nahezu allen Kulturen. Wie sehr diese Methode auch mit dem Christentum verknüpft ist, war mir bislang jedoch nie so bewusst gewesen. Klar hatte auch Jesus mit den Händen geheilt, doch ansonsten distanzierten sich die meisten Pfarrer und Mönche eher von allem, was in diese Richtung ging, da sie es zu sehr mit Reiki und anderen Praktiken verbanden, die in ihren Augen esotherischer Schnickschnak und damit verwerflich waren. Doch gerade das Christentum ist eine Religion der Berührung. Die Sakremente werden über Berührungen weitergegeben, die Bekreuzigung geschieht über eine Berührung mit den Fingern und auch die Sergnungen und Weihungen sind immer mit einer Berührung verbunden. Auch hier steckt also das uralte Heilwesen des healing Touch verborgen, das in allen Naturvölkern wie auch in der Fernöstlichen Medizin so erfolgreich genutzt wird.

Bis nach Neumarkt waren es von hier aus nun nur noch rund 60km und zehn weitere bis zum Haus von Heikos Eltern in Postbauer-Heng. Heikos Eltern selbst waren noch im Urlaub in Spanien, doch Anneliese wäre nicht Anneliese, wenn sie nicht bereits einige Vorräte für uns parat gelegt hätte. Nun konnten wir die Currywurst und die frisch frittierten Pommes fast riechen, die uns in heimischen Haus erwarteten. Noch waren wir uns unsicher, wie wir die Strecke aufteilen wollten. Genau in der Mitte gab es keine geeignete Ortschaft, nur jeweils im Abstand von 20km. Das erste Etappenziel war Breitenbrunn. Mit dieser Ortschaft waren wir nun in einem Gebiet, das wir bereits gut kannten. Heiko hatte in seiner Zeit bei der Allianz fast in jedem umliegenden Dorf Kunden gehabt, zu denen er immer wieder rausgefahren war. Direkt hinter Breitenbrunn lag ein Pfadfinderplatz, auf dem wir mehrere Seminare mit unserer Wildnisschule gehalten hatten. Je weiter wir gingen, desto vertrauter wurde alles. In den Wäldern hatten wir Survival-Kurse veranstaltet, in den Orten wohnten die Eltern von alten Schulfreunden von Heiko und die Straßen waren wir oft mit dem Auto hin und her gefahren. Es war ein sonderbares Gefühl, hier entlang zu wandern. Ein Teil davon war Vorfreude und ein Teil war auch eine seltsame Befremdlichkeit darüber, dass wir nun plötzlich das, was wir hier sahen bereits kannten. Dies war ein Gefühl, das wir nun seit jahren nicht mehr hatten und es war auf eine absurde Weise vollkommen ungewohnt.

Passend zu den Ereginissen von gestern Abend und zu den damit verbundenen Gefühlen, kam heute immer wieder ein Reinigungsregen auf, der uns kurzzeitig abduschte und dann wieder verschwand.

In Breitenbrunn entschieden wir uns, noch die nächsten zwanzig Kilometer bis Mühlhausen zu wandern. Dann hatten wir es morgen nicht mehr so weit und waren früher bei unserer Currywurst. Es regnete leicht, aber nicht so schlimm, dass wir wirklich nass wurden. Außerdem hielt unsere neue Regenkleidung bedeutend besser wasserdich, als die alte. Wir folgten der Wissinger Laber, einem kleinen Fluss, der in einem ebenso kleinen Canyon durch das Land führte. Straßen gab es in diesem Tal für lange Zeit keine, nur Wiesen, Bäume und hin und wieder einmal einen Bieber, der hier seinen Bau errichtet hatte. Als wir Mühlhausen erreichten war es bereits Dunkel. Lohnte es sich wirklich, hier noch einen Zwischenstopp zu machen? Wenn wir nun noch eine Stunde nach einem Platz suchen und uns danach häuslich einrichten mussten, konnten wir fast auch einfach weiter gehen. Außerdem lockte da noch immer die Currywurst, die gegessen werden wollte. Und jetzt war es trocken, wer weiß, wie es morgen werden würde.

Wir ließen also auch Mühlhausen hinter uns und folgten nun einem Kanal, der direkt bis nach Neumakrt führte. Früher waren wir an diesem Kanal oft joggen gewesen, weil wir die Strecke als eine der ruhigsten und schönsten empfunden hatten. Mit Erschrecken wurde uns jedoch bewusst, dass der Kanal in unmittelbarer Nähe zur B299 verlief und dass diese extrem stark befahren war. Hier am Kanal zu wandern, war als würde man direkt auf einer Autobahn spazieren gehen. Und das um 21:00 Uhr abends, also zu einer Zeit, in der der Verkehr verhältnismäßig gering war. Heiko erinnerte sich daran, dass er dies auch früher schon als unangenehm empfunden hatte und dass er aus diesem Grund immer nur bis zu einem bestimmten Punkt gejoggt und dann wieder umgekehrt war. Doch auch als wir diesen Punkt erreicht hatten wurde es nicht wirklich besser. Die Bundesstraße selbst verlief nun mit mehr Abstand zum Kanal, dafür kamen nun aber andere Straßen, die zwar kleiner, aber nicht weniger laut waren. Hier waren wir oft gemeinsam joggen gewesen, doch in meiner Erinnerung war es immer ein wunderschöner und vollkommen ruhiger Weg gewesen. Es mag sein, dass der Verkehr in den letzten drei Jahren wirklich etwas zugenommen hat, aber wahrscheinlicher ist, dass die Veränderung nicht im Außen, sondern im Innen stattgefunden hat. Der Lärm war schon immer hier gewesen, ich hatte ihn nur ausgeblendet und nicht bewusst wahrgenommen.

Bevor wir jedoch unsere Joggingstrecke erreichten, kamen wir an der Firma "Max Bögl" vorbei, einem Großbauunternehmen, das unter anderem Rohrleitungssysteme für Kanäle und Pipelines herstellte, die so groß waren, dass man bequem einen LKW darin parken konnte. Auch dies war uns nicht unbekannt. Früher sind wir oft mit dem Auto hier vorbeigefahren, wenn wir ins Altmühltal zu verchiedenen Seminarplätzen wollten. Damals hatten wir die Firma zwar registriert, jedoch nie ihr volles Ausmaß wargenommen. Mit dem Auto war es ein kurzer Blick auf ein paar Werbeschilder, einige große Baumaschinen und eine Fabrikhalle. Zu Fuß gingen wir nun über eine dreiviertelstunde am Firmengelände vorbei, was bedeutete, dass dieses gute vier Kilometer lang sein musste. Wir hatten das Gefühl, dass es schier endlos war und jetzt im Dunkeln und mit all den Flutscheinwerfern wirkte es fast bedrohlich. Trotz der späten Stunde war noch immer Vollbetrieb und das würde sich auch nicht mehr ändern. Das Bauunternehmen arbeitete im Schichtbetrieb rund um die Uhr. Ununterbrochen spuckte es dabei große Bauelemente wie Brückenpfeiler oder Betonpipelines und dergleichen mehr aus. Bauelemente, die dann irgendwo auf unserer Welt ihren Platz fanden und sie von einem grünen immer mehr in einen grauen Planeten verwandelten.

lebensabenteurer

Zu diesem Zeitpunkt lag bereits eine Strecke von knapp 60km hinter uns und langsam aber sicher machte sich dies in unseren Muskeln und Knochen bemerkbar. Heiko spürte es vor allem im Fuß, der ja bereits vor einigen Tagen zu schmerzen begonnen hatte. Bei mir waren es die Schultern, die dabi waren mich umzubringen. Der Rucksack drückte immer auf die gleichen Punkte und diese waren nun hart wie Beton. Dabei war der Rucksack jedoch nicht die eigentliche Ursache, sondern nur ein Verstärker, wie Heiko vor kurzem herausgefunden hatte. Bei den Recherchen über Heilung und Krankheitsursachen beschäftigte er sich im Moment mit Muskeln und war dabei auf ein paar spannende Dinge gestoßen. Viele Schmerzen, die wir im muskulären Bereich haben, sind Begleiterscheinungen einer Regeneration bzw. einer Heilungsphase. Es ist ein bisschen wie mit einem eingeschlafenen Arm. Solange wir die Blutzufuhr zum Arm unterbrechen, weil wir uns zum Beispiel nachts komisch darauf gelegt haben, spüren wir erst einmal nichts. Befreien wir den Arm jedoch wieder, so dass das Blut wieder normal fließen kann, fängt der Arm plötzlich zum Kribbeln an, so als hätten tausende von Ameisen darauf gepinkelt. So lange in unserem Körper ein Mechanismus aktiv ist, der sagt, dass wir aufgrund einer irgendwie gearteten Ausnahmesituation unsere Muskeln auf irgendeine Weise überfordern müssen, führt dies zwar zu einer Degennerierung und auch zu Verspannungen, aber nicht oder nur wenig zu Schmerzen. Diese kommen erst dann, wenn die Konfliktsituation gelöst ist und sich der Körper wieder regennerieren kann. In meinem Fall waren die schmerzenden Schultern eine Folge davon, dass ich am Vortag einen Teil des Konfliktes mit meiner Familia hatte loslassen können. Bislang hatte ich immer ein unbewusstes Schuldgefühl in mir gehabt, kein guter Sohn zu sein, weil ich meinen Weg gehen wollte und nicht den meiner Eltern. Dieses hatte ich nun zumindest zu einem Teil loslassen können und damit war mir auch körperlich eine schwere Last von den Schultern gefallen, so dass sie sich nun erholen konnten.

Die letzen Meter am Kanal zogen sich in die Länge wie Kaugummi. Wir waren überzeugt davon, dass wir fast da sein mussten aber hinter jeder Brücke kam nur noch eine und noch eine Brücke, die nicht unsere Ausfahrt dastellte. Früher war dieser Kanal doch kürzer gewesen!

Neumarkt zu erreichen löste sehr gemischte Gefühle in uns aus. Es kam uns fast surreal vor, die Straßen und Häuser wieder zu sehen, die wir kannten wie unsere Westentasche und die wir so lange nicht gesehen hatten. Es hatte sich auf den ersten Blick nicht viel verändert und doch wirkte es fremd. Es war nun kurz vor 22:00 Uhr und noch immer war der Verkehr so stark, dass wir uns fragten, wie wir jemals hier hatten spazieren gehen können. Früher war dies regelmäßig unser Weg zum Einkaufen oder zum Besuchen von Freunden gewesen und nun freuten wir uns nur noch darüber, die straße hinter uns zu lassen und weiter in die Wohnsiedlungen zu kommen. Hier gab es einen Moment, an dem wirklich Ruhe herrschte. Dann bogen wir ab, um der Bahnlinie in Heikos Heimatort zu folgen. Hier trauten wir unseren Ohren nicht. Als Heiko ein kleiner Junge war, hatte es alle paar Stunden einen Zug gegeben, der hier über die Schienen nach Nürnberg oder zurück gerollt war. Später war dann einmal in der Stunde eine S-Bahn gefahren und kurz vor unserem Aufbruch war der Rhythmus noch alle 20 Minuten gewesen. Jetzt hatten sich zu den Personenzügen jedoch unzählige Güterzüge hinzugesellt und damit rauschte nun alle 6 Minuten eine Bahn an uns vorbei. Auf 10km Strecke machte dies mehr als 20 Züge, von denen die meisten deutlich länger als ein Kilometer waren. Wenn man eine S-Bahn kam, was dies Geräuschtechnisch fast erholsam. Wir waren fassungslos. Dieser weg war immer unsere Lieblingsstrecke gewesen, wenn wir Heikos Eltern besucht hatten und selbst bei den Survivaltouren war ich hier einige Male entlanggewandert. Nun war es, als hätte man den Weg mit einem Schlachtermesse grausam abgemetzelt. Er war tot, vollkommen unbegehbar! Wie hatte das passieren können? Links und rechts der Schienen gab es kleine Ortschaften und Häuser, die ihre Fenster direkt an den Bahngleisen hatten. Dort zu leben musste nun vollkommen unmöglich sein. Waren die Menschenleben hier gar nichts mehr wert? Schon oft waren wir an Orten vorbeigekommen, die so grausam waren, dass wir ein Leben dort als unmöglich ansahen und jedes Mal hatte es uns auf einge gewisse weise betroffen gemacht. Doch hier in unserem Heimatort, bzw. in Heikos Heimatort, der im Laufe der Zeit aber auch immer mehr zu meiner Heimat geworden war, war es noch einmal etwas vollkommen anderes. Hier fühlte es sich nach einem persönlichen Verlust an, so, als hätte jemand ein Stück Heimatgefühl aus uns herausgerissen und mit den Füßen zertreten. Neumarkt war uns vertraut, aber es war längst keine Heimat mehr, das spürten wir nun deutlich. Und mit diesem Gefühl wurde es auch immer klarer, dass es kein zurück mehr gab. Klar waren wir uns auch zuvor darüber bewusst gewesen, dass uns unser Nomadenleben überall hinführen konnte, nicht aber dorthin zurück, wo wir es gestartet hatten. Doch irgendwo in uns war trotzdem immer wieder eine Stimme aufgetaucht, die gesagt hat: "Vielleicht wäre es zuhause ja jetzt doch besser". Diese Stimme verstummte nun vollständig. Überall auf der Welt hatte man Hoch- und Tiefpunkte, immer gab es etwas, das einen freute oder einen belastete, doch zurückzukehren und wieder dort weiter zu machen, wo wir einst aufgehört hatten, war ganz sicher nicht die Lösung.

Erst als wir die Frankenstraße erreicht hatten, kam dann doch ein Heimatgefühl auf. Heikos Elternhaus war noch immer so, wie wir es in Erinnerung hatten. Eine positive, warme und angenehme Erinnerung, die wir tatsächlich mit Ankommen verbanden. Vollkommen erschöpft, halb verdurstet und hungrig wie zwei junge Wölfe nach einer Dürrezeit ließen wir uns erst einmal auf die Küchenstühle fallen. Eine große Flasche Apfelschorle ließ wieder neues Leben in uns hineinfließen und gab uns genug Kraft, um die Fritteuse anzuschmeißen und die Currywurst hineinzulegen, nach der wir uns die letzten 70km gesehnt hatten. Es wurde ein erstklassiges Festmahl und ein angemessenes Willkommensessen im trauten Heim. Frisch gestärkt ließen wir heißes Wasser in die Badewanne und beschlossen den Abend mit einem wohltuenden Bad um unsere Muskeln für die Anstrengung zu entschädigen. Dann ließen wir uns in die für uns vorbereiteten Betten fallen.

Spruch des Tages: Und stetig lockt die Currywurst

Höhenmeter: 50 m

Tagesetappe: 20 km

Gesamtstrecke: 18.933,27 km

Wetter: kalt aber überwiegend sonnig, nachts Regen

Etappenziel: evangelisches Gemeindezentrum, 86720 Nördlingen, Deutschland

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Heiko Gärtner
Heiko Gärtner ist Wildnismentor, Extremjournalist, Survivalexperte, Weltreisender und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Antlitz- und Körperdiagnostik. Nachdem er einige Jahre als Agenturleiter und Verkaufstrainer bei einer großen Versicherungsagentur gearbeitet hat, gab er diesen Job auf, um seiner wahren Berufung zu folgen. Er wurde Nationalparkranger, Berg- und Höhlenretter, arbeitete in einer Greifenwarte und gründete schließlich seine eigene Survival- und Wildnisschule. Seit 2014 wandert er zu Fuß um die Welt und verfasste dabei mehrere Bücher.

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